Das Wissen um diese Prinzipien seelischen Erlebens und um die verschiedenen Möglichkeiten, innerlich aufzutanken, findet sich auch in den verschiedenen religiösen Traditionen der westlichen und östlichen Kulturen – häufig allerdings mit so viel dogmatischem und moralischem Ballast verbunden, dass viele Menschen sich nicht in der Lage sehen, innerhalb dieser Traditionen die nötige Nahrung für ihre Seele zu finden.
Dabei kann es sinnvoll sein, genauer hinzusehen und zu differenzieren. In jeder Religion lassen sich drei Bereiche unterscheiden (wie die Grafik auf S. 39 veranschaulicht):
- ein innerer Bereich der reinen seelischen Erfahrung,
- ein äußerer der Interpretation, also der Dogmatik, Moral und Theologie,
- ein mittlerer der Praxis, also der Techniken, Mittel und Methoden, die helfen sollen, in den inneren Bereich der seelischen Erfahrung zu gelangen.
In diesem Buch geht es einzig und allein darum, aufzuzeigen, welche Möglichkeiten in der Praxis bestehen, um zu einem tiefen und bereichernden inneren Erleben zu gelangen, unabhängig von dogmatischen Fragen der weltanschaulichen Einordnung.
Dies scheint mir persönlich in der heutigen Zeit wichtiger zu sein als das autoritäre Pochen auf der dogmatisch richtigen theologischen Interpretation religiöser Ereignisse: die ganz pragmatische Frage, was davon einem Menschen als Kraftquelle und zur Orientierung dienen kann, was seinen inneren Durst löschen kann, was ihn auf seinem Weg in seinen inneren Raum, das heißt, zu sich selbst, unterstützen und fördern kann.

Dabei ist von Mensch zu Mensch verschieden, in welchem Umfang und auf welche Weise ihm aus der Fülle an Worten, Praktiken und Ritualen etwas als Stütze oder Quelle dient. Je nach seiner Persönlichkeits- und Denkstruktur, seinem Temperament und seiner Prägung wird seine Seele in der einen Weise leichter auftanken als in einer anderen. Denn:
Jede Seele tankt auf ihre Weise.
So mag ein rational-nüchterner Mensch leichteren Zugang zur eher strengen Form der Zen-Meditation oder zur still sitzenden Kontemplation finden, während ein emotionaler, temperamentvoller Charakter sich wiederum stärker zu Sing-, Trommel- und Tanzritualen hingezogen fühlt. Auch im Laufe der Zeit mag sich dies verändern: Je nach seiner augenblicklichen Lebenssituation kann ein Wort, ein Gebet, oder ein bestimmtes Ritual für einen Menschen besonders wichtig sein und später wieder zugunsten anderer Aspekte an Bedeutung verlieren.
Doch der Einzige, der herausfinden kann, wo Ihre Seele auftankt, sind Sie selbst! Kein Dogmatiker, Theologe, Priester, Guru oder Therapeut kann dies für Sie entscheiden. Und Sie müssen dabei auch gelegentlich Mut aufbringen, den Mut, die dogmatischen Anweisungen und eventuellen Drohungen all derer außen vor zu lassen, die behaupten, sie allein hätten die Weisheit gepachtet. Maßgeblich ist es, selber zu spüren, was zur inneren Quelle werden kann, und nicht in manipulierende Abhängigkeit von Pseudo-Gurus oder gar Sekten zu geraten.
Für die hier zentrale Frage, ob und wie wir innerlich auftanken können, geht es letztlich nicht um die »Richtigkeit« aller geistigen Modelle, Weltbilder und Interpretationen, sondern um ihre pragmatische Wirkung: Relevant soll einzig und allein das Kriterium sein, ob sie uns helfen, die Erfahrung des innigsten Ergriffenseins, des Getragenseins, der Geborgenheit in sich und der Verbindung mit dem Übergeordneten zu machen. Ob jemand den Kern dieser Tradition dann »Gott« nennt oder nicht, ist für die Tiefe seiner Erfahrung letztlich nicht maßgeblich.
Das Ziel ist die Wiederbelebung Ihrer Seelenquelle, die Wiederentdeckung Ihres inneren Raumes, der Kontakt zum inneren Selbst – alles weitere entfaltet sich dann von selbst!