23

Bob betrachtete die Bilder lange.

Als er sich zu Nathan umdrehte, versagte seine Stimme beinahe.

»Was zur Hölle ist das denn?«

»Ich hab doch gesagt, du sollst nicht reinkommen.«

Bob ließ sich langsam an der Wand nach unten gleiten und setzte sich auf die gebeizten viktorianischen Dielen. Er sah falsch dort aus, wie eine optische Täuschung, wie eine Zeichnung, bei der die Perspektive und der Maßstab verändert worden waren.

Fingerspitzen strichen über Nathans Nackenhaare.

Im Wohnzimmer flimmerte der Fernseher, und Nathan hatte den Eindruck, dass die Lampen sich verdunkelten, flackerten und dann wieder heller wurden.

»Meine Frau kommt gleich nach Hause«, sagte Nathan.

»Ich muss mit dir reden.«

»Dann gib mir deine Nummer.«

Bob holte ein Notizbuch aus der Tasche. Damals hatte er aus einem ebensolchen Buch ein behelfsmäßiges Ouijabrett gemacht. Nun kritzelte er mit zitternder Hand eine Nummer hinein, riss die Seite heraus, gab sie Nathan.

»Du musst mich anrufen.«

»Mach ich. Aber jetzt verpiss dich endlich.«

Der Strahl herankommender Scheinwerfer tauchte sie in gelbes Licht. Sie waren wie versteinert. Sie hörten die Geräusche eines parkenden Wagens, der sich in eine enge Lücke zwängte.

»O nein«, stöhnte Nathan.

»Ist das deine Frau?«

Nathan folgte Bobs Blick und begann zu verstehen. Bob hatte angenommen, er löge. Bob dachte, dass Nathan allein lebte, umgeben von gestohlenen Bildern eines Mädchens, das sie vor gut zehn Jahren heimlich mit dem Gesicht nach unten vergraben hatten.

Und jetzt war Bob verwirrt. Was für eine Frau erlaubte ihrem Mann, so viele Fotos von einem vermissten Mädchen aufzuhängen, einem Mädchen, das nie nach Hause kam?

Nathan spürte heftiges Mitleid in sich auflodern.

Dann hörte er, wie Holly näher kam: das Zuschlagen einer Autotür, das leise Piepsen der Funk-Zentralverriegelung, das Klimpern der Schlüssel.

Holly hielt ihre dicke Schlüsselkette immer fest in der Faust, wenn sie nachts draußen war. In dem Selbstverteidigungskurs, den sie in der Stadt besuchte hatte, bevor sie Judostunden nahm, hatte sie gelernt, dass Schlüssel eine hervorragende erste Waffe waren: Man konnte sie dem Angreifer in die Augen rammen, ihm damit das Gesicht zerkratzen.

Holly trug außerdem Pfefferspray in der Handtasche. In ihrem Schlafzimmer lag eine Elektroschockpistole, die Nathan auf Hollys Drängen hin voller Angst im Eurostar von Paris nach Hause geschmuggelt hatte.

Holly fürchtete sich vor Fremden.

Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Inzwischen war Nathan der Gedanke gekommen, dass Bob und er in die Küche hätten eilen und etwas Normales tun sollen …

… aber sie standen einfach nur in der Diele und warteten darauf, dass Holly die Tür aufmachte. Sie trug einen Regen-Trenchcoat und indigofarbene Jeans. Ihr Haar war von der feuchten Luft kraus geworden. Über ihrer Schulter hingen eine Laptoptasche, ein voll gestopfter Aktenkoffer und eine Handtasche. Dadurch war ihr Gang zu einer Seite geneigt wie bei einem Betrunkenen im Varieté.

Sie sah Bob und sagte: »Oh, hallo.«

»Hallo«, sagte Bob und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Bob.«

Nathan musste zusehen, wie er seine Frau berührte.

»Holly.«

»Freut mich.«

Sie stellte die Taschen neben dem Telefon ab und schloss die Tür.

»Bob ist ein alter Freund von mir«, erklärte Nathan. »Aus meiner Studienzeit.«

»Ach so«, sagte Holly. »Okay.«

»Er hat mich nie erwähnt, oder?«, fragte Bob.

Holly schob sich verlegen eine nasse Locke aus der Stirn. »Tut mir leid. Nicht, dass ich wüsste. Er spricht nicht viel von alten Zeiten.«

»Na ja«, meinte Bob, »sie waren auch nicht besonders lustig.«

Holly nickte. Sie warf Nathan einen Blick zu, in dem ein großes, helles, an ihn gerichtetes Fragezeichen leuchtete.

»Jedenfalls«, sagte Nathan, »ist Bob kurz vorbeigekommen.«

»Okay«, meinte Holly.

»Aber er wollte gerade gehen. Also …«

Bob versuchte erfolglos, die Fotos von Elise zu ignorieren. Nathan klopfte ihm brüderlich auf die Schulter, um zu sagen: verpiss dich.

»Ja dann«, meinte Bob. »Hat mich gefreut.«

»Mich auch.«

Nathan drückte sich an Holly vorbei, um die Haustür aufzumachen. Der Regen wehte herein.

»Bis dann, Alter. Ich ruf dich an.«

Die Diele war eng. Holly musste drei Treppenstufen nach oben gehen, um Bob vorbeizulassen. Er blieb im Türrahmen stehen, drehte sich zu ihr um und sagte: »Frauenprobleme.«

»Verstehe«, antwortete Holly.

»Was soll man machen«, meinte Bob und zu Nathan gewandt mimte er das Abheben eines Telefonhörers und Wählen einer Nummer. Nathan nickte einmal kurz und bleckte wütend die Zähne. Dann schloss er hinter ihm die Tür.

Holly setzte sich auf die Treppe. Sie trug noch immer ihren Mantel. Eine nasse Haarsträhne kitzelte sie an der Nase, und ihr Make-up war ein wenig verlaufen. »Wer war das denn?«, fragte sie.

»Das war Bob.«

Sie spielte mit etwas auf ihrem Schoß herum, einem nassen Haargummi. Sie drückte es zusammen und zog es wieder auseinander und ließ es durch ihre Finger gleiten.

»Ja, klar war das Bob. Das hat Bob mir gesagt. Aber wer zum Teufel ist Bob?«

»So ein Typ eben.«

»Er stinkt

Das war Nathan nicht aufgefallen.

»Nach Gemüse. Ich weiß auch nicht. Nach verfaulten Tomaten oder so was.« Sie verzog angewidert das Gesicht und streifte sich dann das Haargummi übers Handgelenk.

»Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«

Endlich stand sie auf, zog den Mantel aus und hängte ihn über den Pfosten des Geländers. Sie massierte sich den Nacken.

»Ich glaube, ich brauch’ was Alkoholisches.«

Er folgte ihr in die Küche, wo sie eine Flasche Wein aufmachte. Nathan brauchte dringend einen Drink. Aber er glaubte, es wäre gefährlich, jetzt mit dem Trinken anzufangen.

Stattdessen öffnete er die Krimskrams-Schublade in der Küche und holte ein noch originalverpacktes Zigarettenpäckchen heraus, das er für Notfälle dort lagerte, und machte es auf. Holly sagte nichts dazu. Sie öffnete nur das Küchenfenster, um den Geruch hinauszulassen. Er stellte sich vor das offene Fenster, zündete sich eine Zigarette an und blies eine Rauchfahne hinaus.

»Also, wer ist er?«

»Ein Typ eben.«

»Ja, aber was für ein Typ?«

»Keine Ahnung. Er ist eigentlich der Freund von einem Freund. Er war ein Kumpel von Pete.«

»Pete, der Popstar?«

»Ja. Aber Popstar würde ich ihn nicht gerade nennen.«

»Und was will er hier?«

»Um ehrlich zu sein, hab ich das auch nicht verstanden. Ich meine, er ist einfach so aufgetaucht. Ich weiß nicht mal, woher er meine Nummer hat. Ich habe keinen Kontakt mehr zu den Leuten von damals.«

»Und …?«

»Ich wollte ihn einfach loswerden.«

»Irgendwas stimmt mit ihm nicht. War er auf Drogen oder so? Er sah aus, als hätte er geweint.«

»Ich glaube, er hat Probleme. Du weißt schon. Psychische. Vielleicht nimmt er Medikamente.«

»Meine Güte.«

Er umklammerte die Ecke der Arbeitsplatte und drückte fest zu.

»Du Armer«, lachte sie. Sie umarmte ihn von hinten, schmiegte ihren nassen, duftenden Kopf an seine Halsbeuge. Er konnte Shampoo und Regen riechen, den schwachen Gestank der Umweltverschmutzung. Sie kniff ihn in den Hintern und gab ihm einen Klaps. »Und was hast du jetzt vor?«

»Ich hab versprochen, mit ihm was trinken zu gehen. Ist das in Ordnung?«

Sie knabberte an seinem Hals. »Klar ist das in Ordnung. Ich wünschte, du würdest öfter mal weggehen, das weißt du. Es ist nur schade, dass dein Sozialleben ausgerechnet mit diesem seltsamen Bob beginnen muss.«

Sie verschränkte die Hände vor der Wölbung seines Bauches. Er war nicht mehr so schlank wie früher. »Tut mir leid. Ist es gemein, so was zu sagen?«

Er tätschelte ihre Handrücken – ein Zeichen, dass sie ihn loslassen sollte. Sie trat einen Schritt zurück und er drehte sich zu ihr um.

»Natürlich nicht. Glaubst du etwa, ich will gerne mit jemandem was trinken gehen, der nach verfaulten Tomaten riecht?«

Sie griff nach ihrem Weinglas.

»Du Armer.«

Er wollte gerade nach oben gehen, als Holly fragte: »Wer ist das Mädchen?«

»Welches Mädchen?«

»Er hat doch gesagt, er hat Probleme mit einer Frau.«

»Ich weiß nicht. Das hat er mir auch nicht verraten.«

»Armer Kerl.«

»Armer Kerl? Gerade eben klang das noch ganz anders.«

»Ich weiß auch nicht. Er muss einsam sein. Wenn er mit seinen Problemen zu dir kommt, obwohl ihr euch fast gar nicht kennt.«

Nathan grunzte vieldeutig und gestikulierte so übertrieben mit den Händen wie ein Hollywood-Mafioso.

Dann ging er an Elises Fotos in der Diele vorbei, die Treppe hinauf und vorbei an Elises Fotos auf dem oberen Treppenabsatz. Er betrat das obere Badezimmer und schaltete das Licht ein. Er schloss die Tür ab und stürzte zur Toilette und übergab sich ausgiebig, aber beinahe lautlos. Er spuckte, bis nur noch grüne Galle herauskam und etwas, das aussah wie Blutstropfen.