30
An jenem Morgen lag ein schmuddeliger brauner Umschlag in Nathans Fach. Weil darauf mit roter Farbe PERSÖNLICH UND VERTRAULICH gekritzelt war, hatte Angela ihn nicht geöffnet, sondern ihn obenauf auf seine übrige interne und externe Post gelegt. Manchmal fühlten Leute sich durch eine von Hermes’ comicartigen, obszönen Grußkarten gekränkt. Die Beschwerden trafen oft in ähnlichen Umschlägen ein.
Er öffnete den Umschlag und entfaltete den Brief darin.
Lieber N,
natürlich verstehe ich deine Reaktion.
Hier sende ich dir einige Mitschriften weiterer Gespräche. Man hört stets nur eine einzige Stimme (1) auf dem Band. Ich möchte noch einmal betonen, wie ungewöhnlich das ist.
Band 1, Montag, 12 Uhr
Dauer: 17 Minuten
Bob, ich bin hier
du Bastard (Judenbastard?)
kalt hier
Band 1, Montag, 15.40 Uhr
Dauer: 9 Minuten
bin nicht angekommen
Bob!
Band 1, Dienstag, 19 Uhr
Dauer: 3 Minuten
meine Augen
meine Zähne
Band 1, Dienstag, 23.30 Uhr
Dauer: 1 Minute
o Gott
schrecklich
Die Bürotür ging auf. Nathan zuckte zusammen.
Es war Justin. Er lehnte mit verschränkten Armen in der Tür und gab sich Mühe, draufgängerisch und verkatert zu wirken. »Mann, du siehst übel aus.«
Nathan zerknüllte Bobs Brief mit einer Hand. »Dankeschön.«
»Das war wohl etwas viel für dich, was?« Er kam herein und schloss die Tür hinter sich. Seine parfümierte Körpermasse nahm einen großen Teil von Nathans kleinem Büro ein und der Geruch nach abgestandenem Alkohol und winzigen Pfefferminzbonbons und zu viel Issey Miyake war intim und abstoßend, wie auf überfüllten Flughafentoiletten. Nathan atmete durch den Mund.
»Wie in alten Zeiten«, meinte Justin.
»Hm.«
»Bevor sie dich an die Leine gelegt hat.«
»Sie hat mich nicht an die Leine gelegt.«
»Wie auch immer. Das sollten wir wiederholen.«
»Mhm.«
»Cool«, sagte Justin und verließ das Büro, ohne die Tür zu schließen. Nathan beugte sich vor, um sie zuzumachen, und rief dann Bob von seinem Bürotelefon aus an.
»Bob, ich bin’s …«
»Hast du’s bekommen?«
»Ja, ich hab’s bekommen. Was zum Teufel hast du dir bloß dabei gedacht?«
»Hast du’s gelesen?«
»Nein«, antwortete Nathan und schielte durch die Glaswand. Der neue Praktikant mit Hochschulabschluss stand unendlich gelangweilt am Kopierer. Alle paar Sekunden huschte ein Lichtstreifen über ihn.
Dann sagte Nathan: »Hör zu, Bob. Wir hatten viel Stress, okay? Ich meine, richtig viel Stress. Und Stress hat komische Auswirkungen. Stress ist gefährlich. Was du jetzt brauchst, ist Ruhe. Fahr ein paar Tage weg. Mach Urlaub.«
»Sag mir nicht, was ich tun soll. Du bist derjenige, der die Tatsachen leugnet.«
»Was für Tatsachen? Eine Stimme, die du auf einem leeren Band zu hören glaubst? Mein Gott, hast du auch nur den blassesten Schimmer, wie verrückt das klingt? Ich meine, auch nur die leiseste Ahnung?«
In der darauf folgenden Stille konnte Nathan Bob durch die Nasenlöcher atmen hören, bis er sagte: »Ich kenne mich mit so was aus.«
Nathan wollte sich eine Zigarette anzünden. Stattdessen massierte er sich mit Daumen und Mittelfinger die Schläfen und sprach sehr behutsam. »Okay. Wir werden uns darüber nicht einig. Niemals. Also beantworte mir eine Frage: Was für Auswirkungen hat das auf das restliche … Projekt?«
»Beziehst du dich auf das sichergestellte Material?«
»Ja, ich beziehe mich auf das sichergestellte Material.«
»Na ja, offensichtlich ändert das alles. Wir können es nicht einfach vernichten.«
Nathan stand so abrupt auf, dass das Telefon vom Schreibtisch fiel und sich an seiner Schnur hängend drehte.
»Und warum nicht?«
»Weil wir sie richtig begraben müssen.«
»Und wie sollen wir das deiner Meinung nach anfangen?«
»Keine Ahnung.«
»Bob, das ist völlig inakzeptabel, das ist komplett inakzeptabel.«
»Es ist komplett nicht-verhandelbar.«
»Das mache ich auf keinen Fall mit.«
»Du musst. Und wenn wir dafür in den Knast kommen.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, wie das die Situation verbessern sollte.«
»Sie verfolgt uns. Weißt du, was das bedeutet?«
»Wovon redest du?«
»Sie ist einsam. Und sie ist wütend. Sie ist richtig, richtig wütend.«
Unvorstellbarerweise begann Bob zu schluchzen.
Nathan registrierte das. »Wir reden später noch mal drüber«, sagte er. »Tu nichts Unüberlegtes. Bitte. Versprich mir das.«
»In Ordnung.«
»Wieso unüberlegt?«, fragte Angela, die im Türrahmen stand, um Nathan eine Tasse Tee anzubieten.
Nathan schrie auf.