38
Als Nathan zu Hause ankam, saß Holly im dunklen Wohnzimmer.
Er blieb in der Tür stehen.
Sie sagte: »Man hat sie gefunden.«
Er ging zu ihr. Kniete sich hin, strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
Er wollte sie ansehen.
Sie wollte ihn nicht ansehen. Sie drehte den Kopf weg.
Er zog die Hand zurück und stand auf.
Er fragte: »Rufst du June und Graham an?«
»Morgen früh. Ich will sie schlafen lassen. Nur noch eine Nacht.«
Er folgte ihr in die Küche.
Es gab zu viel zu erklären.
Er sagte: »Wir wissen nicht, ob sie es ist. Noch nicht.«
»Sie ist es. Du weißt, dass sie es ist.«
Sie runzelte die Stirn und rieb über die Stelle zwischen ihren Augen. Sie sagte: »Du hast gelogen.«
»Ja.«
»Wenn du nicht … wenn du nicht gelogen hättest, wäre es uns vielleicht erspart geblieben …«
Das alles.
Holly fuhr fort: »Jedes Wort. Jedes Wort, das du je gesagt hast. Alles. Alles basiert auf einer Lüge.«
Sie zündete sich eine seiner Zigaretten an. Ihre erste seit Jahren.
»Wie hätte ich es dir sagen können?«
»Wie konntest du es mir nicht sagen?«
»Weil ich nicht wollte, dass es so weit kommt.«
»Nun, jetzt ist es so weit.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
Er suchte nach passenderen Worten. Aber sie hatten eine Grenze überschritten, ab der Worte keine Wirkung mehr hatten. Also sagte er nur: »Es tut mir leid.«
Sie setzten sich an den Tisch und redeten bis zum Morgen langsam im Kreis herum.
Der Tag begann mit einem Morgenkonzert der Vögel. Die aufgehende Sonne schien durch das Tauwasser und warf Perlentröpfchen auf ihre Haut.
Im fahlen Licht ging Holly in den Flur und starrte die Bilder von Elise an. Dann kam sie zurück in die Küche, um sich noch eine seiner Zigaretten anzuzünden. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es war kraus und trocken; es musste dringend gewaschen werden. Ihre Lippen waren aufgesprungen.
Sie sagte: »Ich kann dich nicht in meiner Nähe haben.«
»Okay.«
»Du hättest nicht lügen dürfen. Du hättest einfach nicht lügen dürfen.«
»Ich weiß.«
Sie packte sein Gesicht. Ihre Nägel bohrten sich in sein Fleisch. Hass blitzte in ihren Augen. Und dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie ließ ihn los.
Um 6.30 Uhr rief sie ihre Eltern an. An beiden Enden der Leitung herrschte langes Schweigen. Es gab keine Tränen. Es war wie die gemurmelte Feststellung einer Krankheit. Dass Elise gefunden wurde, war beinahe eine Enttäuschung. Sie wieder zurückzuhaben, würde das Familienleben noch einmal verändern. Sie stellte sich jetzt schon zwischen sie und durchbrach die feste Einheit, die sie gebildet hatten.
Holly war traurig, als sie auflegte. Etwas war gefunden, etwas war verloren.
Er konnte in sie hineinsehen: Sie fragte sich, ob es das wert war, und hasste sich dafür.
Nathan hatte Kopfschmerzen. Der viele Kaffee und die vielen Zigaretten. Und kein Schlaf. Er war völlig ausgelaugt.
Holly goss sich ein Glas Leitungswasser ein. Sie trank es in einem Zug aus.
Mit dem leeren Glas in der Hand sah sie ihn an. Ihre Augen waren verquollen und wund. Sie sah erschöpft und alt aus.
Sie sagte: »Wenn ich zurückkomme, musst du weg sein.«
Er atmete tief ein. Er war so müde. Er war beinahe froh.
»Was immer du für das Beste hältst.«
Sie stieg die Treppe hinauf und packte ihre Sachen. Sie ging dabei nicht sehr methodisch vor. Später fand er die Schubladen noch offen: Sie hatte die Kleider scheinbar zufällig herausgerissen. Sie ließ ihre Lieblingskosmetik zurück, ihre Zahnbürste, das Buch, das sie gerade las. Sie kam mit einem großen Koffer die Treppe herunter, den sie mit beiden Händen hinter sich herschleifte. Es war derselbe Koffer, den sie in die Flitterwochen mitgenommen hatte.
Nathan stand ans Treppengeländer gelehnt in der Diele. Er rieb sich das stoppelige Kinn.
Er sagte noch einmal »Es tut mir leid.«
Sie konnte nicht antworten. Sie sah ihn an, hob dann den Koffer hoch und ging zur Tür, wobei sie sich wegen des Gewichts ganz auf eine Seite lehnte. Sie hievte den Koffer in den Kofferraum ihres Autos. Sie setzte sich ans Steuer. Sie blieb eine Weile dort sitzen und blickte auf ihren Schoß. Nathan beobachtete sie vom Fenster aus. Dann startete sie den Motor und fuhr davon.
Er stellte sich vor, wie sie am leeren Grab vorbeifuhr, an den Bäumen, die bald herausgerissen werden würden.
Dann drehte er sich um, ging nach oben ins Bett und rollte sich zusammen und schlief ein. Die Bettwäsche roch nach ihr.