9
Das bisschen, was von Nathan noch übrig war, wurde vom Sonnenaufgang ausgelöscht.
Durch die Gipskartonwände hörte er die Toilettenspülung, den pfeifenden Wasserkessel, das dumpfe Radio: Die Nachbarn wachten auf und begannen den Tag. Er hielt sie für Halluzinationen.
Sara kam am Nachmittag nach Hause, jedoch nur, um ihn zu verlassen.
Er lag im Bett und sagte nichts, während sie drei Koffer vollpackte, die sie dann gewaltsam in den Kofferraum ihres alten Golf zwängte. Sie würde bis nächsten Samstag bei ihrer Freundin Michelle übernachten, bis dahin musste Nathan eine neue Wohnung gefunden haben.
Er stand auf. Vor seinen Augen explodierten Leuchtraketen in allen Farben. Er schwankte.
»Hör zu, es tut mir leid.«
»Was? Dass du dachtest, ich flirte mit diesem bärtigen kleinen Scheißer? Oder dass du mich einfach allein gelassen und dann auf einer Party blamiert hast, wo ich überhaupt niemanden kannte?«
Sie sah ihn mit müden und zornigen Augen an. Ihr Haar war noch feucht, man sah die Spuren eines Kamms, es duftete nach Shampoo.
»Na schön«, sagte Nathan. »Wie du willst.«
Nachdem sie gegangen war, stand er da und starrte auf die Tür. Als er aus seiner Reglosigkeit wieder erwachte, war es bereits dunkel.
Hinter ihm bewegte sich etwas – ein leises Rascheln, als lauerte dort jemand in einer dunklen Ecke. Seine Nackenhaare stellten sich auf wie die eines Hundes, und er ging schnell durch die Wohnung, um die Lampen einzuschalten.
Als er damit fertig war, saß er da und starrte auf die gelbe Glühbirne, aus Angst, sie könnte in der Nacht durchbrennen und die bevölkerte Dunkelheit an ihn heranschleichen lassen.
Er erwachte in einem Anfall von Panik. Jemand lag neben ihm im Bett. Nase an Nase beobachtete sie das Flackern seiner träumenden Augen. Alle Birnen waren durchgebrannt. Die Wohnung lag im Dunkeln.
Es dauerte lange, bis er wieder atmen konnte. Aber es war nicht dunkel: Es war Morgen. Montagmorgen, sein zweiter Tag in dieser neuen Welt. Das Sonnenlicht wurde klar, dann wieder trüb. Er rannte zur Toilette und übergab sich. Er hatte seit Samstagnachmittag nichts gegessen; er konnte nichts mehr erbrechen.
Während er den Geschmack der gelben Säure wegspülte, wagte er nicht, in den Spiegel zu sehen. Aber da war nichts hinter ihm, nur das Badezimmer. Sein blasses Spiegelbild sah aus wie das Gesicht von jemandem, der irgendeine Katastrophe überlebt hatte, ein Zugunglück oder vielleicht einen Bombenanschlag, von jemandem, der gefilmt wird, wie er am Straßenrand mit blutüberströmter Stirn unter einer grauen Decke kauert.
Er fragte sich, was er tun konnte.
Nichts. Es war geschehen. Er konnte es nicht ungeschehen machen.
Bei diesem unerträglichen Gedanken umklammerte er den Rand des Waschbeckens.
Dann folgte ein Augenblick merkwürdiger Euphorie. Etwas in ihm begann matt zu leuchten, dann schien es anzuschwellen, bis es durch die Poren seiner Haut hinausströmte. Es verließ seinen Körper, und er schwebte oben in der Ecke des Badezimmers und schaute auf sich selbst und sein Spiegelbild hinab. Dann begann dieses Etwas sich wieder zusammenzuziehen, sich zusammenzufalten wie ein Flügelpaar, und in seinen Körper zurückzukehren. Nachdem dieser flüchtige, unerklärliche Glücksrausch vorbei war, konnte er nicht in Worte fassen, was er gespürt oder in was er sich verwandelt hatte, als er einen Moment lang von sich selbst losgelöst gewesen war.
Er duschte eilig, weil er stank, rasierte sich aber nicht. Er griff nach einer Jeans, einem anderen Band-T-Shirt und einer karierten Fleecejacke. Er stopfte seinen ruinierten Anzug und seine Schuhe und seinen Kaschmirmantel in eine Plastiktüte und suchte seinen Hausschlüssel. Dann ging er zum ersten Mal hinaus, seitdem er dieses Etwas geworden war – was immer das auch war. Er musste im Treppenhaus halt machen, bis die Panik vorbeiging.
Der Lärm und die Luft des Montagmorgens. Er zog die Jacke enger um sich. Draußen waren Busse und Autos und Menschen. Sie glitten an ihm vorbei. Er ging fast einen Kilometer. Seine Hände waren eiskalt, an den Fingerknöcheln rot und rau. Er lief an der 24-Stunden-Tankstelle und den Mini-Supermärkten vorbei. Dann bog er in die Hauptstraße ein. Er ging in den Wohlfahrtsladen neben der Reinigung und gab die Plastiktüte mit den Kleidern ab, die er am Samstagabend getragen hatte. Dann ging er in den Kiosk nebenan.
Die Frau hinter dem Ladentisch war nervös und groß und dünn. Sie war leicht geisteskrank – Nathan hatte aufgehört, seine Zeitungen dort zu kaufen, weil sie ihn manchmal beschimpfte und den Gemeinderat oder die Königsfamilie oder die Polizei verdächtigte, sie zu überwachen und ihre Gedanken zu kontrollieren. Aber jetzt machte sie ihm keine Angst.
Er kaufte die Times, den Guardian, einen Daily Mirror, die Sun und vierzig Zigaretten. Er steckte sich die Zeitungen unter den Arm, verließ den Laden und ging ins Moonshine Cafe.
Auf der anderen Straßenseite wurde eine Volkshochschule gebaut, und das Café war voll mit Bauarbeitern in dreckigen Jeans und Arbeitsschuhen mit freiliegenden Stahlkappen. Nathan bestellte sich eine Tasse Tee und ein traditionelles englisches Frühstück.
Er setzte sich an einen freien Resopaltisch und schlug den Mirror auf. Er blätterte ihn durch, suchte nach einer Meldung über Elise. Mädchen wurden vermisst, aber sie war nicht darunter. Er schlug den Guardian auf und blätterte ihn ebenfalls durch. Und die Sun und die Times.
Das Frühstück kam. Er schob es auf dem Teller hin und her und zwang sich, einen Bissen Rührei zu essen, das die Konsistenz von Meeresfrüchten hatte. Sein Körper sträubte sich dagegen, er legte die Gabel auf dem Tellerrand ab. Er trank ein paar Schluck Tee und versuchte Zeitung zu lesen, aber er konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren. Er ließ zwei Zeitungen für die Bauarbeiter liegen und steckte die anderen beiden in die Innentasche seiner Jacke. Er zündete sich eine Zigarette an. Ihm wurde übel vom Nikotin und schwindelig. Er ging nach Hause.
Die Wohnungstür starrte ihn kalt an. Er kam sich wie ein Einbrecher vor. Das war Saras Zuhause. Er fragte sich, wie er eine andere Wohnung finden sollte.
Um drei Uhr nachmittags, als die Sonne tief am Himmel stand und blendete, hastete er durch die Wohnung und machte die Lampen an. Er schaltete den Fernseher ein und saß davor, ohne etwas mitzubekommen, bis es Zeit war, zur Arbeit zu gehen.
Er duschte noch einmal und beeilte sich noch mehr als beim ersten Mal. Er zog den Duschvorhang nicht zu, weil er Angst hatte, jemand könnte dahinter stehen und ihm auflauern, wenn er ihn wieder aufzog.
Nachdem er sich abgetrocknet hatte, fühlte er sich noch immer schmutzig. Er konnte seinen eigenen Atem riechen, den Geruch von Trüffelpralinen oder einem Tumor. Er versuchte, sich die Zähne zu putzen, und würgte, bis leuchtende Fischchen am Rand seines Gesichtsfelds herumflitzten und zappelten. Er zog seine Arbeitskleidung und die karierte Jacke an. Er nahm seine Mütze und sein Portemonnaie. Aus Gewohnheit steckte er ein Taschenbuch ein. Und dann, wie jeden Werktag um die gleiche Zeit, trat er aus dem Haus und fuhr mit dem Bus zur Arbeit.
Als er sich am Empfang eintrug, warf ihm der Wächter einen merkwürdigen Blick zu.
Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und ging ins Studio. Howard machte sich gerade eine Tasse Tee in der engen Küche. Kalte, ausgedrückte Teebeutel lagen überall auf der glänzenden Resopalarbeitsplatte verstreut.
Mark Derbyshire saß im winzigen Gemeinschaftsbüro. Die meisten Lampen waren ausgeschaltet. Marks Bildschirmschoner bewegte sich unaufhörlich über seinen Monitor, dessen beiges Gehäuse mit tintenschwarzen Fingerabdrücken beschmiert war.
Stoppeln sprossen um den normalerweise scharf konturierten Bart herum, von dem Mark glaubte, er ließe ihn etwas weniger wie einen Biber aussehen. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte in seine Teetasse, seine Ärmel waren hochgekrempelt und entblößten seine behaarten Unterarme und ein goldenes Namenskettchen.
Nathan klopfte an. Mark schaute auf.
»Du hast vielleicht Nerven, Freundchen.«
»Feuerst du mich jetzt?«
»O Scheiße. Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Ist doch egal.«
»Was ist los, Mark?«
»Ein Freund von mir, Graham, vermisst seine Tochter.«
Nathan musste sich setzen. Er verlagerte sein Gewicht, sodass er sich am Türrahmen abstützen konnte.
»Was?«
Marks Kopf war kahl bis auf ein wenig Babyflaum, der manchmal das Licht einfing und ihn arglos und erstaunt aussehen ließ, wie ein riesiges Entenküken.
»Mein Freund Graham. Seine Tochter Elise ist verschwunden.«
»Wohin ist sie verschwunden?«
»Das ist es ja, Mann. Das weiß keiner. Sie war bei der Party.«
»Was – bei deiner Party?«
»Ja – bei meiner Party. Und dann …« Er flatterte mit den Händen wie ein Vogel. »Dann ist sie verschwunden.«
Nathan rückte einen Schalensessel aus Plastik heran. Er hoffte, die Geste wirkte vertraulich und besorgt. Er konnte nicht länger stehen.
»Wo ist sie hin?«
»Das weiß keiner. Darum geht’s doch.«
Howard kam herein.
»Das Wasser kocht.«
»Gut«, sagte Nathan. »Danke. Hat jemand die Polizei verständigt?«
»Graham hat Freunde bei der Polizei«, sagte Mark. »Sie sind schon an dem Fall dran. Da ist nichts mit ›24 Stunden vermisst‹. Sie standen am Sonntagabend bei mir auf der Matte. Ich war noch im Bett.«
»Na, das klingt doch gut. Freut mich.«
Mark rieb sich die roten Augen. »Du kapierst echt gar nichts, oder?«
Nathan schaute zu Howard. Howard zog eine Augenbraue hoch und zuckte mit den Schultern.
»Wenn sie nicht auftaucht, und zwar bald, ist die Show im Arsch. Ich wurde schon von der Polizei vernommen. Was glaubst du, wie lange es dauert, bis die Klatschblätter das rauskriegen?«, erklärte Mark.
»Verstehe«, sagte Nathan. »Klar.«
»Klar.«
An diesem Abend gab es keine Show – sie würden einen »Best Of«-Mix abspielen, einen von mehreren, den sie für Krankheits- und andere Notfälle auf Lager hatten. Howard und Mark waren einfach aus Gewohnheit erschienen, um in den halbdunklen Büros zu sitzen und Kaffee zu trinken. Keiner von beiden war verheiratet. Nicht mehr.
Nathan sagte: »Tut mir leid wegen Samstag. Weil ich versucht habe, dich zu schlagen und so.«
Mark winkte ab. Sie konnten den nächtlichen Verkehr draußen hören.
Nathan fühlte sich überflüssig.
»Ich dachte, sie würde mit dir schlafen«, sagte er.
»Wer? Deine Schnecke?«
»Ja, Sara.«
»O ja, sehr wahrscheinlich. Sie hat die ganze Zeit nur von dir gelabert. Verdammte Scheiße.«
Nathan schaute auf.
»Wie bitte?«
»Sie hat die ganze Zeit nur von dir geredet. Wie toll du bist. Wie ich dich besser einsetzen könnte. Bla bla bla.«
Nathan lächelte in sich hinein.
»Okay«, sagte er.
»Das Komische ist, ich hatte sogar irgendwie angefangen, ihr zu glauben.«
Keiner sagte etwas, bis Nathan meinte: »Schwamm drüber. Gehen wir was trinken?«
Sie fanden nur einen billigen Nachtclub. Die Musik war zu laut zum Reden – also setzten sie sich einfach an einen Tisch und tranken, und betranken sich, und fuhren mit dem Taxi nach Hause.
Am nächsten Morgen befand sich der Schnappschuss einer lächelnden Elise Fox auf der Titelseite des Daily Mirror. Aber das größte Foto zeigte Mark Derbyshire. Er sah unrasiert und gehetzt aus; man hatte ihn geknipst, als er gerade in seinen BMW stieg. Er trug ein Poloshirt, das ihm zu eng war, eine Lederjacke, die zu jugendlich für ihn war, Jeans, die zu schlabberig waren, und eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille, die ihm schlecht standen.
Die Schlagzeile lautete ANGST UM PARTYGIRL (19) WÄCHST. Der Untertitel war Elise seit Promi-Party bei vorbelastetem DJ »verschwunden«.
Auf dem Schnappschuss lächelte Elise. Nathan starrte darauf. Er konnte das Gesicht nicht mit dem toten Mädchen in Verbindung bringen, das sie mit dem Gesicht nach unten und nackt in die Erde gelegt hatten.
Die ganze Geschichte stand auf den Seiten 9 bis 13, und Nathan las sie durch. Aber er fand nur eine Neuauflage von Mark Derbyshires früherem verhängnisvollen Zusammenstoß mit der Boulevardpresse und eine hämische Liste der Z-Promis, die »Gerüchten zufolge« bei seiner Party gewesen waren.
Am Abend erschien Nathan wie üblich zur Arbeit. Aber Mark Derbyshire kam nicht.
Die tiefen Falten in Howards Gesicht waren noch tiefer geworden. Heute wurde keine »Best Of«-Kassette abgespielt. Stattdessen hatte sich der Sender den ehemaligen Frühstücks-DJ Dave Huckabee geholt, der nun die Lokalnachrichten im Fernsehen sprach. Dave hatte sich bereit erklärt, die Show bis zu Mark Derbyshires Rückkehr zu moderieren.
Mark Derbyshire war keines Verbrechens beschuldigt worden, aber von dem Augenblick an, als ein anderer sich seine Kopfhörer aufsetzte und in sein Mikrofon sprach, war das nur noch eine Formalität. Ebenso wie Marks Freispruch ganze dreizehn Jahre zuvor. Die Presse interessierte sich ausschließlich für die damalige Anklage und die Demütigung, die darauf gefolgt war: Marks »Absturz«.
Nathan betrachtete das Zeitungsfoto von Mark und verspürte ein von Schrecken durchsetztes Mitleid. Aber er wusste, er würde Mark eher für immer ins Gefängnis gehen lassen, als zuzulassen, dass er selbst mit Elise Fox’ Verschwinden in Verbindung gebracht wurde.
Er stellte sich sein eigenes Gesicht in den Zeitungen vor und spürte, wie seine Welt ins Wanken geriet.
Am nächsten Tag standen zwei Polizisten vor seiner Tür.