20

Am Anfang wussten sie manchmal nicht, wohin sie gehen sollten. Theater- oder Kinobesuche kamen ihnen unnatürlich vor – aber es herrschte ein stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen, dass Nathan Holly nicht in seine Wohnung einladen durfte, nicht einmal, um ein Video anzusehen und chinesisches Essen zu bestellen. Der Moment, in dem sie seine Türschwelle überschreiten würde, wäre mit zu viel Bedeutung aufgeladen.

Also trafen sie sich mittags und aßen in einer nahegelegenen Brasserie, oder sie verabredeten sich nach der Arbeit und unterhielten sich ein, zwei Stunden in einer ruhigen Ecke eines Pubs oder einer Weinbar. Mit der Zeit verflüchtigte sich Nathans fixe Idee, ihr ständig etwas Neues bieten zu müssen, und ein Ort wurde zu ihrem Stammlokal: eine mit Steinplatten ausgelegte Bar im Keller eines italienischen Restaurants. Oft war sie leer bis auf die mageren russischen Kellnerinnen, die auf einer billigen Stereoanlage Achtzigerjahre-Popmusik abspielten. Aber auch dann setzten sie sich in eine Ecke und bestellten etwas zu essen und eine Flasche Wein. Holly erzählte ihm von ihrem Tag. Er bekam viel mit vom Arbeitsalltag einer Immobilienmaklerin. Und er bekam mit, dass Holly mit ihrer Arbeit nicht glücklich war.

Sie hatte in Southampton BWL studiert. Graham und June wäre es lieber gewesen, wenn sie etwas anderes studiert hätte, etwas Sinnloses wie Englisch, aber Holly hatte das damals nicht eingesehen, und sie sah es auch jetzt nicht ein. Seit sie vierzehn war, hatte sie davon geträumt, ihre eigene Firma zu leiten.

Wegen Elise hatte sich alles verändert. Der Job im Immobilienbüro war eigentlich als Übergangslösung gedacht, etwas, was Geld brachte, bis das Leben der Familie wieder im Gleichgewicht war. Aber ihr Leben war noch immer nicht im Gleichgewicht, und Holly war noch immer Immobilienmaklerin.

Sie konnte ihren Chef, einen Idioten namens Neil, der eine Achtzigerjahre-Haartolle trug und einen turbogeladenen BMW fuhr, nicht ausstehen. Er war etwa zweiundzwanzig und hatte noch Pickel am Kinn, aber vier Kinder und ein hässliches Haus, mit dem er ständig angab.

Holly hatte noch immer vor, ihr eigener Chef zu werden. Es lag nicht einmal am Startkapital – ihre Eltern könnten zur Not eine Hypothek auf ihr Haus aufnehmen, und sie hatte Ersparnisse, schließlich hatte sie nun ziemlich lange keine Miete mehr gezahlt. Außerdem hatte ihr Sozialleben praktisch nicht existiert.

Dann ließ sie den Kopf hängen, genau wie immer in solchen Augenblicken, und fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases. »Aber zum richtigen Zeitpunkt, du weißt schon.«

Sie erzählte ihm von ihren Eltern.

»Dad war bei der Royal Navy. Das hat ihm immer, wie soll ich sagen, dieses Selbstbewusstsein gegeben. Eine gewisse Würde. Aber die Sache mit Elise hat ihm alles Selbstbewusstsein genommen. Er geht nicht mehr aus dem Haus. Er werkelt den ganzen Tag im Garten oder in seinem Arbeitszimmer herum. Wochenlang schafft er es nicht weiter als bis zum Gartentor, nicht einmal, um in den Pub zu gehen.«

Das war der Pub auf der anderen Seite der Dorfwiese, in dem Graham sich seit Hollys Kindheit zwei-, dreimal die Woche mit seinen Kumpanen getroffen hatte, um Domino oder an Weihnachten Poker zu spielen. Einer von ihnen war Mark Derbyshire gewesen, dessen Name im Dorf nicht mehr erwähnt wurde.

»Die Pressekonferenzen waren schrecklich für ihn«, sagte sie. »Er musste sich immer übergeben, bevor er aus dem Haus ging. Ich musste ihn auf dem Weg zum Auto stützen wie einen alten Mann.«

»Spricht er über sie?«

»Nein, er kann nicht. Er tut einfach so, als würde er nichts hören. Ich bin immer fast die Wände hochgegangen.«

»Aber jetzt nicht mehr?«

»Doch, manchmal schon. Aber an einem Sonntagmorgen habe ich ihn weinen gehört. Er hat auf dem Boden hinter der Tür seines kleinen Arbeitszimmers gesessen und einfach immer wieder ›Mein Gott, mein Gott‹ gesagt. Es klang irgendwie erstickt, als würde er auf seine Faust beißen und versuchen nicht zu weinen. Als würde es wehtun, weißt du, als würde er einen körperlichen Schmerz spüren. Das war etwa eine Woche vor Elises einundzwanzigstem Geburtstag.«

Nathan stützte das Kinn auf die Hände und sagte »Uff«. Dann fragte er, obwohl er die Antwort nicht hören wollte: »Und deine Mum?«

»Mum war Sekretärin – sie ist organisiert. Nach der Hochzeit hat sie für Wohltätigkeitsvereine, Bürgerinitiativen, alles Mögliche gearbeitet. PETA, den WWF, das Women’s Institute, die Obdachlosenhilfe. Für das Women’s Institute ging sie oft in unsichere Sozialwohnblocks und lehrte alleinerziehende Mütter und Familien, die von Sozialhilfe lebten, zu sparen und ihr Essen kostengünstig zu Hause zu kochen. Also wusste sie, was sie tun musste, um damit fertig zu werden. Sie gründete die Stiftung …«

Das war die Elise-Fox-Stiftung.

Im Lauf der Zeit hatten sich andere Familien, die auch Kinder verloren hatten, mit ihrem Engagement und Geldmitteln beteiligt. Die Stiftung weitete sich so aus, dass sie einen Beratungsservice für trauernde Hinterbliebene und Menschen wie June anbot, deren Schmerz auf Ungewissheit beruhte.

June war nie zu einem Therapeuten gegangen – die Stiftung war ihre Therapie. Aber sie wurde so groß, dass sie sie erdrückte. Nun war sie nur noch die Vorsitzende. Das Spendensammeln und die alltägliche Arbeit erledigte eine Frau namens Ruby, die 1991 ihre Tochter auf einem französischen Campingplatz verloren hatte.

Mit Ruby konnte June es sich erlauben, über Elise nicht nur wie über ein Mädchen zu sprechen, dessen Hauptmerkmal seine Abwesenheit war. Sie wurde wieder eine Tochter: ein Neugeborenes, ein stolperndes Kleinkind, eine schlaksige, bebrillte Elfjährige. Wenn Ruby da war, waren Elise und ihr Verschwinden nicht ein und dasselbe.

»Und was ist mit dir?«, fragte Nathan.

»Was soll ich sagen? Familien rücken enger zusammen, oder sie brechen auseinander. Ich hatte keine Wahl …«

»Aber es ist wie …«

Er fuchtelte mit der Hand herum auf der Suche nach dem richtigen Wort.

»Ich kann dir sagen, wie es ist«, begann sie. »Es ist wie beim offenen Vollzug. Von außen sieht es aus, als hätte ich alles: einen Job, ein Auto, Freunde, so was eben. Aber ich habe keine Freiheit mehr. Ich hatte immer damit gerechnet, dass ich mich eines Tages um Mum und Dad kümmern müsste. Aber nicht jetzt schon, verstehst du? Ich hatte Pläne. Natürlich keine großen. Ganz normale Pläne: guter Job, netter Mann, Haus, Kinder. Bla bla bla. Und dann plötzlich so was …«

Sie flatterte mit der Hand und folgte ihrer Bewegung wie einem aufsteigenden Vogel.

Nathan beugte sich nach vorne über den Tisch.

»Du bist noch nicht mal dreißig

»Noch nicht. Ha. Okay, es ist so, ich weiß, dass ich das wahrscheinlich alles haben werde. Aber es wird sich nicht natürlich anfühlen. Ich werde immer diese Sache mit mir rumschleppen, die mir passiert ist, und niemand wird das verstehen können. Wie soll ich Kinder bekommen? Wie soll ich sie morgens zur Schule schicken, nach dem, was Elise zugestoßen ist? Wie soll ich ihnen erklären, dass es keine Monster gibt? Wie soll ich ihnen beibringen, sich nicht vor der Dunkelheit zu fürchten?«

Es frustrierte sie. Sie konnte es ihm erklären, aber sie konnte ihn das Ausmaß dieses Verlusts nicht spüren lassen – dass er sich wie eine Explosion von einem Mittelpunkt aus gleichmäßig in alle Richtungen ausgebreitet hatte, dass er sich in die Vergangenheit erstreckte und den Tag von Elises Geburt infizierte, und die Nacht, in der sie gezeugt worden war, er war ein Gespenst in den Schatten an dem Abend, als June und Graham sich zum ersten Mal gesehen, zum ersten Mal miteinander getanzt, sich zum ersten Mal geküsst hatten. Und er reichte in die Zukunft, er durchtränkte jeden Atemzug, den Holly jemals tun würde.

»Und was auch immer ich besitze«, fuhr sie fort, »was immer ich am Ende bekomme, welche Art von Glück auch immer ich mir aufbauen kann, das werden alles Dinge sein, die Elise nie haben konnte. Wie soll ich damit leben? Wie soll ich mich freuen über den Mann und die Kinder und das Haus und den Job und, was weiß ich, die drei Urlaube im Jahr auf Scheiß-Barbados, wenn meine Schwester eines Abends ausgegangen ist – und einfach aufgehört hat, zu existieren?«

»Elise würde sicher nicht wollen, dass du unglücklich bist.«

»Natürlich nicht. Aber nur weil das, was man fühlt, sinnlos ist, hört man deshalb trotzdem nicht auf, es zu fühlen.«

»Holst du dir Hilfe?«

»Was meinst du, von einem Berater?«

»Ja.«

Sie lachte und gab ihm einen Klaps aufs Handgelenk.

»Glaubst du etwa, ich bin verrückt?«

»Nicht von einem Psychiater. Von einem Berater, der … ich weiß nicht. Der dir hilft, dir irgendwie über deine Gefühle klar zu werden.«

»Das war ein Scherz. Natürlich war ich bei einem Berater. Aber es hat mir nichts gebracht.«

Er füllte ihre Gläser nach.

»Und was ist mit Ian?«

Ian war Hollys Exfreund.

»Was soll mit ihm sein?«

»Trefft ihr euch noch?«

»Wäre das schlimm?«

»Natürlich nicht. Ich wollte …«

»Nein«, bekräftigte sie. »Wir treffen uns nicht.«

Die Kerze flackerte im Glas und sie fuhr fort: »Ich weiß nicht. Auf eine gewisse Art glaube ich, die Trennung von Ian war vermutlich meine letzte Rettung.«

»Wie war er?«

»Na ja, eben ganz anders als du.«

»Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll.«

»Wahrscheinlich als Kompliment.«

Er trank einen Schluck Wein.

»Na ja«, erklärte sie, »er hätte mich genug lieben sollen, um den Rest seines Lebens mit mir zu verbringen, in Krankheit und Gesundheit, bla bla bla. Aber als es drauf ankam, hat er noch nicht mal versucht, ein Freund für mich zu sein – verstehst du, was ich meine? Es war ihm zu anstrengend, einfach mein Freund zu sein. Sobald etwas Schlechtes geschah, kam er damit nicht klar. Es war zu schwer für ihn. Der Ärmste.«

Nathan zündete sich eine Zigarette an.

»Du«, ergänzte Holly, »du kennst mich kaum. Aber du warst mir ein besserer Freund, als Ian es je war. Als eigentlich jeder.«

Sie leerte ihr Glas, und sie saßen einfach da, mit einer leeren Flasche und zwei leeren Gläsern zwischen sich.

Sie sagte: »Ich weiß nicht mal, was du überhaupt davon hast.«

»Wovon soll ich etwas haben?«

»Du weißt, was ich meine. Zeit mit mir zu verbringen.«

»Genau das habe ich davon.«

Sie legte den Kopf auf die Seite.

»Warum machst du das?«

Er wünschte, er hätte noch Wein im Glas. Er umklammerte den zarten Stiel mit der Faust.

»Ich will dir etwas Gutes tun.«

»Und glaubst du, du kannst das?«

»Ich kann es versuchen.«

Sie berührte seinen Handrücken.

Er sagte: »Was ich will – mehr als alles andere auf der Welt –, was ich wirklich will, ist, dir etwas Gutes zu tun.«

Er konnte sie nicht ansehen. Eine Weile dachte er, sie hätte nicht reagiert. Heiße Schamesröte stieg von seiner Brust auf.

Dann berührte Holly seine Wange. Er nahm ihre Hand in seine. Küsste ihre kleinen spitzen Fingerknöchel.

Sie sagte: »Ich kann das alles gar nicht glauben.«

»Ich auch nicht«, antwortete Nathan.

Ende April richtete Holly es so ein, dass sie nicht zu Hause war, als er in Sutton Down ankam. Es war Samstagmorgen. Im Kofferraum hatte er Blumen und Champagner.

Er klingelte an der Tür. Graham machte auf. Jetzt im Frühling trug er kurzärmelige Pastellhemden.

Graham sagte, er freue sich, ihn zu sehen. Er schüttelte Nathan die Hand und bat ihn herein.

Die Vorderseite des Hauses war düster und kühl. Aber die Morgensonne schien in die Küche und den Wintergarten. Nathan ging auf das Licht zu; Graham folgte ihm.

Draußen blühte der Obstgarten. Die Küchenfenster standen offen, um die frische grüne Luft hereinzulassen.

»Tee?«, fragte Graham.

Es war zu einem Ritual geworden, dass Graham Tee anbot und Nathan sich dann bereit erklärte, ihn zu machen. Aber heute schien das unpassend, also räusperte Nathan sich und antwortete: »Ja, sehr gerne.«

»Okidoki«, sagte Graham und griff nach dem Wasserkocher. Er öffnete das Fenster noch weiter und rief June zu, dass Nathan gekommen war. Nathan hörte, dass sie antwortete, konnte es aber nicht verstehen.

Sie kam in einer Breitcordhose mit Erde an den Knien herein und einem Anorak, der dem Schnitt und der Farbe nach aus den Siebzigern stammte. Leute wie June warfen nie etwas weg. Nathan bewunderte das. Die Gartenschere lag hässlich in ihrer Hand und erinnerte an einen Chirurgen.

Er küsste sie auf die Wange. »Was machst du?«

»Ich treibe Flieder aus toter Erde«, zitierte sie.

Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck, sagte »egal« und hängte den Anorak über eine Stuhllehne. Dann zog sie ihre Gartenhandschuhe aus und legte sie neben die Spüle mit den Worten: »Holly ist in die Stadt gegangen. Wahrscheinlich kommt sie bald zurück. Ich glaube, sie wollte einen Rock zurückgeben.«

Nathan hüstelte und sagte: »Ich weiß.«

Dann, bevor er es sich anders überlegen konnte, fügte er hinzu: »Ich würde gerne mit euch über etwas sprechen.«

Graham und June standen nebeneinander. Zögernd griff June nach Grahams Hand.

Nathan fuhr fort: »Ich weiß, dass wir, Holly und ich … Ich weiß, dass wir uns noch nicht sehr lange kennen. Aber es ist so … es ist so, dass das die glücklichste Zeit meines Lebens war. Ihr sollt nicht denken, dass wir uns in etwas hineinstürzen. Und ihr sollt auch nicht denken, dass ich so was oft mache. Denn das tue ich wirklich nicht. Nie.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Also, wir möchten … mit eurer Erlaubnis … Wir möchten heiraten. Wenn ihr einverstanden seid.«

Nun, nachdem es heraus war, fühlte er sich erschöpft und unsicher.

Er schaute an ihnen vorbei, auf die blühende Obstwiese am Ende des Gartens. Es war so still in der Küche. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören, das Krächzen der Vögel draußen.

Graham und June hatten nicht einmal einen Blick getauscht. Aber June drückte Grahams Hand.

Graham sagte: »Das wäre uns eine Ehre.«

Nathan schüttelte die ihm dargebotene Hand mit angemessener Förmlichkeit.

Holly kam eine Stunde später nach Hause. Sie öffnete die angelehnte Tür und rief erwartungsvoll: »Hallo?«

Der Champagner war schon halb ausgetrunken und Junes Blumen standen in einer Vase.

Holly trat in die Küche. »Er hat es euch also gesagt?«

June und Holly fassten sich an den Händen und schluchzten glücklich und traurig zugleich. Graham trat einen Schritt zurück und blickte auf seine Schuhe. Nachdem June Holly losgelassen hatte, umarmte er seine Tochter. Er küsste sie auf die Wange und flüsterte ihr etwas zu. Daraufhin drückte sie seine Hand, verdrehte die Augen und nickte.

Nathan stand in einer Ecke des Wintergartens und sah ihnen zu, während das Sonnenlicht hinter ihm hereinfiel und eine schwache, bernsteinfarbene Raute auf den Boden warf.