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Als Nathan am Donnerstag vom Mittagessen zurückkam, wartete Justin in einer Ecke seines Büros mit einem zerknitterten Berichtsentwurf in der Faust. Wahrscheinlich war es etwas Wichtiges und Überfälliges, etwas, worum Nathan sich sofort und eilig kümmern musste, weil Justin es die letzten drei Monate im Kofferraum seines Mercedes »abgeheftet« hatte.

Nathan brauchte zwanzig Minuten, um Justin davon zu überzeugen, dass es nicht unumgänglich war, diesen Notfall unten im Pub zu diskutieren.

Nachdem Justin endlich abgedampft war, hörte Nathan seinen Anrufbeantworter ab. Die ersten beiden Anrufe stammten von wütenden Kunden, die Bestellungen hinterhertelefonierten, die vor zwei Monaten hätten geliefert werden sollen. Der dritte stammte von Holly. Sanft schloss Nathan die Bürotür und hörte sich die Nachricht dreimal an, weil er nach einer tieferen Bedeutung suchte.

Hi. Ich bin’s. Ich hasse so was. Egal, ich wollte fragen – bist du noch da? –, ob du am Sonntag zum Mittagessen kommen willst. Und dann. Keine Ahnung. Weggehen oder so. Rede ich zu viel? Ich kann mit diesen Dingern nicht umgehen. Egal. Ruf mich an. Okay. Tschüs. Übrigens, ich bin’s. Hab ich das schon gesagt? Tschüs.

Er legte die Stirn auf den Schreibtisch. Er lächelte. Auch er bekam Schweißausbrüche, wenn er auf Anrufbeantwortern persönliche Nachrichten hinterlassen musste.

Dann stolzierte er in Justins Büro.

Er sagte: »Wie es aussieht, bin ich doch nicht so beschäftigt, wie ich dachte. Ich kümmere mich um den Bericht. Lass uns unten im Pub darüber reden.«

Justin platzte fast vor Glück.

Am Sonntag nahm Nathan den langen Weg nach Sutton Down.

Graham hatte den Sonntagsbraten gemacht. Nachdem Nathan den Tisch abgeräumt, die Spülmaschine eingeschaltet und den Bräter eingeweicht hatte, nahm Holly seinen Arm.

Der Schock des ersten Körperkontakts.

Sie sagte: »Komm mit.«

»Wohin gehen wir?«

»Was trinken?«

Nathan warf June einen Blick zu, wie um zu sagen Wie könnte ich da widersprechen?, und er und Holly zogen sich die Mäntel an.

Der Nebel hatte sich noch nicht ganz gehoben. Das Dorf war still.

Sie gingen am Flussufer entlang. Er versuchte nur Gutes zu denken.

Sie sagte: »Wir machen es rückwärts.«

»Wie meinst du das?«

»Meine Eltern kennen dich genauso gut wie ich.«

»Das macht mir nichts aus.«

Sie gingen eine Minute lang.

Holly sagte: »Danke.«

»Wofür?«

»Ich weiß nicht. Dass du versuchst zu verstehen, wie es ist.«

Sie waren an einer moosbewachsenen Steinbrücke angelangt, die über den Fluss führte. Sie sah aus, als sei sie tausend Jahre alt. Hier war der Nebel dichter. Er sammelte sich an den Baumwurzeln. Nathan konnte die Kälte vom Wasser aufsteigen spüren.

»Es geht mir nicht um deine Schwester«, sagte er.

Sie ließ seinen Arm los und drehte sich zu ihm. Zwischen ihren Augen hatte sich eine besorgte Falte gebildet. »Das weiß ich. Aber bisher ging es immer um sie. Für eine sehr lange Zeit.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Dann packte sie das Revers seines Mantels: »Jetzt sag endlich was.«

Aber er wollte seine Stimme nicht hören – er wollte jemand anders sein in diesem guten Augenblick.

Er sagte: »Du weißt schon, was ich sagen will.«

Sie legte ihm den Arm um die Taille und drückte ihn, als sie über den Fluss zum Pub gingen.

Um zehn Uhr kamen sie wieder bei ihr zu Hause an. Es war dunkel. Graham und June waren um halb zehn zu Bett gegangen.

Nathan und Holly waren beide leicht angetrunken. Zehn Minuten lang küssten sie sich auf der Türschwelle. Dann holte Holly ihren Schlüssel heraus und machte auf.

In der Diele sagte sie nichts. Er folgte ihr leise nach oben – wo sie ihm das Gästezimmer zeigte. Darin stand ein kleiner Waschtisch. Saubere Handtücher, eine Tube Aquafresh-Zahnpasta. Es lag sogar eine noch originalverpackte Zahnbürste für ihn bereit. Holly sagte: »Gute Nacht«, und machte die Tür zu. Nathan zog Schuhe, Socken und Hemd aus und beugte sich über den Waschtisch, um sich die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen. Das Vorhandensein des Tischchens verpflichtete ihn dazu.

Ein zögerliches Klopfen an der Zimmertür.

Er flüsterte: »Komm rein.«

Holly war barfuß und trug einen cremefarbenen Seidenpyjama. Er sah sie an und fühlte sich unsicher und sah wieder weg.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ja, alles klar.«

Sie machte ein belustigtes Gesicht.

»Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Sie schloss die Tür. Er hörte sie wie einen Einbrecher zurück in ihr Kinderzimmer schleichen.

Er legte sich hin und schloss die Augen.

Er öffnete sie wieder.

Vielleicht war das hier Elises Zimmer gewesen.

Aber er wusste, dass das nicht sein konnte. Von all den Orten, wo er seit dem Abend von Mark Derbyshires Weihnachtsparty gewesen war, war dieses Haus der einzige, an dem Elise Fox nicht war. Ihre Abwesenheit war vollkommen.

Nathan schaltete die Nachttischlampe aus. Seine Augen waren nicht vorbereitet auf die ungewohnte Dunkelheit. Sie brauchten lange, um sich an die mondbeschienenen Umrisse des Zimmers zu gewöhnen. Aber er musste geschlafen haben, allein in der Dunkelheit, denn er erwachte bei den ersten Tönen des morgendlichen Vogelkonzerts.

Er stand auf und zog sich an. Er zog die Bettdecke ab und legte sie gefaltet neben die benutzten Handtücher. Er schlüpfte zur Haustür hinaus.

Draußen war es kalt und nass. Er war müde, und der Motor machte in der ländlichen Stille ein lautes und einsames Geräusch.

Er fuhr zuerst nach Hause, um zu duschen und sich zu rasieren, und kam nicht zu spät zur Arbeit.