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Nathan hatte noch nie einen toten Menschen gesehen, aber er merkte es sofort. Etwas war aus ihr verschwunden – was auch immer es war, das aus diesem frischen Leichnam noch wenige Augenblicke zuvor ein Mädchen namens Elise gemacht hatte.
Ein Vogelschwarm flog in Nathans Brust auf.
Bob saß auf der Rückbank – mit zerknitterten Hemdzipfeln, nacktem Unterkörper. Sein Pferdepenis hing dick und nass und glänzend herunter. Elise lag nackt auf dem Bauch, ihre Füße ruhten auf seinem Schoß.
Nathan starrte sie an.
Man hörte nur das Geräusch von Bobs Atem. Elises Füße zuckten.
Eine alte, schmutzige Redewendung kam Nathan unwillkürlich in den Sinn – Jetzt bist du richtig im Arsch. Er schüttelte sich.
»Was zur Hölle hast du mit ihr gemacht?«, fragte Nathan.
Seine Stimme klang mädchenhaft, und sie zu hören – die wachsende Panik zu hören –, jagte ihm noch mehr Angst ein.
Elises Adidas-Schuhe erschauerten auf Bobs Schenkeln. Er starrte sie an, dann schob er ihre Beine von seinem nackten Schoß. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, wie ein Aufstöhnen nach dem Geschlechtsverkehr.
Nathan drehte sich der Magen um.
»Sie hatte einen Krampf. Da unten. Du weißt schon. Ich konnte nicht … ich konnte nicht mehr raus«, erklärte Bob.
Nathans Mageninhalt stieg in seinen Mund hoch. Er riss die Beifahrertür auf und ließ sein Erbrochenes auf den Weg klatschen. Er würgte lange.
Dann rannte er los.
Er rannte und rannte. Seine Arme bewegten sich auf und ab. Er spürte weder Reibung noch Widerstand. Sein Atem kam in heißen und kalten Stößen. Es gab nur die langsam wogenden Bäume neben ihm, knorrige Eichen und silbrige Eschen, den funkelnden Himmel über ihm, das Stampfen seiner Füße, eine weiße Atemwolke.
Er verlangsamte seinen Schritt bis zu einem wankenden Trott und blieb dann stehen. Die Anstrengung übermannte ihn, und er übergab sich noch einmal. Er stützte die Hände auf die Knie. Äste zogen am Rand seines Gesichtsfelds vorbei. Er lehnte sich an einen Baum. Er spuckte aus.
Er wusste nicht, ob er zur Landstraße hin oder von ihr weggelaufen war. Aber nun stellte er sich vor, wie er atemlos und betrunken und völlig stoned – mit wildem Blick und zerzaustem Haar – irgendwie ein vorbeifahrendes Auto anhielt. Was sollte er sagen?
Was sollte er Sara sagen?
Er stand da, bis sich sein Atem beruhigte. Dann schleppte er sich zurück zu Bobs Wagen.
Er brauchte lange. Er begann sich zu fragen, ob Bob weggefahren war. Vielleicht hatte er Elise am Wegrand zurückgelassen und Nathan war nun allein mit ihr hier im Wald. Dann wurde der weiße Volvo in der Dunkelheit doch noch sichtbar.
Nathan ging darauf zu. Er öffnete die Tür und setzte sich hinein.
Bob saß noch immer auf der Rückbank. Er schien sich nicht bewegt zu haben, nur die Hose hatte er wieder hochgezogen. Der Gürtel lag gelöst auf seinem Schoß und der Reißverschluss war offen.
»Ich glaube, sie hatte einen Anfall«, sagte er.
Nathan wollte ihn umbringen, ihm mit einem Reifenheber den Schädel zertrümmern. Dann würde er zur Party zurückfahren. Er würde zu Sara gehen, er würde ihr sagen, dass alles in Ordnung war, und sie würden nach Hause fahren. Und in der perlgrauen Winterdämmerung würde er unter die frische, flauschige Daunendecke schlüpfen und spät am strahlenden Dezembervormittag aufwachen und die Zeitungen und Schinkensandwiches holen gehen. Und sie würden die Sandwiches essen und die Zeitungen lesen und Tee trinken und den Wochenrückblick von EastEnders sehen, und alles wäre gut. Er wünschte sich so innig, niemals mit diesem Mann und diesem Mädchen in diesen dunklen Weg eingebogen zu sein, dass es unmöglich schien, dass der Wunsch nicht wahr wurde.
Er sagte: »Wir müssen einen Krankenwagen rufen. Jetzt sofort. Sonst wird man denken …«
Bob strich sich das Haar zur Seite, das ihm ins aufgedunsene, dicke Gesicht fiel. »Was wird man denken?«
»Um Himmels willen. Natürlich nicht das. Sie hatte einen Anfall.«
»Während ich sie gevögelt habe. Ich weiß nicht, was passiert ist. Vielleicht hatte sie ein schwaches Herz. Vielleicht war es das Koks.«
Nathan würgte, doch diesmal kam nur Magensäure hoch. »Das darf alles nicht wahr sein.«
»Wir konnten das nicht ahnen.«
»Aber es war nicht meine Schuld.«
»Das wissen wir nicht. Nicht sicher. Was, wenn es die Drogen waren? Was, wenn du ihr Drogen gegeben hast, die sie umgebracht haben?«
»O Gott. Was sollen wir nur machen?«
»Wir legen sie in den Kofferraum. Dann fahren wir zurück zur Party.«
Nathan ließ den Kopf in die Hände sinken und stöhnte.
»Ich sage, dass ich dich aufgelesen habe«, schlug Bob vor und schaute nun auf. »Ich sage, dass ich dich am Straßenrand aufgelesen habe. Du hattest Sara mit diesem Mark tanzen sehen. Mit ihm flirten, was auch immer. Du warst betrunken und angepisst. Du wolltest ins Dorf laufen, um ein Taxi nach Hause zu nehmen. Du wusstest nicht, wie weit es war und wie kalt. Ich bin auf dem Nachhauseweg. Ich sehe dich, halte an. Wir parken am Straßenrand, reden über Sara, die Liebe und den Sinn des Lebens. Alles klar? Ich überrede dich zurückzugehen, dich bei ihr zu entschuldigen. Jetzt fahren wir also zurück. Wir bleiben eine halbe Stunde auf der Party, und dann musst du – das musst du auf jeden Fall – mit Sara einen Streit anfangen, denn dann stürmst du raus, und das bekommen alle mit. Ich komme dann nach. Ich sage, dass ich dich nach Hause fahre. Und dann fahren wir hierher zurück. Und beseitigen sie.«
In Nathans Innerem schwoll Panik an, eine gewaltige Welle, und schwoll wieder ab.
»Ich kann das nicht machen.«
»Du musst.«
»Ich kann nicht.«
»Hast du vielleicht eine bessere Idee?«
»Ich kann nicht klar denken. Ich bin total high. Ich hatte zu viel Koks.«
»Du hast jetzt keine Zeit, um klar zu denken. Wir müssen zurück zur Party. Wir müssen die zeitliche Abfolge durcheinander bringen.«
»Welche zeitliche Abfolge?«
»Wann wir bei der Party waren, und wann sie da war. Niemand hat euch zusammen reingehen sehen, niemand hat sie mit dir weggehen sehen. Deshalb müssen wir zurück zur Party. Und wir müssen auf der Party gesehen werden. Alle müssen uns sehen. Wie wir uns ganz normal verhalten.«
Dinge bewegten sich am Rand von Nathans Gesichtsfeld. Er wagte nicht hinzuschauen.
Er konnte sich nicht mehr an sein Leben vor diesem grässlichen alten Volvo erinnern, sein Leben vor Charlie Parker im CD-Player, sein Leben vor Elise.
»Ich kann nicht hierher zurückkommen.«
»Wir müssen. Denn fast niemand kennt diesen Ort.«
Die ganze Zeit über hatten sie sich nicht in die Augen gesehen. Nun drehte sich Nathan auf dem Sitz um.
»Man wird uns erwischen.«
»Nein, das wird man nicht. Wir müssen nur die nächsten paar Stunden durchstehen. So schlimm wie jetzt wird es nie wieder. Das verspreche ich dir. Das hier ist das Schlimmste.«
Bob öffnete die Tür und stieg mühsam hinaus in die kalte Nachtluft. Er stand eine Weile da und blickte hoch zu den Sternen, sein Atem dampfte.
Nathan hatte sich bald zu ihm gesellt.