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Er musste bis nach Weihnachten warten.
Es war die schlimmste Zeit des Jahres. Selbst wenn er nach irgendeiner Firmenfeier betrunken nach Hause kam – Nathans Sozialleben bestand ausschließlich aus Firmenfeiern –, musste er eine Flasche Wein trinken und alle Lampen überprüfen, bevor er versuchen konnte, einzuschlafen. Er musste außerdem überprüfen, ob die Reservebirnen mit extralanger Brenndauer pyramidenförmig in der Küche neben dem Wasserkocher gestapelt waren.
Den Badezimmerspiegel bedeckte er jeden Abend mit einem dicken blauen Handtuch – er brachte es fest an Nägel an, die er extra zu diesem Zweck in die Wand geschlagen hatte, sodass sich das Handtuch unmöglich in der Nacht lösen und herunterfallen konnte. Wenn doch – wenn Nathan dieses plötzliche Rutschgeräusch hinter der geschlossenen Tür in der leeren Wohnung hörte – würde er ganz einfach auf der Stelle den Verstand verlieren. Der zweite Spiegel, in dem er sich ganz sehen konnte, befand sich an der Innenseite der Kleiderschranktür. Diese befestigte er mit zwei einfachen Riegeln, einem unten und einem oben. Er würde nicht riskieren, dass sie während der Nachtstunden aufschwang.
In jedem Zimmer lag eine 30 Zentimeter lange Maglite-Taschenlampe mit Aluminiumgehäuse. Obwohl er diese Taschenlampen nie benutzt hatte, wechselte er an jedem ersten Montag im Monat die Batterien und lagerte zusätzlich eine Packung Ersatzbatterien pro Taschenlampe in jedem Zimmer. Diese ungeöffnete Packung ersetzte er ebenfalls alle sechs Monate. Manchmal wachte er auf, weil er von einem Stromausfall geträumt hatte, und griff nach der kühlen Metallröhre unter seinem Kissen. Manchmal schlief er mit einer Maglite im Arm wie mit einem Teddybären.
Am Fußende lag für den Notfall ein Stapel gefalteter Kleidung bereit: ein Pulli, Jeans, Turnschuhe zum Hineinschlüpfen – falls er sich schnell anziehen und die Wohnung verlassen musste, wenn zum Beispiel das Handtuch im Bad herunterfiel oder die Schranktür knarrend aufging. Aus demselben Grund ließ er seine Schlüssel von innen in der Wohnungstür stecken.
Mit der Zeit hatte er gelernt, mit sanfterem, matterem Licht zu schlafen, was die Möglichkeit einer einzigen durchgebrannten Glühbirne weniger katastrophal erscheinen ließ. In jeder Ecke des Schlafzimmers stand eine Stehlampe, die beunruhigende Schatten vertrieb, außerdem hatte er eine Lampe auf dem Nachttisch, die er erreichen konnte, sollten die vier Stehlampen aus irgendeinem Grund gleichzeitig ausgehen.
Die Fassung für die Deckenleuchte hatte er leer gelassen, denn wenn er diese aus Versehen ein- und dann, um sich zu korrigieren, gleich wieder ausgeschaltet hätte, würde das Zimmer einen Augenblick lang etwas dunkler aussehen, selbst wenn alle vier Stehlampen brannten. Kein Grad von Dunkelheit kam in Frage.
Er hatte es mit einer Schlafmaske versucht, aber das hatte sich als unpraktisch erwiesen. Wenn Nathan ein Geräusch vernahm, ein Knacken oder Knarren oder Seufzen, hatte er erst umständlich am Rand der Maske herumfingern und das ganze Ding auf seine Stirn umklappen müssen. Stattdessen schlief er auf dem Rücken mit einem leichten Kissen über den Augen.
Im Dezember begann die Morgendämmerung spät und die Nächte waren lang.
Obwohl Weihnachten Hermes’ stärkste Verkaufszeit war, hatten Nathan und seine Kollegen in der Zentrale nicht viel zu tun. Alles lag in den Händen der Jungs an der Front, wie die Handelsvertreter im Außendienst genannt wurden, wenn die Nachfrage groß war. Den ganzen Monat lang konnte er nicht viel mehr tun, als die Verkaufszahlen und Lagerbestände im Auge behalten und den Misserfolg mit den angestrebten Zielen vergleichen.
Als die Weihnachtstage näher rückten und die Möglichkeit eines leistungsbezogenen Bonus sich wieder einmal in Luft auflöste, verfiel die Zentrale in Apathie. Der stille Ärger wurde weder durch die saisonbedingte Reihe obligatorischer Abteilungsmittagessen noch durch die Weihnachtsfeier gelindert.
An Heiligabend arbeitete Nathan so lange er konnte. Es gab immer irgendetwas zu tun, auch wenn es nur das Abheften oder Ausmisten von Papierkram war. Um 15.30 Uhr lief er zweimal durch das ganze Gebäude auf der Suche nach jemandem, mit dem er etwas trinken gehen konnte. Aber seine Kollegen waren alle schon weg, einer nach dem anderen hatten sie sich mit fröhlichen Weihnachtsgrüßen verabschiedet, sich in ihre Mäntel gepackt und ihre Aktenkoffer und Handtaschen genommen.
Auf dem Nachhauseweg hielt Nathan an, um einzukaufen. Dann parkte er seinen Wagen bei der Kindertagesstätte und ging zum Hintereingang des Hauses. Die Kindertagesstätte lag im Dunkeln, die Kinder würden bald im Bett zugedeckt werden und dann beim Gedanken an einen nächtlichen Besuch unter ihrer eigenen aufgeregten Schlaflosigkeit leiden. Die Dunkelheit in der Kindertagesstätte machte Nathan jedoch keine Angst. Die Wände waren behängt mit Farbklecksen auf billigem Tonpapier. Es war undenkbar, dass dort etwas Böses lauerte.
Aber nun fiel ihm auf, dass die Wohnungen im ersten Stock im Dunkeln lagen, ebenso wie die Dachwohnung, die an seine angrenzte. Er sah auf die Uhr, weil er fürchtete, es könnte plötzlich drei Uhr morgens sein.
Stirnrunzelnd und ein wenig beschämt ging er zur Vorderseite des Gebäudes und sah, dass nirgendwo Lichter brannten – außer in seiner eigenen Wohnung, die er auch in seiner Abwesenheit beleuchtet ließ, für den Fall, die unbewohnte Dunkelheit könnte einladend wirken. Nicht einmal in Apartment A im ersten Stock, wo das spießige, langweilige Paar Wendy und Dave wohnte, brannte Licht. Sie hatten sogar die blinkende Lichterkette am Weihnachtsbaum ausgeschaltet, was auf Nathan wie absichtliche Bösartigkeit wirkte.
Nathan war nicht auf die Idee gekommen, dass alle seine Nachbarn über die Feiertage verreist sein könnten. Das war noch nie vorgekommen. Der Gedanke an all diese leeren Zimmer, an all die Dunkelheit unter ihm, während er schlief, ließ seinen Mund trocken werden und zog ihm die Eier zusammen.
Sein Schlüssel krächzte zu laut im Schloss. Als er den Flur betrat, schien jede seiner Bewegungen widerzuhallen. Nachdem er mit dem Handballen fest auf den Lichtzeitschalter gedrückt hatte, schaffte er es die ersten beiden Treppenabsätze hinauf.
Dann blieb er stehen.
Er drückte noch einmal auf den Lichtzeitschalter, drehte sich mit den Einkäufen im Arm um, rannte die Treppen wieder hinunter und zur Haustür hinaus.
Schließlich fand er ein Hotel in der Innenstadt, das noch nicht ausgebucht war. Das Zimmer war nicht billig, und Nathan war nicht gelassen genug, um einen Last-Minute-Sonderpreis herauszuhandeln.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages kehrte er im Nieselregen in seine Wohnung zurück, um sich ein paar Sachen zu holen: einige Kleidungsstücke, Toilettenartikel, ein Buch und ein paar Zeitschriften, wenn er keine Lust mehr auf das Buch hätte. Er bestellte sich ein Weihnachtsessen beim Zimmerservice und aß, während er sich eine Wiederholung von Only Fools and Horses ansah. Den Abend des ersten Weihnachtstages verbrachte er an der Bar, wo er trotzig las und trank. Er merkte erst, wie betrunken er war, als er aufstand, um ins Bett zu gehen. Die Wände spielten ihm einen Streich, sie wichen vor ihm zurück, und die Barmänner sahen hinterhältig und böse aus.
Aber zumindest Silvester war erträglich. Er sah fern, und weil das Hotel in der Innenstadt nicht weit vom frisch sanierten Hafenviertel lag, konnte er die Autos hupen und die Mädchen schreien und lachen und Gruppen von Leuten einen Vers von »Auld Lang Syne« immer wiederholen und doch immer wieder falsch singen hören. Er konnte den Jahreswechsel auch im Fernsehen verfolgen: Er hörte einen Promi den Countdown bis zum neuen Jahr zählen, und das war gut. Es brachte ein weiteres Jahr zwischen ihn und die Sache.
Der Januar begann mit einem Kälteeinbruch. Der Wind blies ungehindert von den russischen Steppen herein. England versank im Chaos, wie immer angesichts eines Wetters, das auch nur geringfügig an Winter erinnerte.
Also musste er auch den Januar abwarten, denn niemand ging auf Wohnungssuche, solange der Frost am Boden festgefroren war und die Erde hart wie Holz machte und den Beton spröde wie einen Küstenfelsen. Niemand in England jedenfalls.
Erst im Februar begann er, eine Liste der örtlichen Immobilienmakler zusammenzustellen.
Er rief in der Mittagspause von der Arbeit aus an. Wenn der Anruf verfolgt würde, konnte er einfach sagen, dass er eine Wohnung suchte. Für den Fall, dass das je überprüft werden sollte (er erinnerte sich an Kommissar Holloways gemütliche Hinterlistigkeit), ging er zum Kreditberater seiner Bank, der prinzipiell sofort einem Darlehen zustimmte.
Es gab viel mehr Immobilienmakler in der Gegend, als Nathan vermutet hatte. Eine einzige große Anzeige in den Gelben Seiten konnte ein halbes Dutzend örtliche Niederlassungen abdecken. Deswegen, und weil er nicht immer eine Mittagspause hatte, dauerte es fast drei Wochen, bis er im Immobilienbüro Morris Michael anrief und fragte: »Hallo, kann ich bitte mit Holly Fox sprechen?«
Er hatte diesen Satz inzwischen so oft wiederholt, dass irgendwann seine Bedeutung verloren gegangen war. Deshalb folgte auf die Antwort –
»Tut mir leid, sie ist gerade bei einer Besichtigung, kann ich ihr etwas ausrichten?«
– eine lange Stille, während der sich Nathans Verkäuferkehle zuschnürte und ihn im Stich ließ. Er knallte den Hörer auf die Gabel und eilte zur Toilette.
Er nestelte an seinem Gürtel herum und bekam einen ausgiebigen Durchfall. Dann ging er auf den Parkplatz hinter dem Büro, setzte sich ins Auto und drehte die Musik laut auf. Er rauchte sieben Zigaretten.
Er sah, wie Motorradkuriere Pakete auslieferten und Kollegen zum Rauchen herauskamen (der Raucherbereich war eine triste, schmutzige Betonecke, die so wenig einladend wie möglich gestaltet war und doch niemanden abschreckte). Er drehte die Musik leiser. Wenig überzeugend tat er so, als spräche er in ein Handy.
Als er wieder in seinem kleinen, gläsernen Büro saß, schrieb er die Nummer des Immobilienbüros auf einen Post-it-Zettel und legte die Gelben Seiten zurück an Angelas Platz.
Er brauchte mehr als eine Woche, bis er die Nummer wieder wählen konnte. Aber er dachte kaum noch an etwas anderes. Die Idee hatte sich in einem Winkel seines Gehirns festgebissen wie bei einer heftigen Jugendschwärmerei. Bei allem, was er tat, übte er hauptsächlich imaginäre Gespräche mit Holly Fox.
Als er zum zweiten Mal anrief, bat ihn die Stimme in der Leitung zu bleiben. Der Hörer wurde mit einem kräftigen Poltern niedergelegt. Nathan war nicht in einer Warteschleife gelandet und er konnte im Hintergrund hören, wie eine viel beschäftigte Person sich dem Telefon näherte: gedämpfte Gesprächsfetzen, andere unidentifizierbare Geräusche, das Poltern des Telefons, als es vom Tisch aufgehoben wurde, eine Hand über der Muschel.
Leise: »Ja, mach ich. Gleich.«
Dann:
»Hallo, Holly am Apparat.«
Nathan stand auf, als sei jemand in sein Büro gekommen, und sagte: »Hallo?«
»Hier spricht Holly. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche eine Wohnung.«
»O-kay.«
Er glaubte am Klang ihrer Stimme zu erkennen, dass sie ihren Schreibtisch nach einem Stift absuchte.
Er nannte ihr seine Preisvorstellung. Sie fragte, was er suche.
Er antwortete: »Was Schönes.«
»Okay. Das ist schon mal ein Anfang. Eine Wohnung oder ein Haus?«
»Kann ich mir bei meinem Budget ein schönes Haus leisten?«
»Da werden Sie staunen. Sie müssen nur in der richtigen Gegend suchen.«
»Gut. Ein Haus wäre toll. Auf jeden Fall. Ja. Ein Haus.«
»Zimmer?«
»Ja, bitte.«
»Schon klar. Wie viele?«
»Oh, ich verstehe. Tut mir leid. Ich weiß nicht. Drei?«
»Drei Zimmer. Würden Sie auch ein Haus mit vier Zimmern nehmen, wenn es in Ihre Preislage fällt?«
»Vielleicht. Sollte ich?«
»Die meisten viktorianischen Häuser haben vier Zimmer, müssen Sie wissen.«
»Gut. Verstehe. Okay. Dann ja.«
»Eines davon ist meist ziemlich klein. Viele Leute richten es sich als Arbeitszimmer ein.«
»Okay.«
»Es eignet sich gut als Arbeitszimmer.«
»Ja.«
»Gut. Ich werde mal schauen, was wir haben. Dann sollten Sie am besten mal vorbeikommen und kurz persönlich mit mir sprechen. Ich möchte Ihnen nichts zeigen, was Sie nicht interessiert.«
»Okay.«
»Gut. Wann würde es Ihnen passen?«
»Immer ab fünf. Außer dienstags und donnerstags normalerweise.«
»Gut, also montags, mittwochs und freitags.«
»Außer am ersten Montag des Monats.«
»Okay.«
Entweder sah sie wirklich in ihrem Terminkalender nach, oder sie tat nur so. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Februar ein besonders stressiger Monat war, wenn man Häuser verkaufte.
»Wie wär’s nächsten Mittwoch? Um fünf?«
Jetzt war Freitagnachmittag.
Um einen Panikanfall zu überspielen, tat Nathan so, als sähe auch er in seinem Kalender nach.
Eigentlich wusste er ganz genau, dass er am Mittwochnachmittag um 17.15 Uhr einen Termin hatte. Und zwar keinen, den er absagen konnte – der Einkäufer einer kleinen, aber möglicherweise gewinnbringenden Schreibwarenhandelskette war mit Hermes’ bisherigem Service unzufrieden. Aber Nathan sagte: »Mittwoch ist super.«
»Schön«, sagte Holly. »Bis dann also.«
»Schön.«
»Nur so aus Interesse, woher kannten Sie meinen Namen?«
»Wie bitte?«
»Sie haben nach mir persönlich gefragt. Kennen wir uns?«
»Nein.«
»Das dachte ich auch nicht.«
»Ein Freund hat Sie mir empfohlen. Eher ein Kunde.«
»Verstehe. Na so was hört man immer gern.«
»Ja«, sagte Nathan. »Bis Mittwoch.«
»Bis Mittwoch«, sagte Holly Fox und legte auf.
Nathan saß da und starrte das Telefon an, als könnte es jeden Moment wie ein Frosch in die Luft springen und nach ihm schnappen. Aber es stand einfach da, bis es wieder klingelte, ganze fünfzehn Minuten später, und ihn damit fast zu Tode erschreckte.