Ergriffenwerden statt Ergreifen
Die Momente tiefen seelischen Erlebens, in denen wir innerlich auftanken, sind meist Momente, in denen wir von etwas ergriffen werden: von den Klängen einer Musik, dem Ausdruck eines Bildes, der Schönheit einer Landschaft, den Augen eines Menschen, der Stille eines Ortes, der Faszination eines Theaterstückes, der Aussage eines Gedichtes oder der Kraft eines religiösen Rituals. Doch all dies sind Umstände, die nicht greifbar, fassbar oder berührbar sind. Sie können uns nur er-greifen, uns er-fassen, uns berühren – wenn wir es zulassen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zwischen äußerem Leben und innerem Erleben:
Das äußere Leben nährt sich
vom Er-greifbaren, Er-fassbaren und Berührbaren.
Das innere Er-leben nährt sich
vom nicht Er-greifbaren und doch uns Ergreifenden,
vom nicht Er-fassbaren und doch uns Erfassenden,
vom nicht Berührbaren und doch uns Berührenden.
Inneres Erleben, in dem unsere Seele auftankt, geschieht, wenn wir von etwas ergriffen und berührt werden. Oder kurz gesagt: Die Seele lebt vom Ergriffen-Sein!
Deshalb ist es so wichtig, Orte und Gelegenheiten zu kennen und zu suchen, an denen wir innerlich ergriffen und berührt werden können, seien es nun bestimmte Musikstücke, Bergwanderungen, die Stille im Wald, Sonnenuntergänge oder das Lesen vor dem Kaminfeuer. Und es ist auch wichtig, dies zuzulassen und auszuhalten, selbst wenn wir rational nicht genau erfassen oder begreifen können, was es letztlich ist, das uns da tief berührt. Dies ist für viele, insbesondere für analytisch veranlagte Menschen am Anfang nicht leicht, da sie oft Angst davor haben, die Kontrolle über solche nicht erfassbaren Erlebnisse zu verlieren. Gleichzeitig erfordert es aber auch Offenheit und Geduld, denn das Ergriffenwerden lässt sich nicht erzwingen oder bewusst herbeiführen, es lässt sich nicht »machen«.
Wenn jemand gestern bei einem Sonnenuntergang auf der Parkbank ein solches ihn tief ergreifendes Seelenerlebnis hatte, so kann es sein, dass er heute auf der gleichen Bank sitzt und bei einem nahezu gleich schönen Sonnenuntergang gar nicht viel empfindet. Und je mehr er sich bemüht, desto geringer werden seine Chancen, tatsächlich ergriffen zu werden: Um seelisch tiefes Erleben kann man sich nicht bemühen. Ja, Anstrengung und Ergriffenwerden schließen sich geradezu aus. Wir können es allenfalls zu-lassen, unsere Kontrolle los-lassen und, wenn wir ergriffen werden, uns darauf ein-lassen.
Ergriffen sein lässt sich nicht be-wirken, es kann nur wirken.
Es lässt sich nicht fassen, es kann uns nur er-fassen.
Es lässt sich nicht fest-halten, wir können es nur aus-halten.