29
»Hallo«, meldete sich Bob.
»Einen Moment«, sagte Nathan und hielt die Hand über die Sprechmuschel. Er beugte sich vor und drückte die Bürotür zu.
»Wie geht’s? Wie läuft’s mit der Recherche?«
»Nicht gut.«
»Dein Befinden oder die Recherche?«
»Beides. Wir stecken in Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?
»Ich kann jetzt nicht reden. Kannst du herkommen?«
»Ich komme, so schnell ich kann.«
Er legte den Hörer auf und sah in seinen Terminkalender. Er hatte um halb drei eine Sitzung. Er sagte Angela, dass er früh mittagessen wollte – es war halb zwölf –, griff nach seinem Mantel und ging geradewegs zum Ausgang. Draußen wollten die Taxis nicht stehen bleiben. Er stand lange an der Ecke und versuchte welche anzuhalten, die schon besetzt waren. Seine Krawatte flatterte wie eine Fahne über seine Schulter.
Endlich hielt ein Taxi an. Aber alle Ampeln unterwegs sprangen auf Rot. Er brauchte fünfundvierzig Minuten.
Bob kam mit struppigem Bart und leerem Blick zur Tür. Über seiner Jeans und dem T-Shirt trug er einen schäbigen, schmuddeligen, rosafarbenen Chenille-Bademantel, der aussah, als hätte er einmal einer Frau gehört. Er roch schlecht, wie Milch, die an einem Julitag zu lange auf dem Fensterbrett gestanden hatte.
Nathan folgte ihm nach unten. Das Wohnschlafzimmer war diesmal noch verwüsteter. Improvisierte Aschenbecher standen auf den Tischen, in den Bücherregalen und in der Kochnische, auf dem Fensterbrett und auf den Lehnen aller drei Sofas, neben den Computern und neben dem Tonbandgerät. Alle quollen über.
»Was ist los?«, fragte Nathan.
Bob zündete sich eine Zigarette an. Seine Hand zitterte.
»Ich möchte, dass du dich hinsetzt und dir etwas anhörst.«
Nathan zog sich die Hosenbeine hoch und setzte sich.
Bob ging zum Tonbandgerät. Während er es mit der Hand mehrere Zentimeter zurückspulte, sagte er: »Achtung, das wird jetzt ziemlich laut. Ich erklär’ dir gleich, warum.«
»Was ist es denn?«
»Hör es dir einfach an.«
Bob drückte auf Play.
Er hatte das Tonbandgerät an zwei auf dem Boden stehende Lautsprecher angeschlossen. Aus ihnen dröhnte ein unangenehmes weißes Rauschen, als hätte man die Störgeräusche eines unprogrammierten Fernsehers auf volle Lautstärke aufgedreht. Nathan sah Bob mit verwirrtem, schmerzverzerrtem Gesicht an.
Bob drückte auf Stop.
Die Stille war plötzlich und vollkommen.
Nathan rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Und was soll ich da hören?«
»Vielleicht musst du es mehrmals hören. Das ist meistens so.«
»Was soll ich denn mehrmals hören?«
Wieder spulte Bob das Gerät von Hand zurück. »Versuch, dir die Hintergrundgeräusche wegzudenken.«
Bob drückte wieder auf Play.
Dasselbe raue Störgeräusch.
Dann, erstickt und undeutlich, so etwas wie eine Stimme. Sie sprach leise und sehr kurz. Als es vorbei war, zweifelte Nathan daran, dass er überhaupt etwas gehört hatte.
Bob hielt das Band an.
»Du hast es gehört.«
»Was soll ich gehört haben?«
Bob spielte das Band noch einmal ab.
Beim dritten Hören erklang etwas hinter dem weißen Rauschen, wie wenn jemand durch eine Hotelwand murmelte.
»Also«, fragte Nathan in die schallende Stille, die darauf folgte, »was soll das sein? Spricht da jemand?«
»Ich weiß nicht, ob da jemand spricht. Aber es ist eine Stimme.«
Nathans Handflächen waren nass.
»Wessen Stimme?«
»Die von Elise.«
Nathan lachte. Sein Mund war taub.
»Und was glaubst du, was sie sagt?«
Bob schluckte.
»Ich glaube, sie sagt: ›Ich bin am Leben‹.«
Zwischen ihnen herrschte lange Schweigen.
Nathan sagte: »Du spinnst.«
»So was nennt sich ESP«, erklärte Bob. »Elektronisches Stimmenphänomen. Ich untersuche das schon seit Jahren. Man lässt in einem leeren Raum ein Tonband laufen. Man versichert sich, dass es von Hörfunkwellen abgeschirmt ist und so weiter und so fort, man stellt ihm eine Frage. Man geht weg. Dann kommt man zurück und hat Stimmen auf dem Band.«
»Was für Stimmen?«
»Die der Toten.«
»Sonst noch was?«, fragte Nathan und begann zu lachen. »Also wirklich, Bob«, meinte er.
Bob wartete, bis Nathans Lachanfall vorüber war.
»Spiel es noch mal ab«, bat Nathan.
Bob spielte es noch einmal ab.
Dieses Mal hörte Nathan ein klares Muster hinter dem wogenden, ozeanischen Brausen.
Es war der Klang einer menschlichen Stimme. Es war eine Frau.
Sie sagte: »Ich bin am Leben.«
Oder vielleicht auch: »Ich bin mal eben …«
Nathan schrie über den Lärm: »Das ist bestimmt was aus dem Radio. Oder deine Nachbarin. Oder jemand, der am Haus vorbeigeht.«
Bob drückte auf Stop.
»Diese Möglichkeiten habe ich ausgeschlossen.«
»Wie?«
»Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue. Ich mach das jetzt schon seit zwanzig Jahren.«
»Na und? Ist das die erste Stimme, die du hörst?«
Bob griff unter den Tisch und zog einen alten, blauen Koffer hervor, dessen Farbe an den Ecken abgewetzt war. Er machte ihn auf. Er war voll mit Tonbändern.
»Auf jedem davon sind Stimmen, manchmal Dutzende. Ich habe auch mehrere Stunden Material auf den Festplatten dieser Computer archiviert. Sie sagen allen möglichen Scheiß – genau wie beim Ouijabrett. Gerade das macht es so spannend. Sie klingen verwirrt, losgelöst. Vielleicht nicht mal bewusst. Also nein, Nathan, das ist nicht meine erste Stimme. Aber es ist die erste Stimme, die ich je erkannt habe.«
Nathan spürte etwas in sich aufsteigen. Er sagte: »Du kannst sie nicht erkannt haben. Du hast sie nur einen Abend lang gesehen, und das ist Jahre her. Zehn Jahre! Und du hattest getrunken. Und Kokain geschnupft.«
»Hör es dir noch mal an.«
Nathan wollte es nicht hören. Aber das wollte er nicht zugeben. Also ließ er es noch einmal über sich ergehen.
Ich bin am Leben.
»Es kommt noch mehr«, sagte Bob. »Warte.«
Er spulte dasselbe Band vor. Nathan gelang es inzwischen, die Störgeräusche auszublenden, oder vielleicht auch, Ordnung hineinzubringen. Dieses Mal hörte er die Stimme einer Frau ziemlich deutlich, aber wie aus großer Entfernung rufen:
Bob! Ich bin hier!
Nathan stand auf.
»Mach das Scheißding aus.«
Bob drückte die Stop-Taste.
»Es kommt noch mehr.«
»Ich mein das ernst. Mach das Scheißding aus.«
»Willst du nicht hören, was sie sagt?«
»Sie sagt gar nichts. Es ist … ich weiß nicht, was es ist. Aber eins ist es sicher nicht: Es ist nicht Elise. Okay. Verdammt noch mal. Jetzt reiß dich zusammen.«
»Ich glaube, du solltest dich beruhigen«, sagte Bob gelassen.
Nathans Beine zitterten. »Wenn du den Finger noch mal auf den Scheißknopf legst, schlag ich es kaputt, das schwör ich dir. Hörst du, Bob? Fass das Ding nicht noch mal an.«
Bob seufzte. Er ließ sich auf den Bürostuhl fallen.
»Normalerweise gibt es nicht nur eine Stimme. Manchmal sind es drei oder vier. Manchmal ein halbes Dutzend. Manchmal sind es zwanzig. Zwanzig verschiedene Stimmen. Sie sind launisch und sarkastisch. Manchmal sprechen sie unterschiedlich schnell. Manchmal reden sie Blödsinn. Aber auf diesem Band, diesem ganzen Band, gibt es nur eine einzige Stimme.«
»Halt die Klappe«, sagte Nathan.
»Was machen wir jetzt?«
»Ich mein das ernst. Halt dein verdammtes Maul.«
Bob drückte auf Play. Nathan hörte es ganz deutlich. Eine junge Frau, klar und unmissverständlich hinter dem Tosen, wie jemand, der von einer Klippe am Meer herunterruft.
Bob! Ich bin hier!
Nathan wartete, bis er seine Stimme einigermaßen unter Kontrolle hatte, und sagte dann: »Bob, wenn du dich nicht zusammenreißt, wird alles auffliegen. Verstehst du?«
»Mach dir nichts vor.«
»Was mach ich mir vor?«
»Dass das nicht sie ist.«
»Ach, fick dich doch.«
Nathan rannte, noch bevor er an der Apartmenttür angekommen war. Er hastete die Treppe hoch auf die Straße. Er keuchte und schnaufte und hatte Seitenstechen, als endlich ein Taxi stehen blieb und ihn zurück zur Arbeit brachte.
Er ließ die Besprechung über sich ergehen, ohne sich daran zu beteiligen. Als sie vorbei war, lud Justin ihn wie üblich zu einer Nachmittagssitzung im Cricketer’s Arms ein.
Nathan sagte zu.
Sie setzten sich in den Pub. Er war fast leer. Ein hagerer, frühzeitig gealterter Barmann mit babyweichem Haar brachte ihnen die Getränke an den Tisch, da Justin ein wertvoller Stammkunde war, der immer lange blieb. Nathan bestellte sich einen doppelten Whisky zu seinem Lagerbier. Als die Getränke kamen, trank er den Whisky auf ex und bestellte gleich noch einen.
Justin legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Was ist los?«
Nathan nippte an seinem Bier. »Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?«
Justin tat, als würde er nachdenken. »Ich war mal Trauzeuge bei einem alten Schulfreund. Ich hab die Braut in der Nacht vor der Hochzeit gevögelt.«
»Das ist ziemlich übel«, meinte Nathan ungläubig.
»Und an dem Morgen hab ich sie auch gevögelt. Sie trug ihre Brautunterwäsche, und ihr Kleid war auf dem Bett ausgebreitet. So ein richtiges Tortenkleid. Ein weißes.«
»Hat man dich erwischt?«
»Nein. Keine Sorge. Ich hatte am selben Tag auch noch die Mutter der Braut, direkt nach den Reden. Ich fand sie nicht besonders toll. Es ging um den Kick, verstehst du?«
Nathan nahm einen großen Schluck Bier. »Also kann man etwas tun, was man bereut, und ungestraft davonkommen.«
»Wenn man es elegant genug macht, wird es nie jemand erfahren.«
Nathan blickte ihn eher traurig als skeptisch an. Er wusste zufällig, dass Justin seit vielen Jahren impotent war. Er wusste es, weil Justins Frau seine Impotenz als Vorwand benutzt hatte, um sich an mehrere Mitarbeiter heranzumachen – einmal auch an Nathan. Zwei oder drei waren ihrer Aufforderung auf den Rückbänken von Firmen-Mondeos oder in den Toiletten einiger Weinbars bereitwillig nachgekommen. Nathan nicht.
Justin kam nie ungestraft davon. Das glaubte er nur. Und dennoch war Justin hier. Noch immer hier, lange nachdem er hätte gehen sollen.
»Und«, fragte Nathan, »was ist dein Geheimnis?«
»Schlaf nie mit jemandem, der weniger zu verlieren hat als du selbst.«
Nathan dachte über diese Weisheit nach, trank dann sein Glas aus und hob die Hand, um noch eins zu bestellen.
»Also, wer ist sie?«, fragte Justin.
»Wer ist wer?«
»Dein schmutziges Geheimnis.«
»Niemand.«
»Mir kannst du es sagen. Du weißt doch, wie gut ich Geheimnisse bewahren kann.«
Nathan wusste das allzu gut.
»Es geht nicht um so was.«
»Es geht immer um so was. Das ist menschlich.«
Sie blieben stundenlang im Pub. Justin schien es für einen besonderen Anlass zu halten, und nach dem vierten Bier bestellte er eine Flasche Champagner.
Er sprach lange über Bürointrigen. Und er fragte immer wieder, wer sie war. Nathan blieb dabei, dass sie niemand war.
Als Nathan zu Hause ankam, war er betrunken. Holly saß im Bett und schaute fern. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er umfiel, als er versuchte, sich die Hose auszuziehen. Als er sich übers Bett beugte, um ihr einen Kuss zu geben, drehte sie sich weg. Sie stand auf und ging ins Bad, und als sie zurückkam, trug sie ein Nachthemd.
Wie immer, wenn er etwas getrunken hatte, wachte er in den frühen Morgenstunden auf, weil er dringend pinkeln musste. Diemal jedoch blieb er zusammengerollt auf der Seite liegen, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen.
Am Morgen sagte er: »Es tut mir leid.«
»Ach, vergiss es«, antwortete sie und stapfte nach unten. Auf halbem Weg blieb sie stehen und fügte hinzu: »Du hättest anrufen können.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Es ist mir egal, was du machst. Ich will nur wissen, dass es dir gut geht. Ich will einfach nur deine Stimme hören.«
Nathan setzte sich aufs Bett. Seine Kleidung von gestern lag auf einem Haufen daneben und stanken nach Rauch und Bier. Er hätte sie am liebsten verbrannt.