5

Die Kälte und die Stille schlugen ihm ins Gesicht, seine Haut spannte sich wie Frischhaltefolie über seinen Schädel. Er biss die Zähne zusammen, setzte sich in den Lichtschein auf der steinernen Türschwelle, die dumpfen Partygeräusche im Rücken, und wusste nicht, was er tun sollte. Das große Haus verspottete ihn. Also packte er die Flasche am Hals und machte einen Spaziergang durch die Dunkelheit.

Jenseits des Ostflügels stand eine Gruppe kahler Bäume. Auf der anderen Seite lag ein Tennisplatz, um den herum ein paar Bänke aufgestellt waren. Auf einer von ihnen kauerte eine dunkle Gestalt. Als Nathan näher trat, schien die dunkle Gestalt zum Leben zu erwachen, ein weißer Kopf erhob sich. Schließlich entpuppte sie sich als ein junges Mädchen. Ihr kurzes, schwarzes Haar glänzte im Sternenlicht. Sie war in einen Herrenmantel gehüllt.

»Hallo«, grüßte sie.

»Hallo«, erwiderte Nathan. »Was machst du denn hier draußen?«

»Nur ein bisschen frische Luft schnappen.«

Er lachte auf. Zu laut: Ein Vogel flog aus den dunklen Bäumen hinter ihnen auf. Sie schaute ihm über Nathans Schulter hinweg nach und folgte seinem Flug.

»Was war das? Eine Eule?«

Er spähte angestrengt in die Dunkelheit. Die Milchstraße erstreckte sich wie ein riesiger Kondensstreifen über den Himmel.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, es war vielleicht eine Krähe.«

»Egal. Du hast sie nicht sehr beeindruckt.«

»Und, woher kennst du Mark?«

»Ich kenn ihn gar nicht. Nicht so richtig. Er ist ein Freund von meinem Dad. Eigentlich ist das ein Glück.«

»Wieso?«

»Weil Mark meinen Vater respektiert, kann er sich theoretisch nicht an mich ranmachen.«

»Das ist wirklich ein Glück.«

»Ich sagte ›theoretisch‹.«

»O mein Gott. Das hat er nicht wirklich gemacht.«

»Nein, aber er war nahe dran. Mum, Dad und meine Schwester sind schon nach Hause gegangen. Also hab ich mich rausgeschlichen, um ihm zu entkommen. Soll er sich doch eine andere suchen, an der er sich aufgeilen kann.«

Nathan setzte sich neben sie, tat es ihr unbewusst gleich und zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum.

Er reichte ihr den Wein. Sie trank.

»Ich glaube, du bist in Sicherheit«, sagte er. »Er tanzt gerade mit meiner zukünftigen Exfreundin.«

»Würg.«

»Du solltest ihn sehen.«

»Lieber nicht. Ich kenne das. Ich weiß, wie es sich anfühlt. Er bohrt seinen Ständer in dich rein, reibt ihn an dir. Als würdest du das nicht merken.«

Nathan schüttelte sich.

»Und warum ist sie deine zukünftige Exfreundin? Weil sie mit ihm tanzt?«, fragte das Mädchen.

»Nee. Das ist ’ne lange Geschichte.«

»Wir haben Zeit.«

»Kurz gesagt, sie hat einen anderen.«

»Hinter deinem Rücken?«

»So ziemlich.«

Sie zauste ihm die Haare.

»Du Ärmster.«

Etwas geschah zwischen ihnen. Ein Zauber lag in der Nacht.

Sie blieben noch ein paar Minuten sitzen und betrachteten den langsam kreisenden Himmel – bis Nathan sagte: »Ich erfriere.«

»Ich auch.«

»Willst du dich wieder reinschleichen und vielleicht etwas Stoff haben?«

»Was würde deine Freundin dazu sagen?«

»Ich glaube nicht, dass sie noch meine Freundin ist.«

»Ich wollte nur sichergehen.«

»Aha.«

»Was hast du dabei?«

»Ein bisschen Koks. Es gibt da ein Zimmer. Du gehst die Haupttreppe hoch, dann den dunklen Flur entlang, die kleine Abzweigung.«

»Zu den Gästezimmern?«

»Du warst wohl schon mal hier.«

»Jedes Jahr an Weihnachten, seit ich neun war.«

»Super. Die dritte Tür rechts. Wir treffen uns dort.«

»Ich gehe zuerst rein. Also bis in fünf Minuten?«

»Ja.«

Er sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht.

Das Mädchen huschte davon, verschwand unter dem großen schwarzen Mantel.

Er wartete auf der Bank und betrachtete den ungewöhnlich klaren Himmel. Er sah einen Satelliten, ein blinkendes Licht, das zu hoch und zu schnell vorbeiflog, um ein Flugzeug zu sein.

Dann ging er zum Haus zurück. Er begann sich zu fragen, ob das Mädchen wirklich da gewesen war. Auf der Terrasse hielt er inne und erinnerte sich daran, wie die Dunkelheit des Wäldchens sie verschluckt hatte wie Tusche, die über eine Zeichnung lief. Er erinnerte sich an das kalte Gefühl ihrer Hand auf seiner Stirn.

Er ging wieder hinein und wurde von einem Schwall Hitze, Partygeschnatter und »La Isla Bonita« empfangen. Er gab seinen Mantel wieder ab und steckte dann den Kopf vorsichtig in den Ballsaal. Sara stand in einer Ecke und unterhielt sich mit jemandem, einer Frau.

Er eilte die Treppe hinauf und drückte sich den schummerigen Korridor entlang. Er ging zur dritten Tür auf der rechten Seite, hielt einen Augenblick inne und drückte dann die Klinke hinunter.

Die Tür ging auf und das Licht war eingeschaltet und das Mädchen war im Zimmer. Sie hatte ihren Mantel aufs Bett geworfen. Sie trug einen kurzen Rock und ein enges T-Shirt mit irgendeiner ironischen Aufschrift. Adidas-Turnschuhe. In der Hand hielt sie mehrere Papierfetzen. Er sah das Wort JA. »Was ist das denn?«, fragte sie.

»Das willst du lieber nicht wissen.«

»Hast du hier drin Gläserrücken gespielt? Meine Güte, wie alt bist du, zwölf?«

Noch einmal nahm er den Spiegel von der Wand (im Lampenlicht sah er die verschlungenen, getrockneten Schneckenspuren von seinen und Bobs angefeuchteten Fingern) und legte ihn aufs Bett.

Er reichte ihr das Zinnröhrchen. Er hatte es nicht über sich gebracht, es mit Bob zu teilen – zu sehen, wie Bob es in seine behaarten, ektoplasmischen Nasenlöcher schob. Aber bei den Nasenlöchern des Mädchens war das etwas ganz anderes. Das Mädchen hatte hübsche Nasenlöcher, und in diese zog sie zwei der Lines, die er gelegt hatte.

Sie setzte sich aufs Bett und ließ es wirken.

Sie schaute ihn an. Dann schaute sie weg. Dann – sehr sorgfältig und sehr deutlich – klopfte sie auf die Matratze neben sich.

»Komm, setz dich zu mir.«

Er setzte sich zu ihr.

Sie saßen einfach nur da. Ihre Knie berührten sich. Sie redeten ein wenig.

Er legte den Arm um sie. Sie war sehr zierlich. Sie drehte sich zu ihm. Er kam ihr entgegen. Ihre Lippen berührten sich. Ihre Zunge schoss zwischen seine Lippen. Sie schmeckte nach Koks und Zigaretten und Wein. Er schob eine Hand unter den Saum ihres T-Shirts. Ihr Körper war warm und weich und fest. Er legte sie auf den Rücken. Ihre Hände verschränkten sich in seinem Nacken. Er konnte ihre Rippen spüren. Er umfasste ihre Brust und drückte sie; er spürte, wie ihre Brustwarze in seiner Handfläche hart wurde. Sie bog den Rücken durch.

Die Tür ging auf und Bob kam herein.

Nathan setzte sich auf und fluchte: »Verdammt noch mal, Bob.«

Er bemerkte, dass Bobs Gesicht einen ernsten, besorgten Ausdruck hatte. Es machte ihn wütend: Er wollte Bob am liebsten eine reinhauen. »Verpiss dich, Bob. Los, verpiss dich einfach«, sagte er.

Aber Bob verpisste sich nicht. Stattdessen sagte er: »Sara sucht dich. Sie ist auf dem Kriegspfad, Alter.«

Nathan stöhnte.

»Ich hab sie gerade kennengelernt«, erklärte Bob. »Sie fragt sich, wo zur Hölle du steckst.«

Nathan war genervt und verärgert beim Gedanken an Saras Genörgel; er stellte sich vor, wie sie mit dem Fuß wippte, die Arme verschränkte, eine Schnute zog und den minutiös geglätteten Pony nach hinten warf.

Während er sich das ausmalte, wandte Bob sich an das Mädchen. »Ich bin übrigens Bob. Ein Freund von Nathan.«

Das Mädchen strich sein T-Shirt glatt und stellte sich vor: »Elise.«

Nathan schielte sie von der Seite an, wie um sie richtig zu begrüßen. Sie schielte zurück. Nathans triumphale Erektion sank in sich zusammen. »Sara ist der letzte Mensch, den ich jetzt sehen will«, klagte er.

»Dann verstecken wir uns eben«, meinte Bob.

»Sie wird uns finden.«

Woraufhin Elise nervös zur Tür blickte und den Saum ihres T-Shirts noch einmal glättete.

Bob war nicht in der Stimmung, aufzugeben. »Dann hauen wir eben ab«, schlug er vor.

Nathan dachte einen Augenblick darüber nach – nicht zu lange, denn er wollte auf Elise einen entschlossenen Eindruck machen.

»Das klingt nach einem Plan«, sagte er.

Er entriegelte das Schlafzimmerfenster und stieß es auf, dann streckte er den Kopf hinaus, um zu sehen, wie tief es hinunterging.