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Nathan und Bob hatten sich vor fünfzehn Jahren kennengelernt, im Sommer 1993.

Nathan bewohnte damals ein kleines Zimmer in einem Haus in der Maple Road. Ein Jahr nach seinem Universitätsabschluss lebte er von Sozialhilfe und wartete darauf, einen Job beim vierzehntäglich erscheinenden Veranstaltungsmagazin der Stadt zu bekommen. Das Magazin hatte sich noch nicht damit befasst, seine Initiativbewerbungen abzulehnen, ebenso wenig wie seine unaufgefordert eingesandten Konzert-, Film- und Plattenrezensionen. Nathan fühlte sich durch dieses Fehlen ausdrücklicher Ablehnung ermutigt. Sein Plan war, herumzusitzen und sich weiter zu bewerben.

Weil alle Zimmer in der Maple Road 30 vermietet waren, gab es keinen Gemeinschaftsraum, in dem man sich treffen konnte. Also verbrachten Nathan und seine Mitbewohner die Tage ihrer Arbeitslosigkeit damit, von Zimmer zu Zimmer zu ziehen und jede Menge Happy-Shopper-Tee zu trinken.

An jenem Nachmittag war es ziemlich still in Petes Zimmer, man hörte nur das vibrierende Dröhnen einer E-Saite, die an einen großen Verstärker und ein digitales Delay-Pedal angeschlossen war.

Nathan lag im Bett und hörte zu. Dann schwang er die Beine über die Bettkante, zog sich eine Hose und ein verwaschenes Band-T-Shirt an und schlurfte über den schäbigen Flur.

Weil Pete am längsten im Haus wohnte, stand ihm das größte Zimmer zu. Darin befand sich eine alte Matratze, die auch als Sofa diente. Das richtige Sofa stammte aus einem Container vor dem Nachbarhaus. An der Wand stand eine monumentale, zusammengestückelte Stereoanlage, deren Einzelteile durch Klebeband, farbige Kabel und verlötete Schaltungen miteinander verbunden waren.

Pete hatte immer Besuch. Oft waren es Mitglieder des Peace Convoy – nach Patschuli stinkende Anarcho-Punks, die endlos langweilige Geschichten vom letzten Stonehenge Free Festival erzählten. Es kamen aber auch Gruftis und manchmal Raver, eine Jugendkultur, für die Nathan nicht viel übrig hatte. Oder schräge Rastafaris, ein gutmütiger Hippie namens Fuzzy Rob, ein mit Speed dealender Biker namens Carnie Frank, ein krankhaft fettleibiger Brummifahrer namens Reds aus der Karibik und gefährlich aussehende, sarkastische Männer, die ausgebeulte, alte Jeans trugen und Gefängnis-Tattoos hatten.

Aber an jenem Nachmittag lümmelte nur ein großer, schmuddeliger, katzenartiger Mann auf einem der alten Sofas. Er trug ein cremefarbenes Hemd und einen marineblauen Anzug mit fadenscheinigen Manschetten und hatte langes, verfilztes Haar, das er offensichtlich seit geraumer Zeit nach hinten gekämmt hatte, anstatt es zu waschen.

Nathan nickte zum Gruß, setzte sich auf den Boden und schlang die Arme um seine knochigen Knie. Der Fremde zündete sich mit einem Feuerzeug eine John Player Special an. Als sie brannte, beugte er sich vor und streckte Nathan die Hand entgegen.

»Bob.«

Nathan schüttelte ihm die Hand. Sie war sehr groß. Diese Art der Begrüßung verunsicherte Nathan immer, er fühlte sich dabei wie ein Kind, das spielt, erwachsen zu sein.

Pete saß im Schneidersitz vor der monströsen, wackeligen Stereoanlage. Er trug einen abgewetzten roten Bademantel und schmutzige weiße Socken.

Bob hatte eine lederne Aktentasche mit abgestoßenen Ecken dabei, vielleicht ein Schnäppchen aus einem Wohlfahrtsladen. Er nahm ein Diktiergerät heraus, stellte es vor Pete auf den Boden und fragte: »Fangen wir an?«

»Was wird das denn?«, wollte Nathan wissen.

Bob holte einen Spiralblock und einen zerkauten Kugelschreiber hervor. »Der Freund eines Freundes hat mir von Pete erzählt. Er ist einverstanden, dass ich ihn interviewe.«

»Warum?«

»Für meine Recherchen.«

»Cool. Bist du Journalist?«

»Nein. Ich recherchiere nur.«

»Für …?«

»Meine Doktorarbeit.«

Nathan schaute vom einen zum andern und wieder zurück – vom schwerfälligen Bob mit den großen Händen zu Pete in seinem zerschlissenen, scharlachroten Bademantel.

»Echt?«, fragte er.

»Ja.«

»Was recherchierst du? Musik?«

Musik war das Einzige, was Pete interessierte – Musik und ein Mädchen namens Emma, das ihn vor achtzehn Monaten verlassen hatte.

Bob warf Nathan einen strengen Blick zu, und Pete schaltete sich ein: »Er will was über meinen Bruder wissen.«

»Alter, ich wusste ja gar nicht, dass du einen Bruder hast.«

»Darum geht’s ja.«

»Wie? Ist der im Knast oder so? Schwarzes Schaf, was?«

»Wenn du so freundlich wärst …«, sagte Bob, was soviel bedeutete wie jetzt verdammt noch mal das Maul zu halten. »Willst du dabei vielleicht lieber allein sein?«, wandte er sich an Pete.

»Nee. Nathan kann bleiben, wenn er will.«

Nathan wollte.

»Wenn du bleibst, dann unterbrich uns bitte nicht. Und stell keine Fragen«, ermahnte ihn Bob.

»Okay, ist ja gut. Herrgott.«

Bob beugte sich ein wenig vor und sprach in das Diktiergerät: »4. Juli 1993. 13.30 Uhr. Der Interviewte ist Pete King, Alter …«

»Vierundzwanzig.«

»Pete King, Alter vierundzwanzig.«

Einen Moment lang dachte Nathan, Pete würde gleich loslachen. Aber stattdessen setzte er sich auf – im Schneidersitz und mit geradem Rücken – und begann zu erzählen.

Bob: Also, wann ist es passiert?

Pete: Im Sommer 1981. Juni oder Juli oder so. Ich glaube, es war Juni.

Und dein älterer Bruder …?

David hieß er. Wir wohnten auf dem Land, unser Vater hatte einen Bauernhof. Als ich klein war, folgte ich David überall hin. Er zeigte mir alle möglichen Geheimverstecke. Er nannte mich eine Klette, aber es machte ihm nicht wirklich was aus – nicht mal, wenn ich allein loszog, um einen Blick in seine Schmuddelheftchen zu werfen.

[Lachen]

Er hatte lauter alte zerfledderte Ausgaben von Men Only und Razzle und Club. Er bunkerte sie in einer Kiste zwischen den Wurzeln einer riesigen alten Eibe unten am Fluss, genau da, wo das Grundstück unseres Vaters zu Ende war. Der Baum muss fünfhundert Jahre alt gewesen sein, und David benutzte ihn, um dort seine schmutzigen Hefte zu verstecken.

Wie alt warst du – als David starb?

Zwölf, glaube ich. Zwölf, fast dreizehn.

Wie ist es passiert?

Das ist wirklich dumm gelaufen. Er half unserem Dad, das Schöpffass zu reparieren. Es war Freitagnachmittag, und er beeilte sich zu sehr. Sein Arm verfing sich, dann wurde er herausgerissen. Dad war bei ihm. Er rannte los, um den Krankenwagen zu rufen, aber als der ankam, war David schon tot.

Und wie hast du dich gefühlt?

Ich weiß gar nicht genau, wie ich mich gefühlt habe. Es war alles irgendwie komisch. Wie ein Schock oder so. Mum heulte und Dad trank, und die ganzen Tanten, Onkel, Nachbarn und Oma und Opa waren bei uns. Es war irgendwie, als wäre ich gar nicht da.

Was geschah dann?

Na ja, er wurde begraben.

Warst du bei der Beerdigung dabei?

Ja. Aber ich hab nicht viel drauf gegeben. Ich sitz da in dieser blöden Kirchenbank in einem Anzug und einem Hemd, das am Hals viel zu eng ist. Und niemand hat mir auch nur zwei vernünftige Sätze über ihn gesagt. Es ist ein echt heißer Tag. Du weißt schon, der Sommer mit den ganzen Krawallen in St. Paul’s, Toxteth, Brixton und überall.

Egal. Auf dem Heimweg im Auto sage ich kein Wort. Ich weine nicht oder so, ich sage nur einfach nichts. Sobald das Auto auf der Farm hält, renne ich hinein. Mum hat dieses Riesenbuffet vorbereitet. Sandwiches und so weiter – Schweinefleischpasteten, einen gewaltigen Schinken.

Dad kommt zu mir und sagt: Tu das deiner Mutter nicht an, nicht ausgerechnet heute.

Also fange ich an zu heulen und renne nach oben. Ich bin so wütend, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich schaue mich nach etwas um, was ich zerschlagen kann. Ich will etwas kaputt machen – etwas, was mir richtig viel bedeutet, verstehst du?

Das ist ganz normal.

Ich stehe also mit geballten Fäusten in der Mitte meines Zimmers und da fällt mir ein: die Specials.

David hatte sie live gesehen, 1980 im Locarno in Bristol. Er hatte draußen gewartet und sich das Album signieren lassen. Zwar nicht von Terry Hall, aber von Neville und von Roddy Radiation. Es war Davids größter Schatz, und ich hatte es immer haben wollen. Ich klaute es oft und versteckte es zwischen meinen Platten. Ich hatte nur etwa fünf – Top of the Pops und Disney-Lieder und so –, also fand er es immer ganz leicht wieder. Egal. Ich gehe also in Davids Zimmer und knie mich hin, und da ist es: sein kostbarster Besitz, das erste Specials-Album, signiert von Neville Staple und Roddy Radiation.

Ich halte es in den Händen – ich will es gerade zerbrechen –, als ich etwas im Spiegel des Kleiderschranks wahrnehme. Ich schaue auf und denke, das muss Dad sein, und ich bekomme gleich mächtig Ärger. Aber es ist nicht Dad. Es ist David.

Dein Bruder David?

Ja, mein toter Bruder David.

Was hat er gemacht?

Er saß einfach da. Lächelte mich an.

Hat er etwas gesagt?

Das brauchte er nicht. Es war das gütigste Lächeln, das ich jemals gesehen habe. Als wüsste er genau, was ich vorhatte, und warum. Das Komische ist, mein erster Gedanke war, das Album wieder an seinen Platz zurückzustellen. Das mache ich dann auch, und als ich wieder aufsehe, ist David weg.

Was geschah dann?

Ich sitze da auf der Bettkante, neben der Stelle, wo David gesessen hatte. Dann gehe ich runter zum Leichenschmaus und entschuldige mich bei meinen Eltern. Sie waren nicht sauer.

Hast du ihnen erzählt, dass du David gesehen hast?

Dafür gab es keinen Grund.

Ist dir vorher schon einmal etwas Ähnliches passiert?

Nein.

Und seither?

Nein.

Noch eine letzte Frage. Was hatte David an?

[Pause]

Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Komisch, oder?

Bob lehnte sich auf dem Sofa zurück und steckte das Diktiergerät ein.

Pete zündete den dünnen Joint wieder an, den er hatte ausgehen lassen.

»Krass«, sagte Nathan.

Pete nahm einen Zug, atmete aus, und meinte: »Irre, was?«

Die Tür knarrte laut, und Nathans Herz begann zu rasen. Er blickte über die Schulter zur Tür und sagte: »Leute, ich krieg Schiss.«

»Manchmal kann man mit dem Erzählen solcher Geschichten etwas heraufbeschwören«, erklärte Bob.

»Was kann man heraufbeschwören?«

»Ich weiß nicht. Irgendwas.«

Nathan fror an den Füßen. Der zerlöcherte Teppich kratzte an seinen Sohlen. »Was meinst du damit?«, fragte er.

»Geister sind meine Spezialität.«

»Deine Spezialität.«

»Ich untersuche sie.«

»Ja, klar.«

»Wirklich. Ich promoviere seit zwei Jahren. In Psychologie.«

»Aber es gibt keine Geister.« Er warf Pete einen kurzen, schuldbewussten Blick zu. »Sorry, Alter.«

Pete zuckte ungerührt mit den Schultern.

Bob begann seine Aktentasche zu packen und fragte: »Also ist Pete ein Lügner?«

»Natürlich nicht.«

»Ist er verrückt?«

»Nein.«

»Hat er sich das eingebildet?«

»Nein.«

»Was war dann los?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich auch nicht. Deswegen untersuche ich es.«

Bob blieb noch eine Weile. Sie tranken Tee, und Pete spielte ihnen das Demo seiner Band vor. Bob nickte im Takt; er schien es zu mögen. Er versprach, zu Petes nächstem Konzert zu kommen. Sie wussten alle, dass er nicht kommen würde. Dann bedankte er sich bei Pete und sagte zu Nathan, er habe sich gefreut, ihn kennenzulernen.

»Wir sehen uns«, sagte Bob.

Nicht, wenn ich dich zuerst sehe, dachte Nathan. Aber er sagte: »Du musst doch eine Vermutung haben – eine Meinung.«

»Wozu?«

»Dazu, was sie sind. Die Geister.«

»Sie sind alles Mögliche. Täuschungen, Einbildungen, Halluzinationen. Elektromagnetische Phänomene, die auf den Schläfenlappen wirken. Infraschall. All das und mehr. Was viele nicht wissen, ist, dass die meisten Geister Astralleiber der Lebenden sind. Den Geist eines lebendigen Menschen bezeichnet man auch als Doppelgänger.«

»Doppelgänger?«

»Ja.«

»Na klar.«

»Es stimmt«, sagte Bob mit der Aktentasche in der Hand.

Er verabschiedete sich, und sie hörten ihn die Treppe hinunterstampfen, dann das Quietschen und Zuschlagen der Haustür.

»O Mann«, sagte Nathan. »Wo hast du den denn aufgegabelt?«

Sie lachten.

Pete schlug auf dem Bass den Riff von »Ghostbusters« an.

Nathan fragte: »Ist das wahr, was du ihm erzählt hast?«

Er sah Bob viereinhalb Jahre lang nicht wieder.