Die Kraft der Kunst
»Kunst versteht sich zunehmend als therapeutischer Kraftraum einer sich selbst entgrenzenden Gesellschaft, doch immer auch noch als Medium ästhetischer Erbauung und Produzent des Schönen«, so der Kunsttheoretiker Dietrich V. Wilke. So verschieden das Erleben von Kunst von Mensch zu Mensch sein mag ist, so kamen auch Philosophen und Kunsttheoretiker aller Zeiten zu den unterschiedlichsten Ansichten über die Bedeutung und Wirkung von Kunst auf unser Leben. Hier nun eine kleine Auswahl, warum Kunst für unser Empfinden und unser Seelenleben so bedeutsam sein kann:
- Im Mittelalter dienten Kunstwerke in erster Linie als Illustrationen von Glaubensinhalten. Die künstlerischen Darstellungen betrafen fast ausschließlich religiöse Themen. Viele Statuen und Gemälde, auch in anderen Kulturen, sollten Gott, göttliche Propheten, Engel und heilige Menschen darstellen. Bilder von Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament waren die »Bibel der Armen«, die weder Latein noch Schrift beherrschten. In diesen Darstellungen und Figuren schien Gott zu ihnen zu sprechen. Und noch heute haben viele Menschen das Gefühl, beim Betrachten solcher Bilder oder Statuen etwas »Göttlichem« zu begegnen, oder zumindest innerlich tief berührt zu werden.
- Die Wirkung der Schönheit wurde von Platon als »geburtshelfende Göttin« im Dienst der Idee des Wahren und Guten angesehen. Und wenn auch Platon selbst die rein nachahmende Kunst ablehnte, so trat doch in der Renaissance, mit der Wiederentdeckung der Antike die Wirkung der Schönheit von Kunstwerken auf den Menschen in den Mittelpunkt. Ja, der Künstler selber wurde bisweilen als göttlicher Schöpfer beschrieben (Marsilio Ficino).
- Die Zweckfreiheit der Kunst, so Immanuel Kant, weckt in uns ein Lustgefühl, das unabhängig ist, vom bloß sinnlichen Genießen. Kunst könne in uns ein »interesseloses Wohlgefallen« erzeugen, das mehr sei als eine bloß sinnlich angenehme Erfahrung. Interesselos sei die Kunstbetrachtung, weil man dabei keinen speziellen Zweck verfolge.
- Kunst hat oft etwas Erhabenes, etwas, was man »schlechthin groß« nennen kann (Immanuel Kant), ähnlich wie man Naturphänomene wie schroffe Berge oder hohe Wasserfälle als schlechthin groß empfinden kann. Und dieses Erhabene könne der Mensch, so Kant, nur durch ein Vermögen seines Gemütes wahrnehmen, das selbst »übersinnlich« sei. Die zentrale Wirkung des Erhabenen auf unsere Psyche sei die »Gleichzeitigkeit von Zerrüttung und Festigung der Ich-Identität«. – Gerade dieser Aspekt wurde im 20. Jahrhundert, in der Postmoderne vom französischen Philosophen und Ästhetiker Lyotard wieder aufgegriffen. Für ihn erhält Kunst ihre Bedeutung in der Darstellung des Erhabenen als dem eigentlich »Nichtdarstellbaren«. Kunst habe die Aufgabe, »vom Unbestimmten, vom Nichtdarstellbaren, vom prinzipiell Unverfügbaren Zeugnis abzulegen«.
- Schon für Friedrich
Wilhelm Schelling gewährleistete Kunst den »Zugriff auf das Absolute«, weil das Kunstwerk als
Produkt der ästhetischen Tätigkeit, zugleich bewusst und unbewusst
ist. Der Philosophie dagegen, die im Bewusstsein gefangen bleibe,
sei der Zugang zum Absoluten verwehrt. Auch der Kunstphilosoph
Georg Wilhelm Hegel sah Kunst (neben Religion und
Philosophie) als «Gestalt des absoluten
Geistes«: In der Religion stelle der Geist sich selbst vor, in
der Philosophie begreife er sich, in der Kunst werde er selbst
anschaulich. Und wie er begriff auch Arthur Schopenhauer Kunst als
»anschaubare Wahrheit«.
So verschafft Kunst uns schließlich Zugang zu einer Wahrheit, die sich von uns rein gedanklich nicht erschließen lässt. Das Wesen der Kunst ist »das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden«, die dem Philosophen diskursiv nicht zugänglich ist (Martin Heidegger). Der Philosophie bleibt somit nur noch der Umweg über die Kunst, »um ihren Anspruch auf den Zugang zum Jenseits der Begriffe einzulösen (Theodor W. Adorno). - Um einen neuen Aspekt ergänzt Schopenhauer die Idee der Wahrheit, indem er die befreiende Wirkung von Kunst betont. In der Kunst lasse der Mensch seinen Willen, der ihn ansonsten permanent gefangen hält, hinter sich, denn der Kunstgenuss entlaste ihn vom Druck permanenter Bedürfnisbefriedigung. Indem der Betrachter in eine »unbekümmerte« Welt eintrete, die alles übrige Reale ausblende, auch den Betrachter selbst, sei er gleichsam von sich selbst und seinen in diesen Verflechtungen ablaufenden Leben befreit. »Vergleichbar den erlösenden Impressionen einer neuen Landschaftsumgebung, in die ein Weg den Wanderer eintaucht und die für seinen Lebens-Lauf neue Koordinaten in die Betrachtung alter Gewohnheiten zieht. Die Befreiung von alten Befangenheiten, aus Alltags-Routinen, Zwängen, Sorgen und Einengungen öffnet dem Bewusstsein neuartige Sichtweisen auf altgewohnte Tatbestände, Abstand von einverleibter Nähe und bietet ihm Chancen für die Entdeckung neuer lebensweltlicher Möglichkeiten, die zum ganz Anderen hin den Blick erhebt, so der Kunsthistoriker Dietrich V. Wilke in seinem Artikel, »Begegnungen mit der Kunst«.
- Damit zeigt sich nicht nur die befreiende, sondern auch die den Betrachter transformierende Wirkung der Kunst. Schon der Philosoph August Wilhelm Schlegel betonte, dass Kunstwerke unser Verständnis der Welt transformieren würden, und Clemens Brentano ergänzte, dass sie uns außeralltägliche, neue Sichtweisen eröffnen. Für den Lebensphilosophen Henri Bergson bestehen die spezifischen Chancen des Kunstwerks vor allem in seiner Möglichkeit, Realität mithilfe der Intuition direkt und tiefer erfassen zu können. Und der Pädagoge und Philosoph John Dewey thematisiert Kunst als Steigerungsmodus von alltäglicher Erfahrung. Nach seiner Ansicht bleibt die alltägliche menschliche Erfahrung heterogen und fragmentarisch. Demgegenüber ist die ästhetische Erfahrung eine, die harmonisch sich selbst genügt; sie ist vollendet und in sich geschlossen. Im Gegensatz zur Philosophie erkläre sie die Welt nicht, sondern baue Selbstverständlichkeiten ab: »Von der Philosophie sagt man, sie beginne beim Wunder und ende im Verstehen. Kunst nimmt ihren Ausgang beim Verstandenen und endet im Wunder«. – In diesem Sinne sah auch der Ästhetiker Hans-Georg Gadamer im 20. Jahrhundert das eigentliche Dasein eines Kunstwerks darin, »dass es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt«.
- Kunst kann in uns Freude, Zuversicht und gute Stimmung erzeugen. Neue Studien aus Großbritannien belegen, dass Kunstwerke in den Behandlungszimmern, Gängen und Eingangshallen die Stimmung der Patienten verbessert. Sie lenke diese nicht nur von ihren gesundheitlichen Sorgen und Problemen ab, sondern, wie die Forscher vermuten, sie mache ihnen auch den Weg frei für »kleine Fluchten in positive Imaginationen«.
- Kunst kann außerdem wie ein positiver emotionaler »Anker« wirken. Wie das Bild eines geliebten Menschen auf dem Schreibtisch bei jedem Anblick gute Gefühle in Ihnen hervorrufen kann, oder eine bestimmte Melodie Sie, wann immer Sie sie hören, an einen schönen Moment erinnert (siehe Abschnitt: Die wundersame Wirkung von Musik auf Körper und Seele, S. 126), so vermögen auch Bilder und Figuren, die Sie seelisch berühren, eine entsprechende positive Resonanz in Ihnen auszulösen. Allein der Anblick mancher Bilder, die in meinem Arbeitszimmer hängen, kann genügen, um mich in Stresssituationen ruhiger und gelassener werden zu lassen. Und wenn ich mal ganz wütend über etwas bin, dann kann es sein, dass ich schon nach einem Blick auf den lächelnden Buddha neben mir, selber anfangen muss, über mich zu lachen.
- So übernimmt Kunst, nach Dietrich V. Wilke, angesichts einer rückläufigen religiösen Bindungsbereitschaft und -fähigkeit, für viele Menschen mehr und mehr religiöse Kultfunktionen mit sinnstiftendem Heilsersatz. Kunst und Kultur gelten als prädestinierte Räume für religiöse Transformationsprozesse. Je mehr die Menschen heute ihren Bezug zur Transzendenz verlieren, desto mehr suchen sie in den profanen Erscheinungsformen der Ästhetik einen Ersatz.
- Last but not least hat auch der aktive künstlerische Schöpfungsprozess eine befreiende und heilende Wirkung für unsere Psyche, die vor allem in der Kunsttherapie mit Erfolg genutzt wird. Gefühle, die oft unaussprechbar sind, können in Bildern nach außen getragen werden. Die Bildsprache ist sensorisch, die Begriffssprache nicht. Deshalb ist die Bildsprache unmittelbarer und existenzieller, sie kann gewissermaßen ohne Umwege unsere Gefühle zum Ausdruck bringen und zu uns sprechen. So macht es sich auch die Kunsttherapie zunutze, dass Empfindungen und Erlebnisse eines Menschen sich unbewusst und unverfälscht durch die Arbeit mit Farbe und Ton in Bildern ausdrücken, und außerdem Anstoß geben, die eigene Kreativität zu entdecken und zu fördern, woraus sich für den Menschen tiefe Befriedigung und Glück ergeben können.
Das Entscheidende, was unsere Seele betrifft, ist daher wohl, dass Kunst bei uns etwas zum Schwingen bringen, etwas beleben kann, was normalerweise nicht so präsent ist. Es kann eine Seite in uns zum Klingen bringen, die vorher stumm war, eine Facette unserer Sehnsucht spiegeln, etwas Neues in uns wecken. – Ich werde nie vergessen, wie ich 1979 in Paris im Impressionistenmuseum (dem heutigen Musée d‘Orsay) ergriffen und fasziniert vor den Bildern von Gauguin stand. »Wie hat es dieser Maler in der damaligen Zeit geschafft, so ganz anders zu malen?«, schoss es mir durch den Kopf. Er hatte sich für eine gewisse Zeit in einen anderen Kulturkreis begeben. Im gleichen Moment erwachte diese Sehnsucht auch in mir, und ich beschloss noch dort vor Gauguins Bildern stehend, im Herbst des gleichen Jahres für sechs Wochen nach Griechenland zu gehen, um mich dort alleine auf mein Examen vorzubereiten. Heute kann ich sagen, dass diese Zeit mein Leben entscheidend verändert hat, und seitdem ist kein Jahr vergangen, in dem ich nicht mehrere Wochen alleine hier in Monemvasia verbringe. Der Auslöser war dieses Bild, das wie ein Katalysator einen inneren Prozess in Gang gebracht hat.
Kunst kann wahrscheinlich noch viel mehr bewirken! Was ist es für Sie? Was löst Kunst – und auch welche Kunst? – in Ihrer Seele aus? Vielleicht gönnen Sie sich ein paar Minuten, um darüber nachzudenken! – Und warum lesen viele Menschen so gerne?