24

Am Morgen schlich Nathan sich aus dem Büro und wählte die Nummer, die Bob ihm gegeben hatte. Sie vereinbarten ein Treffen.

Nathan hatte eine zweite Anzugjacke über seiner Stuhllehne hängen lassen – das sollte heißen, dass er noch im Gebäude war, aber nicht an seinem Platz, sondern vielleicht in einer Besprechung oder auf dem Weg zum Postzimmer.

Er ging zur Hauptstraße und hielt ein Taxi an. Die Fahrt zu Bobs Haus dauerte keine fünfzehn Minuten. Bob und er wohnten in derselben Stadt. Sie hatten dieselben Busse vorbeifahren sehen, hatten vielleicht in denselben Läden eingekauft, dieselben Filme in denselben Kinos gesehen. Vielleicht zur selben Zeit.

Das Taxi setzte ihn an der Ecke ab. Es war eine Straße mit heruntergekommenen viktorianischen Villen, die längst in einzelne Wohnungen aufgeteilt worden waren. Nathan ging durch einen überwucherten Vorgarten auf ein vierstöckiges Haus zu. Er trat auf die abgenutzte steinerne Schwelle und las die verblichenen Papierstreifen neben den Klingeln. Bei »Morrow« war die Tinte fast zur Unleserlichkeit verblasst.

Er drückte die Klingel und zündete sich eine Zigarette an, während er wartete.

Schließlich öffnete sich die große Tür, von der die Farbe abblätterte, und Bob ließ ihn hinein. Der Flur war schmutzig und staubig und mit grauem Teppich ausgelegt. Der aus einem Melamin-Bücherregal improvisierte Kasten hinter dem Briefschlitz enthielt eine Lawine von Rechnungen und Werbesendungen. Ein Fahrrad lehnte an der zweifarbigen Wand, ebenso wie ein leerer Plastik-Wäschekorb und ein alter Klapptisch. Nathan folgte Bob durch den Flur hinunter ins Souterrain, wo dieser ein einziges spärlich beleuchtetes Zimmer bewohnte.

Es war groß und quadratisch und die Wände waren mit alten Büchern voll gestellt. Ein Computernetzwerk stand auf ein paar Tischen aus einem Trödelladen: drei ältere Laptops und vier oder fünf Desktop-Computer, zwei davon nagelneu, von Dell. Daneben stand ein Tonbandgerät.

Moderige Sofas bildeten drei Seiten eines Quadrats. In der Kochnische entdeckte Nathan neben dem Kühlschrank einen steifen, zusammengerollten Tennissocken.

Es stank hier drin.

Bob schob Zeitschriften und einen fadenscheinigen Pullover von einem der Sofas und forderte Nathan auf, sich zu setzen.

»Kaffee?«

»Nein.«

»Okay.«

Nathan wartete, während Bob Wasser kochte und sich eine große Tasse schwarzen Nescafé machte. Dann ließ Bob sich auf einem Sofa gegenüber von Nathan nieder und fragte: »Na, wie ist es dir so ergangen?«

»Wie soll’s mir denn ergangen sein, nach der Scheiße?«

»Keine Ahnung. Deshalb frage ich ja.«

Nathan befühlte seine Taschen und holte eine Zigarette heraus. Er zündete sie an. »Worum geht’s?«

Bob nippte am kochend heißen Kaffee. »Komisch, was?«

Nathan schaute weg, zu den mit Büchern bedeckten Wänden.

»Wie die Dinge sich entwickeln«, fuhr Bob fort. »Hast du das von Kommissar Holloway gehört?«

Das hatte Nathan. Vor ein paar Jahren hatte Holloway sich angeblich mit einer Summe Lösegeld abgesetzt. Nathan und Holly hatten Jacki darüber ausgefragt, aber Jacki wollte nichts sagen. Holloway war gefasst worden und saß, soweit Nathan wusste, noch immer im Gefängnis.

Nathan sah zum Tonbandgerät.

Bob folgte seinem Blick. »Keine Sorge, ich nehme das hier nicht auf oder so.«

»Was ist das für ein Kram?«

»Recherchen.«

Nathan drehte den Kopf weg von all dem. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und stöhnte: »O Mann, was mache ich hier bloß?«

»Wer ist Holly?«

»Meine Frau.«

»Du weißt schon, was ich meine. Ich hab die ganze Nacht darüber nachgedacht. Hab kein Auge zugetan. Ich konnte es mir einfach nicht zusammenreimen. Weißt du, wie das ist? Wenn man wach liegt, weil man sich wegen etwas Sorgen macht?«

»Ja, das kommt mir ziemlich bekannt vor, Bob.«

»Sie kennt sie, stimmt’s?«

»Wen?«

»Deine Frau kennt Elise.«

Ihr Name auf seinen Lippen.

Nathan gestikulierte mit den Händen wie jemand, der sich Mücken aus dem Gesicht wedelt, und bedeutete Bob damit, ihn in Ruhe zu lassen.

Bob sprang auf, scheinbar begeistert. »Ich wusste es! Ich wusste, es muss irgend so was sein. Krass. Du bist krank. Ich glaub’s nicht. Krass. Und sie ähnelt ihr auch noch.«

Draußen fuhr ein Auto vorbei.

Bob fragte: »Geht es um Sex? Törnt dich das an?«

Nathan wollte schreien, aber alle Kraft hatte ihn verlassen.

Er sagte: »O Gott, nein.«

»Sieht sie aus wie sie? Ich meine, nackt?«

Er konnte es nicht ertragen, dass Bob über Hollys Nacktheit auch nur nachdachte.

Er wandte sich zum Gehen. Das Gewicht von Bobs Blicken lastete auf seinen Schultern.

»Im Ernst«, meinte Bob, »du musst bleiben.«

Nathan blieb stehen. Schließlich drehte er sich um.

»Erwähne meine Frau nie wieder.«

»Na schön. Von mir aus.«

»Und damit meine ich: nie wieder.«

»Ist ja gut. Aber du musst schon zugeben, es ist ziemlich krank.«

Sie sahen sich in die Augen. Nathan blinzelte zuerst.

Er blickte auf seine Schuhe, dann auf einen Haufen schmutzige Unterwäsche, der mitten auf dem Küchenlinoleum lag.

»Das würdest du nicht verstehen.«

Bob schien etwas sagen zu wollen. Aber stattdessen schlürfte er Kaffee und schlenderte zu dem Tisch, auf dem das Tonbandgerät stand. Das Plastik war mit der Zeit vergilbt und brüchig geworden. Ein Sprung verlief quer hindurch wie eine Verwerfungslinie.

Bob schob einen Bürostuhl heran wie jenen, den Nathan auch bei der Arbeit hatte. Er war abgewetzt, fusselig und schmierig.

Nathan fragte: »Also?«

»Also. Der Wald, in dem wir sie vergraben haben, wurde an einen Bauunternehmer verkauft. Dort wird eine neue Wohnsiedlung gebaut – oder eine Wohnsiedlung erweitert, die schon vor ein paar Jahren gebaut wurde. Wie man’s nimmt.«

Nathan streckte die Hand nach dem Sofa aus, als würde er gleich umfallen.

»Es ist ziemlich sicher«, erklärte Bob, »dass man sie während der Bauarbeiten findet. Es ist ja nicht so, als wäre das Grab besonders tief gewesen, oder so.«

»Ich hab nie verstanden, warum man sie nicht längst gefunden hat«, bemerkte Nathan. »Ich hab darauf gewartet. Ich hab jeden Tag damit gerechnet.«

»Wer weiß? Es gab ja einen Verdächtigen. Und der hat die Party die ganze Nacht lang nicht verlassen. Also hat man vielleicht am falschen Ort gesucht. Vielleicht hatte sich einer der Spürhunde erkältet. Keine Ahnung, Mann.«

Nathan hatte ein Gefühl, als ob er zu schnell mit einem Lift nach unten fuhr.

»Wenn man sie findet«, fuhr Bob fort, »was bestimmt passiert, dann wird man Spermaspuren von zwei verschiedenen Männern sicherstellen. Man wird verständlicherweise annehmen, dass sie vergewaltigt und ermordet wurde. Und man wird jedem Mann, der auf Mark Derbyshires Party war, eine freiwillige DNA-Probe abnehmen. Man wird uns identifizieren, und wir kommen für den Rest unseres Lebens in den Knast.«

Nathan dachte an Holly, und er dachte an Graham, und er dachte an June. Er dachte an den Tag, als sie die Fotos aufgehängt hatten.

Er ging langsam um das Sofa herum und setzte sich. Er legte den Kopf in die Hände.

Bob sagte: »Wir müssen sie woanders hinbringen.«

»Ich kann das nicht.« Die zehn Jahre seitdem hatte es nicht gegeben. »Verdammte Scheiße. Ich kann es einfach nicht fassen.«

»Es wird nicht schwer. Es kann nicht mehr viel übrig sein. Nicht, nach so langer Zeit.«

»Was soll das Ganze dann?«

»Ich meine, sie wird nicht schwer sein. Sie wird nicht viel wiegen.«

Nathan fing an zu lachen. Er hielt sich die Hand vor den Mund.

»Können wir sicher sein, dass sie gefunden wird?«

»Dein Sperma ist in ihr. Ein wie großes Risiko willst du eingehen?«

»Aber müsste es inzwischen nicht … verrottet sein?«

»Es gibt Spurensicherungstechniken, die du dir nicht vorstellen kannst. Man braucht nur einen Bruchteil genetisches Material – nur einen winzigen, klitzekleinen verdammten Schnipsel. Den kann man vervielfältigen. Ich weiß auch nicht, wie das genau geht, aber man trennt ihn irgendwie auf. Das heißt PCR. Eine Polymerase-Kettenreaktion. Wo vorher ein bisschen DNA war, ist plötzlich ganz viel. Und glaub mir, wenn noch irgendwas in ihr oder auf ihr ist, finden die es. Es ist ja nicht so, als wüssten sie nicht, wo sie suchen sollen … in ihrer Gebärmutter, ihrem Mund, ihrem Anus …«

»Fuck.«

»Wir fahren da hin, parken auf dem Waldweg, graben sie aus, legen sie in den Kofferraum und bringen sie … ich weiß nicht, wohin. Das hab ich mir noch nicht überlegt. Irgendwohin, wo man sie nicht finden kann. Vielleicht müssen wir Säure oder so was über sie gießen. Du weißt schon, ähm, da unten herum. Batteriesäure oder so was.«

»Ich kann das nicht.«

»Klar kannst du das. Du hast es schon mal gemacht. Dieses Mal wird es leichter.«

»Nicht noch mal.«

»Du musst.«

»Ich gehe das Risiko ein.«

»Und was ist mit Holly?«

Ein kleiner Schweißtropfen lief an Nathans Wirbelsäule entlang. Nathans Körper war klamm, wie an einem gewittrigen Tag.

»Denn es wäre furchtbar, ihr so was anzutun«, sagte Bob. »Elise von so einer beschissenen Planierraupe ausgraben zu lassen. Und dann erfahren zu müssen, dass sie wegen dir dort lag.«

»Mach du es allein.«

»Das würde ich, wenn ich könnte. Aber es sind zwei Leute nötig, um es richtig zu machen. Zwei Paar Hände. Zwei Paar Augen.«

»Ich dachte, sie wäre leicht

»Ich kann es nicht allein machen. So ist es nun mal.«

Über ihnen wurde eine Tür zugeschlagen. Eilige Schritte liefen die Treppe hinunter.

»Hast du Angst?«, fragte Nathan.

»Du etwa nicht?«

»Doch. Klar hätte ich auch Angst.«

Sie saßen schweigend da. Dann stand Nathan auf. »Ich melde mich.«

»Ja, aber mach das wirklich.«

Nathan schlurfte aus dem Einzimmerapartment und schlug die Tür hinter sich zu. Er ging die Treppe hinauf und zur Haustür hinaus und die Einfahrt entlang und ins Tageslicht.

Er setzte sich auf eine Mauer, deren Metallgeländer 1941 abgenommen und zu Waffen eingeschmolzen worden war. Die schwarzen Verankerungen waren längst verwittert. Er sog große Mengen frischer Luft ein und sah den Verkehr vorbeirauschen.

Nathan ging hinein und ließ sich in den Lehnstuhl fallen. Er saß in seinem Mantel da und starrte auf den Fernseher. Es lief gerade Coronation Street.

Holly saß auf dem Sofa. Sie war fast den ganzen Tag unterwegs gewesen, um ein Lagerhaus in Birmingham zu besichtigen, das sie umbauen wollte. Dann hatte sie ein paar Stunden im Heimbüro gearbeitet, das sie im zweiten Schlafzimmer eingerichtet hatten.

Sie hatte zur Entspannung ein heißes Bad genommen. Wenn sie das nicht machte, konnte sie nicht schlafen, weil sie dann die ganze Nacht an die Arbeit dachte. Manchmal passierte das auch Nathan. Dann wachte er um zwei Uhr morgens auf, weil er sich Sorgen um eine neue Kartenkollektion machte, die sich nicht verkaufte. Jetzt duftete Holly nach Badeöl. Sie trug eine Jogginghose und ein T-Shirt. Ihre Hände und Füße waren weich. Sie saß im Schneidersitz halb liegend auf dem Sofa, sah fern und machte ein Kreuzworträtsel.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Nichts.«

Sie legte die Zeitung hin und schaltete den Fernseher stumm.

»Du siehst gar nicht gut aus.«

Er griff sich an die Schläfe. »Ich hab ganz üble Kopfschmerzen.«

Sie kam zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Sie war so sauber. Sie schlang die Hände hinter seinen Kopf und sagte: »Das passt aber gar nicht zu dir. Hast du dir was eingefangen?«

»Ich weiß nicht.«

Sie berührte seine glühende Stirn. »Gott. Du bist ja richtig krank

Sie stand auf und brachte ihn nach oben und ließ ihn sich ausziehen. Sie schlug die Decke zurück und er, verdorben und schwitzend, legte sich in das saubere Bett. Er behielt seine Boxershorts an; er konnte seine Genitalien riechen. Er umfasste seine pulsierenden Hoden und fiel in einen fiebrigen Schlaf. Der Hodenschmerz breitete sich bis zu seinem Kreuz aus, wie eine Prellung über seinen Nieren.

Elises Geist legte eine kühle Hand auf seine Stirn, und er erwachte mit einem Schrei. Dann sah er, dass es bloß Holly war, seine Frau. Sie steckte ihm ein Thermometer in den Mundwinkel. Es war dasselbe Instrument, mit dem sie einst ihren Eisprung bestimmt hatte. Sie wartete, dann zog sie es heraus und hielt es ins Licht, das aus der Diele ins Zimmer fiel.

»Du glühst.«

Er streckte die Hand aus und griff nach ihren Fingerspitzen.

Sie sagte: »Schlaf jetzt. Ich fahr zur Apotheke und hol dir was gegen das Fieber.«

Er setzte sich auf. Packte sie am Handgelenk.

»Geh nicht.«

»Wir müssen das Fieber senken. Ich bin in zwanzig Minuten wieder da.«

»Bitte geh nicht.«

Sie sah ihn an – von hinten beleuchtet, mit erhobenem Thermometer in der Hand.

Er sagte: »Lass mich nicht allein im Haus.«

Langsam senkte sie das Thermometer.

»Du hast Angst im Dunkeln, stimmt’s?«

»Ja.«

Sie setzte sich auf die Bettkante und nahm seine Hand.

»Du sprichst nie darüber.«

»Würdest du über so was sprechen?«

»Glaubst du, ich würde dich auslachen?«

»Ja.«

Sie lachte.

»Siehst du«, sagte er.

Sie beugte sich ein wenig näher zu ihm. »Was ist passiert, dass du dich so fürchtest?«

Er drehte sich auf die Seite.

»Nichts.«

Er spürte, wie sie ihn ansah.

Sie fragte: »Soll ich das Licht anmachen?«

»Ja, bitte. Und lass die Tür offen.«

Sie küsste ihn auf die Stirn und schaltete die Leselampe ein. Sie ließ die Schlafzimmertür angelehnt. Er hörte, wie sie die Treppe hinunterging, nach dem Telefon griff und es mit ins Wohnzimmer nahm. Sie würde ihre Mutter anrufen und sie um Rat bitten, wie man einen Mann behandelte, der nie krank wurde und der sie nicht aus dem Haus gehen ließ, um Medikamente zu holen.

Er erwachte von einem kühlen Flanelltuch auf seiner Stirn.

Holly drückte ihm eine Tasse in die Hand: Lemsip Cold & Flu.

Er fragte: »Wo hast du das her?«

»Pst«, machte Holly.

Er bekam Panik. »Bist du weggegangen

Dann sah er June im Türrahmen stehen. Sie war zu einer vierundzwanzig Stunden geöffneten Apotheke in der Innenstadt gefahren. Nathan schaute sie an. Dann schaute er Holly an. Sie strich ihm das schweißnasse Haar zurück.

»Jetzt werd gesund.«

Später das Geräusch der sich schließenden Haustür: June ging nach Hause. Er stellte sie sich am Steuer vor, ein Lichtkreis in der Dunkelheit, wie sie an der Erde vorbeirauschte, in der ihre Tochter lag.