Evolutionär betrachtet braucht der Mensch natürlich zum Überleben die Hilfe und die Unterstützung seiner Artgenossen, den Schutz der Sippe. Genauso bedarf jedes Kleinkind der Fürsorge anderer. Doch jenseits dieser elementaren Bedingtheiten des Menschen als »sozialen Wesens« (Aristoteles) benötigen wir auch für unser seelisches Wohlbefinden und zum Auftanken die Gemeinsamkeit mit anderen. Unsere psychische Verfassung wird von der Qualität unserer Beziehungen und Begegnungen mit anderen viel stärker beeinflusst als wir meistens ahnen. Maßgeblich sind dabei in erster Linie:
Der Aspekt des Teilens. Gemeinsames Erleben verbindet, im Augenblick selbst und für die Zukunft, sei es bei gemeinsamen Reisen, einer zusammen zelebrierten Mahlzeit, bei Teamarbeit oder einer Schicksalsgemeinschaft. Oft entsteht eine innere Verbindung, an die Jahre später noch angeknüpft werden kann. Nicht umsonst sind Essenseinladungen in allen Kulturen von so großer Bedeutung, mögen diese nun auf politischer, geschäftlicher oder familiärer Ebene stattfinden. Das Teilhaben an einem bestimmten Ereignis schafft eine Verbindung zwischen den Menschen jenseits der kognitiven Wahrnehmung.
Wie gesagt: Natürlich können wir auch alleine intensiv erleben, bisweilen sogar bewusster, weil wir mit unserer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung ganz bei uns sind, doch ist dieses Erleben von einer anderen Qualität: Mag uns das alleinige Erleben tiefer mit unserer eigenen Seele in Kontakt bringen, so verbindet die Gemeinsamkeit unsere Seele mit anderen Menschen.
Gemeinsame Schwingung. Angenommen, jeder Mensch hat eine Art persönlicher innerer Frequenz, so fühlt er sich meistens mit Menschen unwohl, die eine andere »Wellenlänge« haben. Bei gleicher oder ähnlicher Wellenlänge treten dagegen die Frequenzen in Resonanz zueinander, und es entsteht ein seelischer Gleichklang – etwas, wonach die meisten Menschen sich bewusst oder unbewusst sehnen. Leider stößt man im Alltag nicht so häufig auf die gleiche Seelenfrequenz; umso größer ist dann aber die Anziehungskraft, wenn man jemandem begegnet, der die gleiche Wellenlänge hat. Das bloße Zusammensein mit einem solchen Menschen kann eine Wohltat für die eigene Seele sein, uns erfüllen und auftanken lassen.
Noch intensiver kann das Gefühl in einer Gruppe von Gleichgesinnten sein, sei dies bei einer religiösen, politischen oder sportlichen Veranstaltung. Hierbei kann das starke Gefühl einer Welle entstehen, in der der Einzelne wie ein Tropfen aufgeht, von der er sich getragen und mitgerissen fühlt. Je stärker die Welle desto berauschender kann das Erleben sein. Allerdings: So kraftvoll und ergreifend gemeinsames Schwingen in einer Welle mit anderen auch sein mag, so ist es doch äußerst empfehlenswert zu prüfen, »wes Geistes Kind« die Welle treibt. Im Übrigen gilt: Durch alles gemeinsames Schaffen, Singen, Spielen oder Feiern kann eine gemeinsame Schwingung der Beteiligten entstehen, ein Gleichklang mit den anderen, der uns psychisch wohl tut. Und dies sogar mit Menschen, die womöglich eine »andere Wellenlänge« haben.
Das Gefühl der Geborgenheit. Die Nähe eines vertrauten Menschen und das Gefühl der Zugehörigkeit lassen uns Geborgenheit empfinden. Diese Geborgenheit bei einem Menschen fördert gleichzeitig die Geborgenheit in uns selbst. Sie stärkt unser Vertrauen, unsere Unbeschwertheit und unser seelisches Wohlbefinden.
Die Seele tankt im Gefühl der Geborgenheit.
Wie grundlegend wichtig menschliche Nähe und Geborgenheit für unsere psychische wie auch gesundheitliche Verfassung ist, zeigt sich vor allem dann, wenn diese vorübergehend oder länger fehlen. Einsamkeit ist eine der schwersten Belastungen für die Seele, mit nicht unerheblichen körperlichen und psychischen Symptomen: Anspannung und Unruhe, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen, nagende Selbstzweifel und Ängste erschweren und verdunkeln das Leben. Einsamkeit bewirkt Stress, bei Menschen, und – wie man mehrfach festgestellt hat – auch bei Tieren. Kontaktmangel steigert die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Umgekehrt haben Geborgenheit und Nähe eine beachtliche stresslindernde Wirkung. Wie der kalifornische Neurowissenschaftler Robert Sapolsky feststellte, auch bei Affen: Seine Studien ergaben, dass je mehr ein Affe in Gesellschaft seiner Artgenossen war, und sich um sie kümmerte, je mehr dauerhafte Freundschaften er einging, umso weniger Stress hatte er und umso belastbarer war er. Auch Menschen mit emotionalen Bindungen, die eine vertraute Person zum Reden haben, sind belastbarer und besser in der Lage, sogar schwere Schicksalsschläge zu verarbeiten.
Der innere Gleichklang mit einem nahe stehenden und vertrauten Menschen bewirkt unter anderem die Ausschüttung von Endorphinen und des Botenstoffes Serotonin. Sie fördern das Gefühl von wohliger Wärme und Verbundenheit. Serotonin kann einem Gefühle von großer Zuneigung und tiefer Freundschaft mit allen Menschen geben.
Die heilende Kraft der Empathie. Am besten können wir bei Menschen auftanken, bei denen wir so sein können, wie wir sind. Ohne uns in irgendeiner Weise verstellen zu müssen. Menschen, bei denen wir uns so geborgen fühlen wie im eigenen Seelenraum. Menschen, die uns zuhören können, ohne uns zu verurteilen, ohne uns zu bewerten und ohne uns sofort mit einer Fülle von (gut gemeinten) Ratschlägen zu begegnen. Ratschläge seien manchmal schlimmer als Schläge, sagt der Volksmund, und einen ähnlichen Tenor hat das folgende Gedicht der Lyrikerin Mascha Kaléko (1912–1975):
Ausverkauf an gutem Rat
Ich habe aus traurigem Anlaß
jüngst So viel freundschaftlichen Rat erhalten,
Daß ich mich genötigt sehe,
Einen Posten guten Rat billig
Abzugeben.
Denn: so einer in Not ist,
Bekommt er immerfort
Guten Rat. Seltener Whisky.
Durch Schaden-Freunde
Wird man klug.
Sie haben für alles
Passenden Rat parat.
Für Liebeskummer und Lungenkrebs.
Für Trauerfälle und deren Gegenteil.
Denn Rat erspart oft Taten.
Befolgt der Freunde Un-Rat nicht!
Dann seid ihr wohl beraten.
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: Mascha Kaléko, In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass. Herausgegeben und eingeleitet von Gisela Zoch-Westphal. München 1977.
Der Raum, in dem die Seele entspannen und auftanken kann, braucht kein Veränderungsprogramm, keine Belehrungen, Korrekturen, Bedingungen oder sonstige Einschränkungen. Daher sind Menschen so wichtig und wohltuend, die unsere Gefühle verstehen und die uns einfach so annehmen, wie wir sind und wie wir uns geben, mit all unseren »Fehlern« und »Schwächen«. Menschen, bei denen wir auch mal »nicht gut drauf sein« dürfen, bei denen wir die Freiheit zur Imperfektion haben, und uns dennoch wertgeschätzt fühlen.
Carl Rogers beschrieb die heilende Wirkung der Empathie mit den Worten: »Wenn dir jemand wirklich zuhört, ohne dich zu verurteilen, ohne dass er den Versuch macht, die Verantwortung für dich zu übernehmen oder dich nach seinen Mustern zu formen – dann fühlt sich das verdammt gut an. Jedes Mal, wenn mir zugehört wird und ich verstanden werde, kann ich meine Welt mit neuen Augen sehen und weiterkommen. Es ist erstaunlich, wie scheinbar unlösbare Dinge doch zu bewältigen sind, wenn jemand zuhört.« Solche Menschen sind kostbar und leider auch selten, denn richtiges Zuhören erfordert die Fähigkeit, die eigenen Vorstellungen zurückzulassen, was »richtig« oder »falsch« ist und wie man sich zu verhalten habe. Es sind Menschen, die anderen Raum geben können.
Unsere Seele atmet dort auf, wo wir den Raum haben, so zu sein, wie wir eben sind.
Zuhören ist Raumgeben, denn das Gesagte braucht Echo. Ohne Raum gibt es kein Echo. Ohne Raum hat man das Gefühl, an eine Wand zu reden. Und je schnelllebiger die Zeit wird, um so wichtiger die Frage, ob man bei anderen auf eine Wand oder einen weiten Raum trifft.
Manchmal findet man diese Möglichkeit, in Gegenwart anderer einfach so sein zu können wie man ist, vor allem bei guten Therapeuten, Seelsorgern oder Coaches. Am schwierigsten ist es für die meisten Menschen wohl, sich selber so anzunehmen, wie man ist, da wir meistens die gnadenlosesten Bewerter und Verurteiler in uns selbst haben, deren Anklagen oft beginnen, sobald wir mal alleine sind. Gerade davor kann uns die Empathie anderer bewahren.
Der Raum, den die Seele gerade in Bezug auf die Mitmenschen erlebt, lässt sich zusammenfassend so darstellen:
Hinderlich sind vor allem folgende Faktoren:
Förderlich für unser inneres Wohlbefinden erweisen sich dagegen meistens:
Die Wirkung körperlicher Berührung. Die menschliche Haut, unser größtes und empfindsamstes Organ hungert regelrecht nach Berührung. Schon Versuche mit Rattenkindern hatten ergeben, dass diese erheblich schneller wachsen, wenn sie oft gestreichelt werden, und bei Affen, die einander kraulten, wurden erhöhte Endorphinausschüttungen gemessen. Menschenbabys, die im Brutkasten drei Mal täglich gestreichelt wurden, wuchsen schneller, waren gesünder als andere Frühgeborene auf der Station und konnten ihren Brutkasten durchschnittlich eine Woche früher verlassen, so der Autor Stefan Klein. Auch für Erwachsene ist der Hautkontakt ein Seelenelixir. Berührungen, so der Psychologe Saul Schanberg sind für unser Wohlbefinden wichtiger als Vitamine. Streicheln löst über die Druckrezeptoren in der Unterhaut die Freisetzung von Endorphinen aus und vermindert gleichzeitig die Stresshormone im Körper. Vor allem, weil Streicheln keinerlei Leistungsdruck erzeugt, im Gegensteil, diesen sogar reduziert. – Doch leider leben wir in einer Zivilisation der kultivierten Berührungslosigkeit. Bis auf den Umgang mit Kindern und dem erotischen Liebesleben scheint der Hautkontakt aus unserem Alltag verbannt. Wir treffen ihn wieder in Massagesalons und – berührungslos – in der Sprache der Werbung, die sich in zunehmender Weise subtiler Streichelvokabeln bedient. Seele und Haut jedoch gehören zusammen. Wird die Haut gestreichelt, lebt die Seele mit auf. Mit dem Körper wird also auch die Seele massiert (wie es auch im Kapitel zur körperlichen Entspannung S. 76 dargestellt wurde).
Dies mögen nur einige Faktoren und Wirkungen menschlichen Gleichklangs mit anderen sein. Doch tragen sie entscheidend dazu bei, dass wir innerlich auftanken können. Mit den folgenden Tipps können auch Sie in Ihrem Alltag diese Ressource aktivieren und beleben.