Vor einigen Jahren forderte ich meine Tochter, als ich ihr bei den Hausaufgaben helfen wollte, auf: »Jetzt konzentrier dich bitte!« Da schaute mich die damals Achtjährige mit großen Augen an und fragte mich: »Ja, Papa, aber wie macht man das?« Im ersten Moment war ich sprachlos. Sie hatte vollkommen Recht: Wie oft werden Kinder aufgefordert, sich gefälligst zu konzentrieren, doch in den seltensten Fällen bekommen sie beigebracht, wie das geht. Wir haben ja keinen Schalter am Kopf, den wir bei Bedarf auf Konzentration stellen können. So begann ich ihr zu erklären, was ich seit Jahren in Seminaren Studenten und Führungskräften vermittelte. Das hätte ich schon viel früher machen können, dachte ich, und fragte mich gleichzeitig, warum unsere Kinder das eigentlich nicht in der Schule lernen – auch mir hatte es dort keiner beigebracht. Erst Jahre nach meinem Studium sollte ich herausfinden, wie man Konzentration bewusst herbeiführen kann, und dass es hauptsächlich auf drei Voraussetzungen ankommt:
Wir brauchen etwas, das unsere Aufmerksamkeit anzieht: eine konkrete Aufgabe, ein klares Ziel, das wir erreichen wollen. Sozusagen einen Magneten, der unsere Gedanken und mentalen Kräfte anzieht und sie gleichzeitig davon abhält, auf der Suche nach anderen Reizen zerstreut umherzuwandern. Je interessanter die Aufgabe, je faszinierender die Tätigkeit, desto stärker ist auch die mentale Magnetkraft und desto geringer sind die Ablenkungschancen der sonstigen potenziellen Attraktoren um uns herum. Hier zeigt sich gleichermaßen auch die Gefahr: Wenn die Anziehungskraft der Beschäftigung nachlässt (weil sie beispielsweise zu langweilig oder zu schwierig wird), geht unsere Aufmerksamkeit sofort auf die Suche nach einer attraktiveren Alternative. Jede Ablenkung scheint unserem Gehirn dann willkommen – und schon ist es vorbei mit der Konzentration.
Daher ist die zweite Voraussetzung die Abschirmung von allen potenziellen Störungen und Ablenkungen. Hierzu gehören vor allem Unterbrechungen durch Telefonate oder Personen, die uns meist nur »ganz kurz« etwas fragen oder ein wenig ratschen wollen, aber auch ankommende Post oder E-Mails, Bau- oder Straßenlärm. Auch unerledigte Aufgaben, die im Blickfeld auf dem Schreibtisch in Warteposition liegen, können, wenn wir nicht Acht geben, plötzlich unsere Gedanken anziehen, und schon sind wir weg von dem, was wir eigentlich tun wollten. Also gilt für das konzentrierte Arbeiten: Türe zu (gegebenenfalls mit Hinweisschild), Telefone aus (beziehungsweise auf Mailbox oder Kollegen umleiten) und Blickfeld frei (sonstige Attraktoren wegräumen)! Ablenkende Störungen können natürlich genauso von innen, aus uns selber kommen, vor allem in der Form von Sorgen oder plötzlichen Gedanken daran, was Sie sonst noch erledigen müssen. Legen Sie hierfür ein Blatt an, notieren Sie es kurz und terminieren Sie die Wiedervorlage innerlich nach Beendigung Ihrer momentanen Aufgabe. Sonst kann es passieren, dass Sie sich länger Gedanken darüber machen oder nachgrübeln und Ihre Konzentration verlieren.
Bitte unterschätzen Sie diese zweite Voraussetzung nicht. Die vielen Ablenkungen und Unterbrechungen tragen hauptsächlich dazu bei, dass wir so selten konzentriert einer Sache nachgehen können. Und der Feind Nummer eins der Konzentration – jetzt kommt eine schlechte Nachricht – ist in der heutigen Zeit zweifelsfrei das Telefon! Die gute Nachricht ist allerdings: Sie können es vorübergehend ausschalten oder ausstecken, ohne dass die Welt untergeht oder Sie bei anderen in Vergessenheit oder Misskredit geraten. Probieren Sie es aus, und sei es auch nur stundenweise. Ihre Konzentrationsfähigkeit wird davon erheblich profitieren, genauso wie das Ergebnis Ihrer Arbeit – und vor allem Ihr inneres Wohlbefinden.
Die dritte Voraussetzung betrifft die Attraktivität der Tätigkeit für unser Gehirn. Forschungen haben ergeben, dass es nicht auf den Inhalt einer Beschäftigung ankommt, sondern auf die richtige Inanspruchnahme des Gehirns. Damit wir uns konzentriert mit etwas beschäftigen können (und auch noch Freude dabei haben!), ist es entscheidend, dass uns die Tätigkeit weder über- noch unterfordert, sondern dass sich Herausforderung und persönliche Fähigkeiten die Waage halten. Der Spaß an einer Sache und die Fähigkeit zur Konzentration ereignen sich also auf dem schmalen Grat zwischen Überforderung und Unterforderung:
- Ist eine Aufgabe zu schwer und übersteigt sie unsere Fähigkeiten, wird unser Gehirn überfordert, es kann Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterscheiden, und bricht zusammen. Erfolgserlebnisse sind nicht mehr möglich. Frustration, Niedergeschlagenheit und Selbstzweifel stellen sich ein. Hinzu kommt, dass wir bei Überforderung in Stress geraten, und je nach Grad der Überforderung sogar in Angst oder gar Panik, was im Körper zu einer gesteigerten Adrenalinausschüttung führt. Für unser Gehirn eine weitere Beeinträchtigung: Je mehr Adrenalin wir im System haben, desto weniger können wir klar denken, denn Adrenalin verstopft gewissermaßen die Verbindung zwischen den Nervenzellen im Großhirn, die Synapsen: ein Teufelskreis. Um dies zu vermeiden, tendiert unser Geist natürlicherweise zum Ausweichen, um möglichst schnell zu einer einfacheren und angenehmeren Tätigkeit zu wechseln.
- Ist eine Sache dagegen zu leicht, verliert unser Gehirn ebenfalls die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, die Aufmerksamkeit geht verloren und Langeweile stellt sich ein. Unterforderung und Langeweile können auf Dauer allerdings zu seelischen Störungen und Depressionen führen. Dies zeigt unter anderem die Qual hochbegabter Kinder, die nicht ausreichend gefordert werden. Da unser Gehirn den Zustand der Leere und Langeweile nicht lange ertragen kann, macht sich unsere Aufmerksamkeit schnellstmöglich auf die Suche nach neuen stimulierenderen Reizen und Tätigkeiten.
- Wenn uns allerdings eine Tätigkeit fordert, ohne uns zu überfordern, können wir mit unserer Aufmerksamkeit länger bei ihr bleiben und den optimalen Zustand des »Flow« erleben, wie ihn der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi nennt: einen Zustand entspannter Konzentration, in dem wir Höchstleistungen erbringen können und auch noch eine angenehme Erregung bis hin zu leichter Euphorie empfinden (siehe dazu die Grafik S. 73). Diese positiven Gefühle beruhen zum einen auf der verstärkten Dopaminauschüttung in Momenten besonderer Aufmerksamkeit, einer Art »Schmiermittel für den Geist«, das unser Denken beschleunigt und die Kreativität steigert. Zusätzlich bewirken alle kleinen Erfolgserlebnisse die Ausschüttung von Endorphinen, jenen Hormonen in uns, die freudige Gefühle auslösen.
Entscheidend ist es also, eine Tätigkeit zu finden, die uns wirklich fordert, bei der wir aber gerade noch das Gefühl der Machbarkeit haben. Es mag sein, dass wir uns am Anfang etwas zur Konzentration überwinden und unseren Fokus bewusst zu unserer Beschäftigung zurückholen müssen, falls wir abschweifen. So wie es auch mehr Energie erfordert, eine Lokomotive in Fahrt zu bringen als sie auf gerader Strecke vorwärts zu bewegen. Doch wenn wir mit der Konzentration einmal in Fahrt sind, ist es meist ganz einfach, bei der Sache zu bleiben. Fazit: Um Konzentration zu erreichen, gilt:
- Wählen Sie eine Tätigkeit, die Sie fordert, ohne Sie zu überfordern.
- Setzen Sie sich ein klares Ziel, am besten auch kleinere Zwischenziele.
- Schirmen Sie sich gegen Störungen ab. Und: Überwinden Sie sich am Anfang ein wenig, um Ihre Konzentration in Gang zu bringen!
Was können Sie nun ganz praktisch tun, um in Ihrem Leben wieder Inseln der Konzentration zu schaffen? Hier einige Anregungen:
- Ersetzen Sie Multitasking durch Monotasking: Erledigen Sie bewusst nur eine Sache auf einmal.
- Planen Sie TV-freie Abende und verlieren Sie sich wieder mal in der Lektüre eines Romans.
- Schützen Sie sich durch handyfreie Zeiten.
- Genießen Sie Zeiten des Aufräumens oder der Gartenarbeit.
- Ideal zum Eintauchen in den Augenblick und um die Zeit zu vergessen sind Spiele, egal ob mit anderen Erwachsenen oder mit Kindern, egal, ob Fußball oder Kartenspiele, Schach oder Gesellschaftsspiele.
- Vielleicht bereiten Sie ab und zu Ihr Essen wieder einmal selber zu, und erfahren dabei, wie befriedigend es sein kann, in Ruhe zu kochen – und natürlich hinterher auch die zubereitete Mahlzeit bewusst zu genießen.
- Basteln Sie mal wieder mit Ihren Kindern, Neffen oder Nichten. Vor allem die Vorweihnachtszeit bietet dazu gute Gelegenheit.
- Ob Bergsteigen, Langlauf oder Segeln, Tennis, Reiten oder Golfen – die meisten Sportarten sind ideale Möglichkeiten, Konzentration und Flow zu erleben, genauso wie künstlerisch-gestalterische Tätigkeiten wie Malen, Schreiben, Musizieren oder Tanzen.
- Letztlich können Sie bei jeder Arbeit, der Sie nachgehen, Konzentration oder Flow erleben!
All dies sind nur einige Beispiele, wie Sie durch konzentriertes Tun eins mit einer Tätigkeit und mit sich selber werden können. Und bitte vergessen Sie nicht: Entscheidend für das innere Auftanken ist nicht primär der Inhalt, nicht, was Sie tun, sondern, wie Sie es tun – wichtig ist der Prozess der Konzentration als solcher, ein für Ihre Seele und Ihr Wohlbefinden äußerst heilsamer Vorgang.
Hier haben Sie wieder die Gelegenheit, die für Sie wichtigsten Informationen zu dieser Seelenquelle festzuhalten:
Konzentriertes Tun: Festhalten und mitnehmen möchte ich