28

Nathan trug den Müllsack durch die von Bäumen gesäumte Straße mit viktorianischen Apartments.

An der Ecke mündete sie in eine Hauptstraße. Ein gelber Container stand vor den nackten Mauern eines Hauses, das sich im frühen Stadium der Renovierung befand. Der Container war halb voll mit Gipsplatten und zerbrochenen Ziegelsteinen und rostigem Drahtgitter. Es war noch früh. Nathan beugte sich darüber, hob eine Gipsplatte an und stopfte den Müllbeutel in eine untere Ecke des Containers. Dann wischte er sich die Hände ab und ging zur Hauptstraße.

An der Bushaltestelle blieb er stehen, um seine Adidas-Sporttasche aufzumachen. Er holte die Packung Nurofen Plus heraus und schluckte ohne Wasser eine Hand voll Tabletten.

Auf der anderen Straßenseite lag eine schmuddelige Imbissstube. Nathan lief hinüber. Seine Beine waren steif und kurz davor, sich zu verkrampfen. Drinnen hörte man Bratgeräusche und Heißwasserdüsen und Lokalradiogeplärre. Er bestellte ein komplettes Frühstück und eine Tasse Tee und setzte sich mit der gestrigen Ausgabe der Sun an einen Tisch. Als das Frühstück kam, betrachtete er es skeptisch. Aber dann meldete sich sein Hunger. Er aß den Teller leer, trank den Tee aus und hängte sich die Tasche über die Schulter. Er verließ das Café und fuhr mit dem Bus nach Hause.

Es war schon ganz hell, als er die Eingangstür aufschloss. Das Haus war still. Er konnte Hollys Parfüm im Flur riechen. Eine Holzdiele krachte, das Haus erwärmte sich für den neuen Tag. Er stellte seine Tasche neben dem Telefon ab und starrte auf die Fotos an der Wand. Er konnte das lachende Mädchen nicht mit den zersplitterten Überresten in Bobs Gefriertruhe in Verbindung bringen. Er streckte die Hand aus, um einen Rahmen gerade zu rücken. Aber er schaffte es nicht, sie zu berühren. Er dachte an die klappernden Zähne, die lose im Schädel steckten. Und an die glatten Gliedmaßen, abgenagt von Füchsen und Dachsen und Hunden aus der Umgebung, die der Geruch der Verwesung angelockt hatte.

Er schaffte es nicht, nach oben zu gehen.

Er setzte Wasser auf und schaltete den Fernseher ein. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, setzte er sich in den Sessel und schlief ein.

Im Traum wachte er auf. Elise war bei ihm im Zimmer. Sie sagte nichts. Sie saß im Schneidersitz auf dem Sofa. Sie sah ihn an. Er spürte eine plötzlich aufwallende Liebe zu ihr, wie etwa zu einem verlorenen Kind.

Er sagte: »Es tut mir so leid.«

Elise sagte: »Mir ist kalt«, und dann fing sie an zu schreien.

Nathan wachte auf, als er sich nass machte. Der warm-kalte Fleck breitete sich über seinen Unterleib und seinen Schenkel aus.

Er ging in die Mitte des Zimmers und stellte sich mit dem Rücken zum Erkerfenster, bis sein heftig schlagendes Herz sich beruhigt hatte. Er stand so lange dort, dass er währenddessen zweimal einnickte und ihm der Kopf auf die Brust fiel. Er sah, wie Elise sich die Haare ausriss und ganze Strähnen davon in den Fäusten hielt.

Er erwachte mit einem Ruck und setzte sich aufs Fensterbrett. Das Fernsehprogramm war hirnlos und aufdringlich.

Er blieb dort bis ein Uhr sitzen. Dann ging er in die Küche. Bei jedem Schritt sah er sich um. Bei jedem Krachen des Hauses blieb ihm beinahe das Herz stehen.

Er öffnete den Kühlschrank. Betrachtete die Eier und den Aufschnitt und die Milch und die Reste eines Hähnchens, die halbausgetrunkene Weinflasche. Er machte die Kühlschranktür zu. Nahm sich ein Glas Wasser. Er zitterte. Er ging zum Thermostat und drehte die Heizung auf.

Er schlief mit dem Gesicht auf dem Esstisch, als Holly nach Hause kam.

Ihr Lächeln gefror.

»Mein Gott, ist alles in Ordnung?«

Er öffnete ein Auge und sagte: »Krasse Nacht.«

Er wollte, dass sie ihn in ein heißes Bad legte, damit die Hitze in seine gefrorenen Knochen drang, die sich anfühlten wie kalte Stahlbolzen in seinem Inneren; er wollte, dass sie ihm mit ihrem duftenden Shampoo die Haare wusch, und er wollte, dass sie ihn in ein warmes Handtuch wickelte, und dann wollte er sie ausziehen, ihre Wärme und ihre Zartheit spüren, und er wollte sie riechen und er wollte mit ihr schlafen; er wollte sie schwängern, er wollte ein kleines Fünkchen Leben erzeugen, etwas, was sich verdoppelte und in der verborgenen Wärme heranwuchs, dem rosafarbenen Halbdunkel in ihr.

»Was ist passiert? Wo wart ihr?«

Er winkte ab. Seine Fingernägel waren schmutzig.

»Wir sind in einen Pub gegangen. Und dann noch zu Bob. Es ist alles ein bisschen außer Kontrolle geraten. Er hatte Drogen da. Etwas Kokain. Wir waren die ganze Nacht wach.«

»So siehst du auch aus.«

Sie ging in die Küche, energisch und geschäftsmäßig.

»Hast du etwas gegessen?«

»Ja.«

»Und was?«

»Ich war in einem Café.«

»Hast du jetzt Hunger?«

»Nein.«

»Okay.«

Sie schlug die Kühlschranktür zu.

»Holly, es tut mir leid.«

»Das muss es nicht.«

»Ich hab da so ein Problem.«

Sie hielt inne.

»Mit Koks. Ich bin nicht abhängig oder so. Aber ich hab ein Problem damit.«

»Was für ein Problem?«

»Nein zu sagen. Zu wissen, wann ich aufhören soll. Und wie.«

»Du hast mit mir nie über Drogen gesprochen.«

»Weil ich mich davon fernhalte. Ich hab nur … du weißt schon. Ich war betrunken. Und ich konnte nicht mehr klar denken. Glaub mir, es rächt sich jetzt.«

Sie sah ihn mit einem Anflug von Mitleid an. Ein Klos Hoffnung stieg in ihm auf. Mitleid war gut. Er konnte bei Mitleid anfangen und sich weiter vorarbeiten.

»Ich hab es ein paar Mal probiert«, sagte Holly. »Kokain. Ich mochte es nicht besonders. Es hat mein Herz ganz schön auf Trab gebracht.«

»Du steckst ja voller Überraschungen«, staunte er.

»O ja. Es gibt noch Vieles, das du nicht weißt.«

»Das bezweifle ich nicht.«

»Gut.«

Er lag frierend im Dunkeln neben seiner schlafenden Frau. Als er sich an sie kuscheln wollte, machte sie ein schläfriges Geräusch und rollte sich weg.

Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn er erwachte in der Dunkelheit. Holly beugte sich über ihn. Ihre Haare kitzelten ihn im Gesicht. Ihre Brustwarzen berührten seinen Oberkörper. Sie schüttelte ihn an der Schulter.

»Ist alles in Ordnung?«

»Wieso?«

»Weil du im Schlaf geredet hast.«

Blitzartige Panik.

»Was habe ich gesagt?«

»Ich weiß nicht. Du hast genuschelt.«

»Tut mir leid.«

»Ich mache mir nur Sorgen.«

»Mir geht’s gut.«

»Kommt es von den Drogen?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann nimm keine mehr.«

»Bestimmt nicht.«

»Deine Füße sind eiskalt

»Ich weiß. Es ist kalt hier.«

»Es ist knallheiß. Es fühlt sich an, als hätte jemand das Thermostat aufgedreht.«

Das hatte er vergessen.

»Egal«, sagte sie. »Schlaf jetzt.«

»Tut mir leid.«

»Sei nicht albern.« Sie drehte sich um. Sie griff hinter sich und umfing seinen schlaffen Schwanz und seine Eier mit einer Hand. Sie drückte sie liebevoll und sanft und schlief wieder ein.

Sie rief ihre Eltern an und sagte ihnen, dass Nathan zu schwach für das Sonntagsessen sei. Also blieben sie zu Hause, und Nathan nahm ein langes, sehr heißes Bad. Mit jedem Ticken der Uhr entfernte er sich weiter davon. Die Zeit – noch ein paar Tage, Wochen, Monate – würde es in ihn hineindrücken wie einen Prolaps.

Am Sonntagabend, als er duschte und sich rasierte und sich die Zähne putzte und seine Arbeitskleidung für den nächsten Tag aufs Bett legte, spürte er etwas wie Zuversicht, beinahe Freude. Es war schlimm gewesen. Es war noch immer schlimm. Aber letzten Endes würde es vorbeigehen.

Manchmal glaubte er das mehrere Minuten lang. Dann fiel ihm ein, was da gebündelt in der Kühltruhe in Bobs Garage lag, und die Kälte kroch wieder in ihn hinein.

Am Montagmorgen ging er zur Arbeit.

Alles war wie immer: Hier war die Empfangstheke, und hier waren Fiona und Maude, die Empfangsdamen. Dort waren die Topfpflanzen zu beiden Seiten des Aufzugs, und dort war dieselbe quer verlaufende Schramme über der Tür, wie bei einem mit dem Schlüssel zerkratzten Auto. Und hier war die erste Etage. Die erste links zur Vertriebsabteilung. Dasselbe Großraumbüro mit denselben Möbeln und denselben tintenverschmierten Computern. Dieselben Stoffpuppen und Teddybären und lustigen Tassen und Familienfotos, dieselben Mitarbeiter, dasselbe gläserne Büro mit demselben Laptop, dieselben Probleme, dieselben Schlamassel und Fehler und verlorenen Bestellungen und angepissten Vertreter, dieselben Mitarbeiterbeschwerden und Affären und jährlichen Beurteilungen, dieselben Marketingsitzungen und Vorstandssitzungen und Finanzsitzungen. Und hier war derselbe Justin, derselbe verlogene, bemitleidenswerte Justin mit seinen zu kurzen Hosen und seinen Sechs-Bier-Mittagessen und seinen winzigen Pfefferminzbonbons. Dies war der ruhige Ort, wo die Furcht ihn fallen gelassen hatte – dies war der Ort, der sich nicht veränderte, und solange er hier war, war er in Sicherheit.

Zwei Wochen später rief Bob an.