35

Nathan kniete vor der Toilette und schüttelte sich wie ein kranker Hund.

Holly kam herein. Sie war oben ohne und trug eine glänzende Pyjamahose, die mit Schwalben und Brombeeren und zarten Frühlingsblumen gemustert war. Ihr Haar war zerzaust. Es war sechs Uhr morgens.

Sie setzte sich auf den Wannenrand und stütze sich seitlich mit den Händen darauf ab. Wartete, bis Nathan die Spülung zog, sich dann umdrehte und sich mit dem Rücken an die kalte Porzellantoilette gelehnt auf den Fliesenboden setzte.

»Habe ich dich geweckt?«, fragte er.

»Kommt das vom Alkohol?«

»Nein.«

»Bist du krank?«

»Nein.«

Sie wurde weicher. »Was ist es dann?«

»Keine Ahnung. Stress.«

Sie streckte einen nackten Fuß aus und gab ihm einen liebevollen Stups. Er nahm den Fuß in die Hand. Er hätte die weiche, zarte Fußsohle geküsst, wenn sein Mund nicht so ranzig gerochen hätte.

Sie sagte: »Lass das, ich muss mir die Nägel machen.«

»Deine Nägel sind gut so.«

Noch immer auf dem Wannenrand sitzend, schlug sie die Beine übereinander und hob einen Fuß bis auf wenige Zentimeter vor ihr Gesicht hoch. Schnell und geübt inspizierte sie den Nagellack, Zeh um Zeh, und ließ dann ihren Fuß los.

Sie sagte: »Du bist völlig fertig, oder? Und niemand weiß davon. Niemand weiß, wie fertig du bist, nicht mal ich.«

»Das stimmt nicht.«

»Sieh dich doch an.«

»Mir geht’s gut.«

»Klar.«

»Wirklich.«

»Willst du’s mir sagen?«

»Was soll ich dir sagen?«

»Was los ist.«

»Ja.«

»Heute? Jetzt?«

»Ich kann nicht.«

»Ich bin deine Frau.«

»Ich weiß.«

»Ich bin deine Freundin.«

»Ich weiß.«

»Du glaubst, du schläfst nicht. Aber du schläfst. Du machst Geräusche.«

»Tut mir leid. Das ist keine Absicht.«

»Es muss dir nicht leid tun. Was ist dein Problem? Wovon träumst du?«

»Ich werde es dir sagen.«

»Wann?«

»Wenn ich es gelöst habe.«

»Wann wird das sein?«

»Bald. Heute.«

Sie dachte darüber nach. »Wir könnten uns einen Tag freinehmen«, schlug sie vor. »Einen Film sehen. Nach London fahren. Vielleicht in den Zoo gehen. Einen Tagesausflug machen. Ans Meer fahren.«

Er fing an zu weinen, weil sie sich Sorgen machte.

Er schluchzte auf seine Knie. Er sagte: »Es tut mir so leid, es tut mir so leid.«

Sie kletterte vom Wannenrand herunter und nahm ihn in die Arme. Ihre Brüste drückten sich an ihn. Ihr Schlafatem kam ihm süß vor, der herbe Duft, der nur ihr gehörte. Seine Tränen benetzten die weiche Haut auf ihrer Schulter, das zarte, starke Schlüsselbein.

Sie wiegte ihn und sagte: »Es muss dir nicht leid tun. Es muss dir nicht leid tun. Es muss dir nicht leid tun.«

Nathan nahm sich den Vormittag frei. Bob und er trafen sich in einem Dorf namens Woolhope Ashbury. Sie gingen die Hauptstraße entlang. Die Leute waren alt, langsam, pensioniert.

Am Ortsrand stand eine normannische Kirche: grauer Stein, einfache Geometrie. Nathan und Bob schlenderten über den Friedhof. Die Grabsteine standen in schiefen Winkeln zueinander und waren mit grünen Flechten bewachsen und verwittert. Sämtliche Namen waren davon verschwunden. Sie wanderten umher wie Hobbyhistoriker aus der Umgebung.

Nathan murmelte: »Wissen wir überhaupt, ob sie Christin war?«

»Das spielt keine Rolle.«

»Dir scheint es ja wichtig zu sein.«

»Gar nicht. Schau mal da rüber.«

Er zeigte auf eine Eibe, die in einer Ecke des Kirchhofs stand. Ein altes, scheußliches Ding. Vier Leute hätten sie mit ausgestreckten Armen nicht umfassen können.

»Der Baum ist tausend Jahre alt. Und ein anderer tausendjähriger Baum wird vor ihm auf demselben Grund gestanden haben. Diese Kirche wurde auf ein Stück Land gebaut, das den Druiden heilig war. Nicht die Kirche ist heilig. Sondern die Erde selbst. Man kann es spüren. Wie eine elektrische Ladung.«

Nathan spürte gar nichts, außer, dass er Durst hatte.

»Der Boden heiligt das Gebäude. Nicht andersherum«, erklärte Bob.

»Schön. Dann kommen wir eben hierher. Mit deinem Auto, nicht mit meinem.«

»Warum mit meinem?«

»Firmenwagen. Ich kann’s nicht verkaufen.«

»Na gut. Dann nehmen wir eben meins.«

»Wir lassen Elise hier. Lassen den Zettel …«

Bob zeigte auf die vernagelte, eisenbeschlagene Flügeltür, die im neunzehnten Jahrhundert restauriert und nun von der Zeit glatt poliert worden war.

»… genau dort.«

»Und damit ist es erledigt?«

»Das hoffe ich.«

Auf dem Weg zur Arbeit rief Nathan Jacki Hadley an.

»Nathan? Was ist los? Geht es um Holly?«

»Nein. Nein, es geht nicht um Holly.«

»Geht es ihr gut?«

»Ja. Sie weiß nicht mal, dass ich anrufe.«

»Okay.«

»Können wir reden?«

Er traf sie in einer Polizistenkneipe nicht weit von der Wache. Ein paar stämmige Männer saßen an der Bar. Ein Spielautomat blinkte in der hinteren Ecke. Nathan bezahlte die Getränke: zweimal Cola mit Eis und einer schlaffen Zitronenscheibe.

»Also«, fragte Jacki, »was ist los?«

»Was los ist … ich habe dich angelogen.«

»Wann hast du mich angelogen?«

»Als du mich befragt hast.«

»Worüber?«

»Über Elise.«

Vor seinen Augen wurde sie zu einer Polizistin.

Sie wartete.

Schließlich begann Nathan: »Bob Morrow und ich … Bob Morrow ist der Mann, mit dem ich …«

»In jener Nacht zusammen war. Ich erinnere mich.«

»Also. Die Aussage, die ich gemacht habe. Sie war nicht ganz wahr.«

»In welcher Hinsicht?«

»Also …«

»Na los. Ist schon gut.«

»Also, ich habe gesagt, dass ich die Party verlassen habe …«

»Weil du deine Freundin mit Mark Derbyshire hast tanzen sehen und eifersüchtig wurdest. Deine Freundin Sarah Reed.«

»Sara. Daran erinnerst du dich?«

»Ja, daran erinnere ich mich.«

»Egal. Also was stimmt: Ich habe Sara mit Mark flirten sehen und bin rausgestürmt. Ich meine, ich hab den Kerl gehasst. Wirklich gehasst.«

»Und …?«

»Ich hab der Polizei gesagt, dass Bob auf dem Weg nach Hause war, als er mich am Straßenrand gesehen hat. Ich wollte nach Sutton Down laufen, um ein Taxi zu nehmen.«

Dabei schnaubte er verächtlich, denn Sutton Down war wirklich der letzte Ort der Welt, wo man so etwas finden konnte.

Jacki ergänzte: »Dann hält Bob an und nimmt dich mit. Ihr redet über die Liebe und das Leben. Er bringt dich zurück zur Party. Du streitest mit Sarah …«

»Sara.«

»Du versuchst, Mark Derbyshire eine reinzuhauen. Du fällst auf den Arsch. Bob hilft dir hoch und fährt dich nach Hause. Das stimmt also nicht?«

»Doch, in gewisser Weise schon.«

»Wie genau stimmt es?«

»Im Grunde stimmt es. Bob hat mich am Straßenrand gesehen. Er hat angehalten. Wir haben uns ein paar Lines reingezogen, geredet.«

»Über die Liebe und das Leben.«

»Genau.«

»Aber …?«

»Aber als er mich gesehen hat, fuhr er nicht von der Party weg. Er fuhr dorthin zurück.«

Sie registrierte das.

»Was hat er gesagt, wo er war?«

»In der Stadt. Um was zu beschaffen.«

»Um Drogen zu besorgen?«

»Kokain.«

»Und hatte er welches?«

»Er hatte jede Menge. Fünf, sechs Gramm. Die größte Menge Koks, die ich je gesehen habe. Und jetzt fuhr er zurück zur Party. Er war ziemlich stoned. Irgendwie aufgekratzt. Völlig neben der Spur.«

»Und warum hast du das nicht früher erwähnt?«

»Er hat mich gebeten, nichts zu sagen. Mich richtig angefleht.«

Am anderen Ende der Bar lachte die Gruppe der Polizisten plötzlich über irgendetwas. Jacki schaute zu ihnen hinüber – als hätte sie gehört, was sie gesagt hatten, und wäre nicht damit einverstanden. Dann wandte sie sich wieder Nathan zu.

»Und in deiner unendlichen Herzensgüte hast du es versprochen.«

»Es war so: Als Elise … als das passiert ist, rief Bob mich an.«

»Wann war das?«

»An dem Sonntag, oder vielleicht am Montag.«

»Weiter.«

»Wir haben darüber gesprochen, dass wir verhört werden würden – wir dachten, alle von der Party würden verhört werden. Also wussten wir, dass das mit den Drogen vielleicht rauskommt. Aber Bob ist anscheinend vorbestraft. Wegen Drogenhandel. Er hat als Jugendlicher ein bisschen Gras verkauft, um seinen Abschluss zu finanzieren.«

»Also hast du dich bereit erklärt zu sagen, dass das Koks dir gehört hat.«

»Ich wollte den armen Kerl nicht abrutschen sehen. Und … na ja, Mark Derbyshire war in allen Zeitungen. Ich dachte, ihr hättet euren Mann. Wir alle dachten, ihr hättet euren Mann. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen. Nie im Leben.«

»Und warum erzählst du mir das jetzt?«

»Wahrscheinlich ist es gar nichts.«

»Wenn du das glauben würdest, wärst du jetzt nicht hier.«

»Okay.«

Er versuchte, nicht damit herauszuplatzen – er wollte, dass Jacki dachte, er sage es ungern. Er fuhr fort: »Nach jener Nacht habe ich Bob Morrow nicht wiedergesehen. Um ehrlich zu sein, wollte ich das nicht. Er war mir irgendwie unheimlich.«

»Inwiefern?«

»Ich weiß auch nicht. Ich könnte es nicht benennen. Er war einfach – nicht normal, weißt du. Einfach nicht normal. Und außerdem habe ich nach der Party – nach der Sache mit Elise und allem – meinen Job verloren.«

»Wegen dem Wirbel um Mark Derbyshire.«

»Ja. Und Sara und ich haben uns getrennt. Ich hatte keine Wohnung. Ich wollte das Ganze einfach vergessen. Die Nacht war ein einziges Desaster. Verstehst du, was ich meine?«

Sie sagte, sie verstehe es.

»Und jetzt, vor ein paar Wochen, taucht Bob Morrow bei mir auf. Ich weiß nicht mal, woher er meine Adresse hatte.«

»Was wollte er?«

»Na ja, das ist ja das Komische. Er sagte, er will gar nichts. Er sagte, es wäre schön, sich zu unterhalten, was trinken zu gehen.«

»Aber du kennst ihn kaum?«

»Ich kenne ihn gar nicht. Wir waren nur zusammen auf dieser Party. Aber jetzt sagt er, er hat mit irgendeiner Freundin Schluss gemacht, er ist ein freier Mann. Du weißt ja, wie das ist. Also denke ich mir: Scheiße, was soll ich machen? Ich will ihn loswerden. Er ist jetzt eher noch schlimmer als damals. Er riecht ein bisschen. Ich bin nicht sicher, ob er arbeitet. Er sagt, er ist Forschungsassistent an der Uni, aber irgendwie scheint er nie dort zu sein.«

»Und?«

»Na ja, egal. Wir gehen was trinken. Und nach ein paar Bierchen – wo sind wir gewesen, was haben wir so gemacht – fängt er an, mich zu fragen, was das Schlimmste ist, was ich je getan habe.«

Er machte eine Pause, um einen großen Schluck Cola zu trinken. Er brauchte einen richtigen Drink, aber er wollte Jacki auch mit seiner wohl überlegten Nüchternheit beeindrucken.

»Ich hab gesagt … ach, ich weiß nicht mal mehr genau, was ich gesagt habe. Als Teenie ein Pornoheft aus der Sammlung meines Kumpels zu klauen. Die Club Celebrity Edition 1979. Mit Victoria Principal.«

Jacki lächelte und nickte. Aber das Lächeln gehörte nicht Jacki. Es gehörte der Polizistin, die ihn befragte.

Nathan fuhr fort: »Egal. Dann hat Bob angefangen, über Elise zu sprechen.«

»Elise Fox?«

»Ja, Elise Fox. Welche Elise sonst?«

»Nicht so laut. Was hat er gesagt?«

»Ob ich je an sie denke? Ob ich je von ihr träume?«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, klar. Ich hab sie zwar nie kennengelernt, aber sie hat mein ganzes Leben verändert.«

»Hast du ihm von Holly erzählt?«

»O Gott, nein.«

»Warum nicht?«

»Er war mir unheimlich. Ich hab immer wieder versucht, das Thema zu wechseln. Aber er ist immer wieder darauf zurückgekommen. Hat gefragt, ob ich an Gespenster glaube.«

»An Gespenster

»Ja, Gespenster.«

»Und habt ihr euch seither noch mal getroffen?«

»Ja, ein paar Mal.«

»Und?«

»Immer das Gleiche. Er ist echt total deprimiert. Trinkt viel. Völlig auf Elise fixiert. Ich hab mir irgendwie eingeredet, dass er einfach ein Freak ist. Vielleicht war für ihn auch alles schief gelaufen – nach der Party. Und er ist da nicht mehr rausgekommen. Klingt das blöd?«

»Gar nicht. Glaubst du das immer noch?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Na ja, ich kenn mich mit so was nicht aus. Aber ich hab angefangen, drüber nachzudenken. Dass Bob damals zurückkam – von wo auch immer. Es schien so unwichtig zu sein. Aber jetzt. Ach Gott. Ich weiß nicht. Glaubst du … du weißt schon.«

Sie antwortete nicht.

Er sagte: »Es ist mir peinlich, darüber zu sprechen.«

Draußen fuhr ein Bus vorbei. »Weißt du, was du da tust?«, fragte Jacki.

»Nein, überhaupt nicht.«

»Du setzt Räder in Bewegung. Sie mahlen erst langsam, aber wenn sie einmal in Fahrt sind, kann man sie nicht mehr stoppen. Wenn – wenn – es je so weit kommen sollte, dass Bob Morrow angeklagt wird, dann werden die Lügen in deiner Aussage eine große Rolle spielen. Das bedeutet, dass Holly erfährt, dass du auf Mark Derbyshires Party warst. Kommst du damit klar?«

»Was soll ich denn sonst machen?«

»Ich hab dir gesagt, dass dich das noch verfolgen würde. Ich hab es dir vor Jahren gesagt.«

»Was soll ich sagen? Du hattest recht.«

Sie nahm seine Hand, drückte sie einmal kurz und ließ dann los.

»Hast du vor, dich noch mal mit ihm zu treffen?«

»Heute Abend.«

»Dann mach das.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Du musst.«

»Soll ich eine Wanze oder so was tragen?«

Sie lachte darüber, eher mitleidig als spöttisch. »Ich bin nur … ich weiß auch nicht. Ich muss erst mal drüber nachdenken. Ich muss Bob Morrows Vorstrafenregister prüfen und seine Aussage noch mal durchgehen. Wahrscheinlich ist nichts dran an der Sache. Ich bin mir fast sicher, dass da nichts dran ist. Aber wenn doch – ein großes Wenn – dann will ich nicht, dass er durchdreht, weil du nicht gekommen bist. Also triff dich heute Abend mit ihm. Entschuldige dich, geh früh nach Hause. Aber geh hin. Wir reden morgen.«

»Ich weiß nicht, ob ich es aushalte, im selben Raum mit ihm zu sein.«

»Du musst. Für Holly. Falls was dran ist.«

Bevor sie die Kneipe verließ, schüttelte sie ihm die Hand.

Am Steuer seines Wagens erlitt er eine Angstattacke. Er glaubte, er würde sterben. Er umklammerte das Lenkrad. Er blieb im Halteverbot stehen und hörte Radio, bis der Anfall vorbei war.

Auf der Arbeit spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und ging dann zu der angesetzten Besprechung. Es wurden geheime Gespräche darüber geführt, die Großhändler zu wechseln.

Jedes Jahr wurden geheime Gespräche darüber geführt, die Großhändler zu wechseln. Der Großteil des betroffenen Personals, einschließlich Nathan, gab vor, das nicht zu merken.

Nach der Sitzung schüttelte Justin Nathan die Hand und gratulierte ihm. Nathan sagte, sie sollten bald wieder etwas trinken gehen.

Am späten Nachmittag gab es eine Marketingbesprechungs-Vorbesprechung. Er überstand sie und befasste sich danach mit einigen schwierigen Kundenanrufen. Um 18.15 Uhr prüfte er, ob er alles hatte. Er verabschiedete sich von allen im Büro – er wusste nicht, warum; das war nur an Weihnachten üblich. Dann ging er zu seinem Auto.