15

Holly rief ihn am Samstagmorgen zu Hause an. Sobald das Telefon klingelte, wusste er, dass sie es sein musste. Außer wenn es eine Krise bei der Arbeit gab, rief ihn nie jemand zu Hause an – und wenn es eine Krise bei der Arbeit gegeben hätte, hätte er das längst gewusst.

An jenem Morgen hatte es stark geregnet, aber vor einer halben Stunde war die Sonne herausgekommen, um die Pfützen auf dem leeren Spielplatz der Kindertagesstätte in Quecksilber zu verwandeln. Er telefonierte vom Bett aus und schaute dabei aus dem Fenster. Er trug Boxershorts und Socken und ein zerknittertes weißes T-Shirt, in dem er auch geschlafen hatte.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Nathan?«

»Ja.«

»Hier ist Holly, vom Maklerbüro Morris Michael.«

»Ich habe Sie an der Stimme erkannt.«

Eine Pause folgte – vielleicht hatte seine plötzliche Vertraulichkeit sie überrascht. Er hatte den Eindruck, dass ein Anflug von Freude in ihrem Schweigen mitschwang, aber er war sich nicht sicher. Vielleicht sah sie gerade auch einfach nur ihre Notizen durch, um sich in Erinnerung zu rufen, mit wem sie sprach. Oder vielleicht hatte ein Kollege ihr einen Post-it-Zettel mit einer wichtigen Telefonnummer gereicht.

Sie trafen sich bei einem weiteren von Mr. Hinsliffes Häusern. Nathan parkte direkt davor; der aufgeschlagene, völlig verknickte Stadtplan lag noch auf seinem Schoß. Holly wartete drinnen auf ihn. Als er anhielt, sah er ihr Gesicht im Fenster. Sie zog sich sofort zurück, und er begann zu zweifeln, ob er sie wirklich gesehen hatte.

Aber sie erwartete ihn in einem blaugrauen Trenchcoat, Schal und hohen Lederstiefeln an der Tür. Das Haus roch noch nach Holzleim.

Ich ziehe das jetzt durch, dachte er und schloss leise die Tür hinter sich.

Sie standen im leeren Wohnzimmer. »Es ist sehr schön hell«, bemerkte er.

»Es geht nach Süden.«

»Es gefällt mir.«

Er ging in die Küche. Sie ähnelte enorm den vorherigen.

»Aber diese Küchen überzeugen mich immer noch nicht.«

Sie ging in die Hocke, machte probehalber den Schrank unter der Spüle auf und sagte: »So sind Küchen, die Bauunternehmen einbauen. Sie kaufen sie billig ein, mit Mengenrabatt.«

Es freute ihn, dass sie ihm offensichtlich vertraute.

»Ich hoffe, die miesen Küchen werden dann auch beim Preis berücksichtigt«, sagte er.

»Natürlich. Es ist auch gar nicht so gedacht, dass sie lange halten. Sie sind eher ein – wie heißt das doch gleich? – ein Serviervorschlag. Möchten Sie die oberen Räume sehen?«

»Möchten Sie mit mir mittagessen?«

Eine unangenehme Pause folgte. Holly sah auf ihre Lederstiefel und presste die Lippen aufeinander, und er dachte, er hätte es vergeigt. Eine zweite Chance gab es nicht. Er konnte das nicht noch einmal durchstehen.

Dann fragte sie: »Worauf haben Sie Lust?«

»Sie sind die Maklerin. Sie kennen die Restaurants in der Gegend.«

»Dann fahren wir am besten in die Stadt, in Ordnung?«

Vor dem Haus wussten sie einem Moment lang nicht, mit welchem Auto sie fahren sollten. Schließlich nahmen sie ihres.

Holly schaltete das Radio ein und sagte: »Ich mag dieses Lied.«

Sie drehte es lauter. Smokey Robinson.

»Ich auch – ›I Second That Emotion‹«, sagte Nathan.

Sie sang leise mit und trommelte im Takt auf das Lenkrad. Sie wirkte nicht unglücklich.

Sie parkte vor einer Grundschule. Auf dem Parkplatz fand gerade ein Wohltätigkeits-Flohmarkt statt. Während sie die Autotüren zuschlugen, betrachteten sie die Familien, die sich dort versammelt hatten. Nathan schielte zu Holly hinüber, um zu sehen, ob ihre Augen etwas erkennen ließen. Aber er sah nichts. Er folgte ihr um die Ecke, vorbei an einem Feinkostladen, einem Kiosk und einem algerischen Café. Sie betraten eine Tapasbar. Drinnen zog sie den Mantel aus. Sie setzten sich, und er bot ihr eine Zigarette an.

»Nein danke. Aber rauchen Sie ruhig.«

»Stört es Sie?«

»Nein, überhaupt nicht. Rauchen Sie ruhig. Ich versuche, den Rauch einzuatmen.«

Er wollte das Päckchen gerade wieder einzustecken, als sie sagte: »Wirklich. Ich würde es sagen, wenn es mich stören würde.« Während sie ihren Schal abnahm, fügte sie hinzu: »Ehrlich gesagt würde ich liebend gern mitrauchen. Ich habe erst zu Silvester aufgehört.«

»Ich hab auch mal zwei Jahre lang nicht geraucht.«

»Zwei Jahre? Warum haben Sie dann wieder angefangen?«

»Ach, das Übliche. Stress eben.«

»Davon kann ich ein Lied singen.«

»Ist Immobilienmaklerin so ein stressiger Beruf?«

»Ich bin eigentlich keine Immobilienmaklerin. Ich meine, es ist nicht mein Traumberuf oder so.«

»Seit wann machen Sie das denn?«

»Ach, keine Ahnung. Zwei Jahre? Drei Jahre.«

»Und wie sind Sie dazu gekommen?«

»Es hat sich einfach so ergeben. Das Leben …« Sie flatterte mit einer Hand wie ein Vogel und fragte dann: »Was ist mit Ihnen? Seit wann arbeiten Sie als …?«

»Verkaufsleiter.«

»Stimmt. Und was verkaufen Sie noch mal?«

»Grußkarten.«

»Ja, stimmt.«

»Es ist nicht so langweilig, wie es sich anhört.«

Sie knabberte an einer Salzstange.

»Na gut«, sagte er. »Es ist ziemlich langweilig.«

»Seit wann machen Sie das?«

»Seit vier Jahren.«

Der Kaffee kam. Er nahm einen Schluck, zündete sich noch eine Zigarette an. Holly fragte: »Sind Sie einer von diesen Geschäftsmännern, die bei Stress erst richtig aufblühen? Jede Menge Kaffee, jede Menge Zigaretten …«

»Nicht wirklich. Ich bin eigentlich kein geborener Geschäftsmann. Ich mache das nur, um Geld zu verdienen.«

»Also: Ich bin keine geborene Immobilienmaklerin, und Sie sind kein geborener Geschäftsmann.«

»Ich glaube, Sie sind wahrscheinlich eine sehr gute Immobilienmaklerin.«

Sie lachte, plötzlich, laut und heiser. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund, als sei sie über sich selbst erstaunt, und sah sich nach links und rechts um.

»Tut mir leid.«

»Kein Problem.«

Sie überspielte ihre plötzliche Röte mit der Frage: »Wenn ich wirklich so gut bin, heißt das, dass Sie mir ein Haus abkaufen?«

»Vielleicht. Wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen.«

»Ich glaube, Sie sind wahrscheinlich ein sehr guter Geschäftsmann.«

Das Essen kam. Sie aß mit der Gabel in der rechten Hand, nach amerikanischer Sitte.

Sie beugte sich hinüber, um ihm eine Pommes zu klauen, auf der sie dann grinsend herumkaute.

Dann strich sie sich das Haar aus den Augen und wurde still.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie antwortete lange nicht, stocherte nur in ihrem Essen herum, nahm einen kleinen Bissen und tupfte sich mit einer Serviette die Mundwinkel ab.

Er sagte: »Holly, es muss Ihnen nicht peinlich sein, dass Sie gelacht haben.«

Ihr langes Schweigen wurde noch durchdringender. Dann legte sie das Besteck nieder und sah ihn an.

»Warum sagen Sie das?«

»Einfach so.«

Sie sah ihn weiter an, als hätte sie eine Vermutung, dass sie sich von früher kannten, von vor langer Zeit.

Sie überzogen die Mittagspause um eine halbe Stunde.

Draußen sagte Nathan, er würde mit dem Taxi zum Haus zurückfahren, um sein Auto abzuholen. Sie dankte ihm. Nervös suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Sie ließ ihn auf den Gehsteig fallen.

Sie blieben vor ihrer Autotür stehen. Sie schloss sie mit einer schnellen Handbewegung auf, und es ertönte ein leiser, bestätigender Piepton.

Holly sagte: »Na dann. Danke fürs Essen.«

»Können wir das noch mal wiederholen? Wenn Sie weniger in Eile sind? Wenn Sie mehr Zeit haben?«

»Ich kann immer nur eine Stunde Mittagspause machen. Sie wissen ja, das macht sonst einen schlechten Eindruck.«

»Es muss ja nicht zu Mittag sein. Vielleicht am Abend?«

Sie dachte darüber nach.

»Am Abend wäre toll. Dann lade ich Sie ein.«

»Gut. Von mir aus. Schön.«

»Am Mittwoch?«

»Mittwoch ist super.«

»Rufen Sie mich an.«

»Mach ich.« Er machte das Zeichen mit der Hand und kam sich dabei wie ein Idiot vor. »Ich rufe Sie an.«

Dann stand er auf der Straße und sah zu, wie sie losfuhr: ruckartig, impulsiv, ziemlich draufgängerisch. Er blieb stehen, während ihr Auto an der Ampel wartete. Und er blieb stehen, als das Auto längst weg war, und schaute einfach auf den leeren Raum, den sie bis gerade eben ausgefüllt hatte.