RAUM SCHAFFEN FÜR DIE SEELE

 

In seinem Buch der Lebenskunst erzählt Pater Anselm Grün folgende Geschichte: Der christliche Mönchsreformer Bernhard von Clairvaux (1090–1153) riet einst Papst Eugen III., seinem früheren Schüler: »Gönne dich dir selbst!« Der Papst hatte sich zuvor bei ihm beklagt, dass er vor lauter Arbeit und Beschäftigung gar nicht mehr zum Beten komme und darüber ganz unglücklich sei. Statt ihn zu bemitleiden, ermahnte ihn der Mönch: Er sei selber schuld, wenn er so viel arbeite, wenn er meine, jedem Bittsteller helfen zu müssen und sich auf alle Angelegenheiten einlassen zu müssen. Gerade weil er eine verantwortungsvolle Stellung innehabe, sei es notwendig, dass er für sich selber sorge. Denn: »Wer nicht für sich selber sorgt, wird mit seiner Sorge für die anderen keinen Segen bringen!« Sie werde ihn vielmehr innerlich verhärten und bitter werden lassen. Wenn er den anderen so viel Zeit gönne, so solle er auch sich selbst genügend Zeit gönnen, damit seine Seele atmen könne, damit er das Leben spüre. Aber er solle sich nicht nur Zeit gönnen, sondern sich auch sich selbst gönnen.

Je geschäftiger und hektischer unser Leben ist, desto wichtiger wird es, uns immer wieder Raum und Zeit zu gönnen, damit die Seele wieder aufatmen und leben kann. Arthur Rubinstein sagte einmal, die wahre musikalische Kunst liege nicht in der Notenbeherrschung verborgen, sondern in den Pausen zwischen den Noten.  Und auch in unserem Leben sind die Pausen, in denen wir seelisch Luftholen können genauso wichtig wie die Pausen zwischen den Noten oder die Freiräume zwischen den Bildern in einem Museum: Ohne diese können weder Musiknoten noch Bilder wirken, und auch wir können nicht richtig wirken, wenn wir uns nicht immer wieder zeitliche Freiräume für uns selber gönnen.

In diesen Freiräumen haben wir Zeit, ganz und ausschließlich für uns alleine, ohne dass wir irgendetwas Bestimmtes tun müssen. Es ist eine Zeit des »Seins«, nicht des «Tuns«. Eine Zeit, die nicht strukturiert ist, in der wir nicht wieder irgendein Ziel verfolgen, sondern einfach die »Seele baumeln lassen« können. Machen Sie sich bewusst: Beim Baumeln in einer Hängematte, beim Schaukeln als Kind hat man kein Ziel, man schwingt einfach hin und her. Und genau das liebt unsere Seele auch: einfach nur schwingen, sich im Augenblick treiben lassen, und zwar von innen getrieben – nicht von außen.

Es geht darum, sich ohne ein bestimmtes Ziel von innen treiben zu lassen, statt von außen getrieben zu werden!

 

Schaffen auch Sie sich solche Zeit-Räume: Erlauben Sie sich gelegentlich, einfach nur das zu tun, wonach Ihnen gerade ist, was Ihnen spontan Spaß macht. Schauen Sie während solcher Momente möglichst nicht auf die Uhr – diese Zeit sollte gewissermaßen »frei von Zeit« sein. Egal, ob es nur eine Stunde ist, die Sie im Park schlendernd spazieren gehen, in einem Café sitzen und die Menschen beobachten oder träumend auf Ihrem Sofa liegen, widerstehen Sie der Versuchung, auch nur irgendetwas »Sinnvolles« tun zu wollen! Genießen Sie die Zeit, um einfach nur zu leben, zu beobachten, sich selber zu spüren – wie auch immer es Ihnen gerade gehen mag, ohne etwas verändern oder bewerten zu müssen. Erleben Sie das Leben, wie es gerade ist. Das mag nicht immer leicht sein, aber wenn Sie ab und an eintauchen in diese reine Wahrnehmung des Lebens, so wird Ihre Seele dabei auftanken und aufleben. Denn die Seele lebt im Augenblick – im entspannten, ungeplanten, unreflektierten Augenblick.

Nehmen Sie sich Zeit für sich. Gönnen Sie sich Momente, in denen Sie allein mit sich selbst sein können: Momente, in denen keine Ansprüche anderer, keine vermeintlichen Verpflichtungen Sie antreiben oder Ihnen gar ein schlechtes Gewissen bereiten können. Momente, in denen Ihnen niemand sagt, was Sie zu tun haben.

Nehmen Sie sich immer wieder den Zeit-Raum des Bei-sich-sein-Dürfens

 

Solche Zeit-Räume des »Bei-sich-Seins« gilt es zu schützen: vor Störungen, Ablenkungen oder allzu vielen Reizen. Dann haben die täglichen Probleme und Sorgen, die Bewertungen und Verurteilungen anderer oder von uns selbst keinen Zutritt. Wenn sie dennoch ungefragt auftauchen, dann nehmen Sie sie wahr ... und lassen Sie sie weiterziehen, ohne ihnen nachzugehen, und vor allem, ohne ihnen Raum zu geben! Kehren Sie zu sich selber zurück, zu dem, was Sie sich gerade gönnen.

Und in solchen Momenten kann es sein, dass Sie entdecken, dass es nicht nur um den Zeit-Raum geht, sondern dass es in Ihnen selber einen solchen Raum gibt, zu dem die alltäglichen Probleme keinen Zutritt haben, in dem Sie auftanken können.

Stellen Sie sich vor, es gäbe in uns verschiedene »Innenräume« mit jeweils unterschiedlichen seelischen und emotionalen Qualitäten. Da mag es die helleren Räume der Freude, der Liebe und des Mitgefühls und die eher dunkleren der Trauer, der Angst und der Wut geben; neben all diesen Räumen gibt es aber noch einen heilen inneren »Schutzraum«, in dem Sie ganz und auf Ihre Weise vollkommen sind. Hier können Sie einfach so sein, wie Sie sind, mit all Ihrer Zerrissenheit und Ihren Fehlern, ohne irgendetwas verändern zu müssen. Hier können Sie erfahren, dass Sie zwar Fehler haben, aber nicht Ihre Fehler sind. Hier werden all Ihre sonstigen Sorgen relativiert und verlieren ihre Macht über Sie. In diesem Raum müssen Sie auch Ihre Schwächen nicht mehr bekämpfen und besiegen. Und Sie erfahren, dass letztlich in diesem Raum nichts über Sie Macht hat. Hier sind Sie heil und ganz, wie Anselm Grün es beschreibt.

In diesem Schutzraum können Sie feststellen, dass einzig die Vorstellung, dass etwas anders sein müsste, dass wir anders sein müssten, uns hindert, einfach zufrieden mit dem zu sein, was gerade ist, und es zu genießen. Die volle Dimension des Lebens öffnet sich uns dann, wenn es uns gelingt, die Gegenwart so zu akzeptieren und in sie einzutauchen, wie sie ist, ohne gerade etwas verändern zu wollen. Dann können wir auch uns so spüren und annehmen, wie wir sind und ein Gefühl des inneren Friedens empfinden.

Unsere Seele mag sich in all den verschiedenen Innenräumen aufhalten können, auftanken wird sie in erster Linie in diesem heilen Schutzraum. Diesen Raum können auch wir im Alltag immer wieder kurz oder länger aufsuchen, gewissermaßen in ihn eintauchen. Je öfter wir es tun, umso leichter wird es gehen und umso besser wird es uns seelisch ergehen!

Doch wie lassen sich im heutigen Alltag überhaupt die Zeiträume finden, um in diesen inneren Schutzraum einzukehren? Sich solche Zeitoasen zu schaffen, ist nicht leicht. Diese Räume schaffen sich nicht von selber, im Gegenteil: Der zentrifugale Sog des äußeren, schnell rotierenden Lebens zieht uns in der Regel sofort aus dem Zustand des Bei-uns-Seins oder des Einfach-nur-mit-uns-Seins heraus – daher auch die weit verbreitete Tendenz, sobald freie Zeit da ist, diese sofort wieder mit allen möglichen Aktivitäten und Beschäftigungen zu füllen. Vielleicht haben auch Sie schon erlebt, dass Sie nach einem Urlaub, in den Sie möglichst viele Erlebnisse und Vergnügungen hineinpacken wollten, erschöpfter zurück kamen als Sie abgereist waren?

Am Anfang mag es Sie sogar Überwindung kosten, falls Ihnen diese Erfahrung noch (relativ) unbekannt ist oder falls Ihnen auf dem Weg in die eigenen Innenräume auch ein paar »Krokodile im Keller« in Form von verdrängten Gefühlen, Ängsten oder ungelebten Seiten, die in Ihrem Alltag bisher keinen Platz haben durften, begegnen. Schauen Sie sie an und gehen Sie ruhig an ihnen vorbei – so bedrohlich sie auch aussehen, sie beißen nicht! Je genauer und öfter Sie sie betrachten, desto harmloser und vertrauter werden sie Ihnen werden. Und vielleicht gelingt es Ihnen mit der Zeit, unter Umständen auch mit der professionellen Unterstützung eines Coaches oder Therapeuten (gewissermaßen mithilfe eines »Krokodildompteurs«), das eine oder andere von ihnen zu zähmen und in Ihr Alltagsleben zu integrieren. Je häufiger Sie die Erfahrung machen, wie wohltuend und bereichernd ein solcher Aufenthalt in Ihrem inneren Schutzraum sein kann, desto leichter wird es Ihnen fallen, dort immer wieder einzukehren: Alle Erfahrungen, die wir machen, werden in unserem Nervensystem gespeichert. Und unser automatisches Steuerungssystem tendiert nun mal dazu, positive Erlebnisse zu wiederholen und negative zu vermeiden. Mit jeder tiefen, erfüllenden Erfahrung in Ihrem Innenraum wird Ihr Nervensystem Sie unterstützen, ja gewissermaßen auffordern, dorthin zurückzukehren. Denn – so paradox dies auch klingen mag – unverplante Zeit-Räume entstehen meist nur aufgrund genauer Planung.

Mehr dazu werden Sie in Teil III dieses Buches erfahren. Aber machen Sie am besten schon jetzt ein Rendezvous mit sich selber. Reservieren Sie sich für den kommenden Donnerstag eine Stunde in der Mittagszeit, oder nächste Woche den Freitagnachmittag, oder gar einen ganzen Samstag in drei Wochen, um nur das zu tun, wonach Ihnen dann ist. Vielleicht haben Sie bei der Lektüre dieses Buches bis dahin etwas Neues kennen gelernt, das Sie gerne ausprobieren möchten, oder Sie haben sich an etwas erinnert, das Ihnen schon immer gut getan hat: Egal, ob Sie spazieren gehen, in einer Sauna entspannen, Musik hören, im Bett liegen und lesen oder in einem Straßencafé Menschen beobachten – tun Sie nur nichts »Nützliches«, Geplantes oder etwas, das Sie lediglich ablenkt und Ihre Zeit »vertreibt«, wie Fernsehen oder Computerspiele. Experimentieren Sie und finden Sie heraus, womit Sie sich am wohlsten fühlen, was Ihren Zustand des Bei-sich-Seins am besten fördert ... und lassen Sie Ihre Seele dabei auftanken.

Wo die Seele auftankt: Die besten Möglichkeiten, Ihre Ressourcen zu aktivieren: Die besten Möglichkeiten Ihre Ressourcen zu aktivieren
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