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Am nächsten Morgen parkte Nathan gegenüber dem Immobilienmaklerbüro Morris Michael. Es lag an einer Hauptstraße, und er stand im absoluten Halteverbot, mit zwei Rädern auf dem Gehsteig und dem vorderen Teil des Wagens im Bereich einer Bushaltestelle.

Er wusste nicht einmal, warum er das tat. Holly würde nicht durch den Vordereingang hineingehen, sie würde mit ihrem Golf Cabrio von hinten über die Merrily Road herfahren. Wahrscheinlich würde sie sich in der kleinen Küche hinten eine Tasse Tee machen und sich mit ein paar Kollegen unterhalten, bevor sie nach vorne ging und ihren Computer startete. Jemand würde das Gitter hochfahren und die Lichter einschalten.

Er fragte sich, was sie wohl tun würde, wenn sie ans Fenster trat und sah, wie er da draußen traurig am Steuer saß. Er stellte sich vor, wie sie im ersten Moment vor Angst und Überraschung zusammenzucken würde – was angebrachter war, als sie ahnen konnte –, und wurde schwach vor Scham.

Dennoch wartete er, bis die Lichter eingeschaltet wurden.

Dann drehte er den Schlüssel in der Zündung und schoss geradewegs in den Verkehr.

Er kam eine Stunde zu spät zur Arbeit.

Am Morgen war er in Eile aufgestanden. Sein Hals war an einer Stelle wund vom Rasieren. Seine Koteletten waren unterschiedlich lang. Er war nicht von einem dezenten Hauch Acqua di Parma umgeben. Er hätte ebenso gut nackt und nur in eine zerlumpte Decke gehüllt erscheinen können. Augenbrauen wurden hochgezogen.

Er machte seine Bürotür zu und stellte die Aktentasche auf den aufgeräumten Schreibtisch. Dann setzte er sich und loggte sich ein.

Er wartete, so lange er es ertragen konnte, eine ganze Arbeitswoche, dann rief er sie im Immobilienbüro an. Deepak fragte nach seinem Namen. Darauf folgte eine bedeutungsschwangere Pause. Deepak teilte Nathan mit, dass Holly gerade nicht am Platz war und fragte, ob er vielleicht mit Tim sprechen wolle.

Nathan lehnte dankend ab und sagte: »Ich versuch’s später noch mal.«

Aber als er das tat, kam er zum gleichen Ergebnis.

Manchmal konnte er selbst während Sitzungen nur schwer dem Drang widerstehen, einfach zu ihrer Arbeitsstelle zu fahren und davor im Auto zu sitzen. Er wollte einfach dasselbe sehen, was sie sah. Dann fühlte er sich ihr nahe.

Er wusste, wie gefährlich das war. Hollys Toleranzgrenze für sonderbares Verhalten interessierter Männer war vermutlich niedrig. In Anbetracht ihrer gelegentlichen Medienpräsenz – und der erfolglosen Suche nach Elise – würde die Polizei wahrscheinlich sämtliche ihrer Beschwerden ernst nehmen.

Wenn sie sich über Nathan beschwerte, würde es nicht lange dauern, bis die Polizei herausbekam, dass er ein Gast bei Mark Derbyshires Weihnachtsparty gewesen war. Und dann konnte Nathan ernsthaft in Schwierigkeiten geraten.

Aber er musste in ihrer Nähe sein. Manchmal redete er sich ein, dass ein gequältes, entschuldigendes Lächeln sie überzeugen würde und sie dann gar nicht mehr anders könnte, als seine gute Absicht zu sehen.

Aber er fürchtete, sie könnte das Gesicht des Gargoyles sehen, der unter seinem eigenen hervorlugte – das Monster, dessen Augen er manchmal sah, während er sich rasierte.

Er lag im weichen Lichtschein in seinem Schlafzimmer, malte Muster in die Unregelmäßigkeiten der Zimmerdecke und dachte darüber nach, ihr nach Hause zu folgen.

Er verwarf die Idee als undurchführbar.

Dann dachte er noch einmal darüber nach.

Irgendwann schlief er unter den hellen, elektrischen Lampen ein. Jede Nacht hatte er denselben Traum. In dem Traum war er Bob. Er stand in der dunklen Ecke eines Zimmers, das er als Hollys Zimmer erkannte. In dem Traum schlief sie – eine Gestalt unter der Bettdecke, die Nathan nicht sehen wollte.

Am nächsten Morgen, als er wieder einmal sein Erbrochenes vom Badezimmerboden aufwischte, kam Nathan eine Idee, wie er sie finden konnte. Er ging zur Kommode und öffnete die unterste Schublade.

Er holte verschiedene Ordner und Dokumente heraus, die er im Laufe der Jahre von der Arbeit mit nach Hause genommen hatte; darunter auch einige von Justins Papieren, die er heimlich mitgenommen und kopiert hatte, um sich rechtlich vor den Auswirkungen der einen oder anderen Schweinerei schützen zu können. Unter den Dokumenten lagen mehrere gesammelte Zeitungsausschnitte: die Artikel, die zum vierten Jahrestag von Elises Verschwinden erschienen waren.

Zwei dieser Artikel enthielten ähnlich lautende Sätze.

Im Telegraph stand:

Die Elise-Fox-Stiftung, die June aus dem Haus der Familie in Sutton Down leitet …

Und in der Lokalpresse:

Die Stiftung wird aus einem leer stehenden Zimmer in dem Haus in Sutton Down geleitet, wo Elise geboren wurde …

Nathan starrte auf die Artikel, als seien sie uralt – antiquarische Texte, die hinter einem blinden Spiegel entdeckt worden waren. Dann legte er sie behutsam zurück in ihre Mappe, und die Mappe zurück in die Schublade. Er schob die Schublade zu, und obwohl er weder angezogen noch rasiert war und wieder einmal zu spät zur Arbeit kommen würde, suchte er das Telefonbuch. Es lag zusammen mit verstaubten Gelben Seiten in dem Schränkchen, in dem sich seine Strom- und Gaszähler befanden.

Es gab mehrere Fox’ im Telefonbuch von 2001, aber keine in Sutton Down. Er legte das Buch weg.

Die Sammlung von Telefonbüchern und Gelben Seiten des Vormieters lag etwas feucht und mit Spinnweben überzogen in einer hinteren Schrankecke. Nathan zog eins heraus. Es war sechs Jahre alt, stammte also aus einer Zeit, als die Fox’ seines Wissens keinen Grund gehabt hatten, sich aus der öffentlichen Liste streichen zu lassen. Er blätterte es durch. Und da war sie.

Er holte sein Handy. Er speicherte die Nummer und die Adresse unter H.

Dann legte er die Telefonbücher zurück in die Schrankecke. Er hatte das Gefühl, jede seiner Handlungen, die mit Holly Fox zu tun hatte, vertuschen zu müssen.

Er stellte sich vor, wie Kommissar William Holloway sich hinhockte, um in das niedere, muffige Schränkchen zu spähen, wie er das Telefonbuch fand, merkte, dass der Knick im Rücken auf ihre Nummer hindeutete, dass Nathans Fingerabdrücke in feuchter Druckerschwärze auf Elises Adresse zurückgeblieben waren.

Bei dem Gedanken wurde ihm schwindlig. Er setzte sich und rief bei der Arbeit an, um zu sagen, dass er ein weiteres Mal zu spät kommen würde.

Er gab keinen Grund an, weil er annahm, dass seine normalerweise tadellose Arbeitszeiterfassung und seine verschenkten Urlaubstage einen gelegentlichen späten Start rechtfertigten. Aber Nathan hatte noch nie gespürt, was es hieß, die Zielscheibe des Büroklatschs zu sein.

Als er auf der Arbeit gerade seine Morgenpost aus dem Verteilerfach der Abteilung nahm, tat Justin so, als wehe er an ihm vorbei, ein Zephyr von Pfefferminz und Whisky und Issey Miyake. Er schlich sich an Nathan heran und murmelte: »Hat sie dich die ganze Nacht wach gehalten?«

Nathan richtete sich auf und setzte zu einer Antwort an. Aber er spürte, dass die ganze Abteilung ihn anstarrte. Alle hoben die Köpfe von ihren Schreibtischen wie Wild an einer Wasserstelle.

Er sagte: »Ach, halt doch die Fresse, Justin«, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte in sein Büro. Er blieb auf der Schwelle stehen und knallte dann mit voller Absicht die Tür so stark zu, dass sie im Türrahmen wackelte.

Er fuhr seinen Rechner hoch und lauschte dabei seinem mysteriösen inneren Ticken und Surren, dann gab er das Passwort ein.

Es klopfte an der Tür. Es war Angela, die Sachbearbeiterin der Abteilung.

»Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ja, du weißt schon.«

Scheinbar tat sie das. Sie drückte die Handfläche gegen ihre nach oben gestreckten Fingerspitzen.

»Tee?«

Er lächelte sie an, für ihre selbstverständliche englische Überzeugung, dass es kein Problem auf der Welt gab, das eine Tasse Tee nicht wenigstens erträglicher machen konnte.

»Ja, bitte«, sagte er.

Zehn Minuten später brachte sie ihm den Tee. Sie hatte ihn genau so zubereitet, wie er ihn mochte: stark, mit Milch und einem Stück Zucker. Daneben legte sie ihm vier Marmeladenplätzchen, Nathans Lieblingskekse, auf den Schreibtisch. Bis das Wasser gekocht hatte, war sie schnell zum Laden um die Ecke gelaufen, um sie zu holen.

Als Nathan die Kekse sah, ein Symbol für etwas Verlorenes, überkam ihn das Bedürfnis zu weinen.

Und Angela stand da und nickte leicht, als würde sie ihn genau verstehen.