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Nathan war sicher, dass Mark Derbyshires Haus sich verändert haben musste. Es würde gealtert und von Efeu umrankt sein, als wären hundert Jahre vergangen. Die Gäste würden tief schlafen und sich erst rühren, wenn er Sara gefunden und mit einem keuschen Kuss geweckt hatte.
Aber das Haus hatte sich nicht verändert und die Zeit hatte keinen Sprung gemacht. Es war noch dieselbe Party im Gange, mit denselben Leuten.
Bob parkte den Volvo in der Kieseinfahrt, und sie gingen auf den Eingang zu. Derselbe Butler nahm ihre Mäntel entgegen. Nathan fühlte sich schmutzig, als seien seine Kleider und Haare und Augen und Ohren mit Schlamm und Scheiße und Blut und Sperma verschmiert, aber er sah lediglich zerzaust und müde aus, als wäre er auf dem Rücksitz eingeschlafen.
Als er dem Portier seinen Mantel reichte, stieg ihm ein Hauch von Elises Parfüm in die Nase: etwas Junges und Reines, der Geruch von schläfrigen, sonnigen Nachmittagen, der Geruch von Gelächter an englischen Strandpromenaden.
Bob folgte ihm in den Ballsaal, und Nathan war sicher, die Gäste würden sofort einen Kreis um ihn bilden und ihn im Chor anklagen. Aber es bildete sich kein Mob. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, zu »Waterloo« zu tanzen.
Er holte sich einen Drink. Er musste die Bestellung dreimal wiederholen, seine Stimme versagte. Er trank ihn in einem Zug aus und bestellte noch einen. Diesmal ohne Tonic.
Er folgte dem Chlorgeruch zum Pool. Mehrere Mädchen waren im Wasser, sie alle trugen Badeanzüge oder Bikinis, hatten sich also darauf vorbereitet, spontan zu sein. Ein paar Männer waren auch drin, in kurzen Badehosen und Surfershorts. Unter Wasser sahen ihre Bäuche blass und schwabbelig aus, ihre käseweißen Beine verschwanden fast ganz. Es wurde ein wenig herumgespritzt und geschrien.
Erschöpft vom Lärm im Ballsaal hatten sich viele Gäste an den Rand des Schwimmbeckens zurückgezogen, sie bildeten leise, gesittete Grüppchen. In einem dieser Grüppchen stand Sara. Ihr Kreis bestand aus mehreren Frauen und ein paar Männern. Unter ihnen befanden sich Mark Derbyshire und Howard.
Sara sah so makellos wie die am Horizont verschwindenden Kreidefelsen von Dover aus, ihre Reinheit war dem Licht und der Entfernung geschuldet. Nathan stellte sich zu der Gruppe. Sofort schwiegen alle, was darauf hindeutete, dass er das Gesprächsthema gewesen war. Indem sie so taten, als starrten sie ihn nicht an, starrten ihn alle an.
»Wo kommst du denn her?«, fragte Sara.
Er konnte nicht antworten.
»Tut mir leid. Ich hab zu viel getrunken. Ich war spazieren. Um den Kopf freizukriegen.«
»Wo warst du spazieren?«
»Keine Ahnung.«
»Denn hier ist gar nichts in der Nähe, oder?«
»Das habe ich jetzt auch gemerkt.«
»Ich verstehe nicht, was mit dir los ist.«
Das genügte dem Rest der Gruppe; sie hatten inzwischen alle etwas anderes gefunden, was sie anstarren konnten. »Waterloo« ging zu Ende. »Ant Music« begann. Kreischen und Wasserspritzen im Pool hinter ihm. Parfüm auf seinem Revers. Sperma in seiner Unterhose. Und Bob hinter ihm, der einen violetten Schatten warf.
Mark Derbyshire schnitt Grimassen, vielleicht weil er versuchte nicht zu grinsen. Howard stierte in die Tiefen seines Glases; eine graue Locke war ihm in die Stirn gefallen.
»Okay«, sagte Nathan. »Ich hatte zu viele Drinks. Tut mir leid.«
»Du hattest zu viel von etwas anderem.«
»Zu viel von dir.«
Ihm blieb wenig Zeit, sich zu wundern, wie er darauf gekommen war, bevor Mark Derbyshire ihn am Arm packte und sagte: »Jetzt mal langsam, Kleiner.«
Nathan versuchte sich loszumachen, aber Mark Derbyshires behaarte Hand war erstaunlich kräftig.
Die Röte stieg zwischen Saras Brüsten auf und erstreckte sich bis zu ihren Schultern.
Nathan zerrte an Mark Derbyshires Hand und schrie: »Lass mich los, verdammt!«
Mark Derbyshire war unnachgiebig. »Freundchen, du hattest viel zu viel von was auch immer du genommen hast. Jetzt beruhigen wir uns mal ein bisschen.«
Nathan versuchte ihn zu schlagen. Aber er holte zu weit und zu schnell aus und verlor das Gleichgewicht. Er fiel hin. Der Aufprall nahm ihm den Atem. Er schlug mit dem Kopf auf dem nassen Beckenrand auf.
Er blieb dort auf dem Rücken in einer Pfütze liegen und versuchte zu atmen. Mark Derbyshire und Sara und Howard und Bob beugten sich über ihn.
Hinter ihnen hatten Dampf und angestauter Atem den klaren Nachthimmel über dem Glasdach ausgelöscht. Man sah nur einen wabernden, grauen Nebel, der jeden Moment aufzuklaren schien, es aber nicht tat.
Als Nathan wieder auf die Beine kam, bemerkte er eine tiefe Stille. Die Gäste im Pool standen da wie Statuen auf einer halb überschwemmten Insel, während er sich das Wasser von seinem triefenden Arsch wischte.
Saras Lippe verzog sich, und bald folgte der Rest ihres Gesichts. Sehr langsam spie sie aus: »Verpiss dich einfach, Nathan.«
Ihm fielen ein Dutzend Antworten ein. Aber stattdessen steckte er die Hände in die durchweichten Hosentaschen und meinte: »Ja, warum nicht?«, bevor er vom Pool weg, am Ballsaal vorbei und ein weiteres Mal – das letzte Mal – zu dem Mann mit dem schütteren Haar an der Garderobe ging.
Die ganze Zeit über klebte Bob an Nathans Fersen wie ein treuer Neufundländer.
»Das war keine halbe Stunde«, bemerkte Bob draußen, »aber es war echt verdammt überzeugend, das muss ich dir lassen.«
Sie begruben Elise am Fluss, mit dem Gesicht nach unten. Das Grab war nicht tief; sie hatten die kalte Erde mit ihren bloßen Händen und den Kanten kreidiger Felsbrocken weggeschaufelt. Sie bedeckten das Mädchen mit Steinen und Kies und streuten Moos und Zweige und feuchte Blätter darüber. Sie stopften ihre Kleider und Schuhe in eine Einkaufstüte, die sie aus einer Ecke des Kofferraums gefischt hatten, verknoteten sie und begruben sie neben ihr.
Im Auto auf dem Nachhauseweg wiederholten sie ihre einfache Geschichte so lange, bis Nathan fast selbst glaubte, dass sie stimmte.
Als Bob vor Nathans Haustür anhielt, war es noch dunkel. Sie waren schmutzig.
»Wir sollten uns nicht wiedersehen«, meinte Bob.
»Nein.«
»Aber du kannst immer auf mich zählen. Das sollst du wissen.«
»Das weiß ich.«
»Und kann ich auf dich zählen?«
»Ja.«
Nathan öffnete die Autotür. Er schwankte und fügte dann hinzu: »Solange ich dich nie wiedersehe, Bob. Niemals.«
Bob nickte.
Und Nathan trat auf den Asphalt. Seine Kleider und Schuhe und Haare und Wimpern waren mit Dreck verklebt. Seine Nägel waren zersplittert und schwarz unter den Rändern.
Er ging zur Eingangstür und tastete nach dem Schloss. Dann schlüpfte er durch die Tür und rannte die Treppe hinauf in seine Wohnung. Im dämmrigen Licht zog er sich die Schuhe und die Socken und das Hemd aus, den Anzug und die Unterwäsche, und warf alles in die Waschmaschine.
Dann ging er duschen. Er sah, wie das Wasser erst braun wurde, dann grau, dann klar. Er starrte auf das Stück Pears-Seife in seiner Hand, das aussah wie ein riesiges, durchsichtiges Bonbon, sog den saubersten Geruch ein, den er kannte, und fing an zu weinen.