Warum uns die Natur gut tut
Unsere Psyche braucht von Zeit zu Zeit als Ausgleich zur sachlichen, technisierten und uns oft überfordernden Welt die Möglichkeit, wieder eins zu werden mit einer natürlichen Umwelt und die Chance, sich an ihren Ressourcen zu regenerieren. In der Natur fühlt sich unser Körper wohl, da er selbst ein Teil von ihr ist. Nach dem Resonanzprinzip bringen die Schwingungen der Natur unsere eigenen natürlichen Schwingungen wieder zum Leben. Zahlreiche Studien des Center for Health Systems and Design an der Texas-University belegen die vielfältigen positiven Effekte der Natur auf das physische und psychische Wohlbefinden des Menschen. Auch in deutschen naturpsychologischen Forschungen werden diese mehr und mehr erkannt und bestätigt.
Die Kraft harmonischer Schönheit. Natürliche Schönheit ist eine Schönheit, die keineswegs perfekt, aber zeitlos ist, und von allem ausgeht, was lebt. Und Schönheit wirkt für unsere innere Befindlichkeit immer dann heilend, wenn sie der Ausdruck eines harmonischen Gleichklangs ist. Denn Harmonie wirkt heilend.
Das bestätigen weltweit Mediziner und Psychologen, die sich mit der Beziehung zwischen Immunsystem, Psyche und Nervensystem beschäftigen. Die Seele lebt von Harmonie: von harmonischen Bildern, harmonischen Klängen, harmonischen Gefühlen. Und nirgendwo gibt es mehr davon, als in der Natur. Beim Wandern durch blühende Wiesentäler, an einem Bach in der Tiefe des Waldes, beim Anblick eines Sonnenaufgangs am Meer, vor einem blühenden Mandelbaum stehend oder vor der Pracht einer Gebirgskulisse – wo man auch hinschaut: »Die ganze Gegend voller Landschaft«, sagt Ludwig Hösle, Allgäuer Bergführer und Naturliebhaber. Ja, gerade im Gebirge empfinden viele die Heilkraft der Natur – vielleicht auch, weil die Berge so groß und majestätisch wirken.
Die Wirkung der Weite. Ein weiter Ausblick erweitert auch die eigene Wahrnehmungsperspektive. Mit dem Weitblick gewinnt man auch wieder den Überblick über die eigene Lebenssituation, und nicht selten führt diese erweiterte Perspektive auch zu neuen kreativen Ideen für das private wie für das berufliche Leben. Dass Natur kreativ macht, hat auch eine Studie über die Entstehung betrieblich bedeutsamer Innovationsideen bestätigt: Die meisten kreativen Einfälle hatten die Mitarbeiter nicht auf speziell zu diesem Zweck veranstalteten betriebsinternen Mitarbeiterworkshops, sondern in der freien Natur. Genauso haben über Jahrhunderte die großen Philosophen, Schriftsteller und Maler immer wieder die Inspirationskraft der Natur aufgesucht, wie zum Beispiel Rilke, Hölderlin, Nietzsche, Rousseau, Gaugin und van Gogh, um nur einige von vielen zu nennen. Der weite Blick bewirkt außerdem eine Entspannung der Augen und damit der Wahrnehmung. Er zieht unsere Aufmerksamkeit hinaus in die Landschaft. Das Herz weitet sich, und mit der Zeit beschäftigen wir uns auch nicht mehr so viel mit uns selber. Seit Jahren erfahre ich diese Wirkung der erweiterten Perspektive, wenn ich mich zum Schreiben in die Natur zurückziehe. Immer stelle ich den Schreibtisch ans Fenster: mit Blick in die Weite, auf die Berge, das Meer oder den See vor mir. Das inspiriert nicht nur meine Arbeit, sondern bereichert zugleich mein seelisches Befinden.
Die dreidimensionale Wahrnehmung. Eng verbunden mit der erweiterten Perspektive ist auch der heute immer bedeutsamere Umstand der Dreidimensionalität der Naturwahrnehmung: Je häufiger wir auf zweidimensionale TV- oder PC-Bildschirme schauen, desto wichtiger wird die Kompensation durch natürliche Blickfelder und dreidimensionale Aussichten. »Die dritte Dimension, den Raum in seiner ganzen Tiefe wieder voll zu erfahren, ist ein ebenso notwendiger wie entlastender Ausgleich für die unnatürliche Sehweise auf Bildschirme oder Fernseher«, so Rainer Brämer.
Die Kraft des Lichtes. Wie wichtig das Sonnenlicht für unsere Stimmung ist, zeigt schon die traurige Tatsache, dass in fast allen nordischen Ländern Millionen von Menschen im Spätherbst und Winter unter depressiven Gefühlen leiden, von Medizinern kurz als SAD, saisonal abhängige Depression, bezeichnet. Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, geringe Leistungsfähigkeit und vor allem ein überhöhtes Schlafbedürfnis sind die auffälligsten Symptome, häufig begleitet von Heißhunger auf Kohlehydrate und Gewichtszunahme. Die verantwortliche Schaltzentrale in uns ist die lichtempfindliche Zirbeldrüse. Je weniger Licht ihr gemeldet wird, desto stärker kurbelt sie die Produktion des Schlafhormons Melatonin an. Melatonin wiederum hemmt die Ausschüttung der Geschlechtshormone, die unsere so genannten Frühlingsgefühle bewirken. Sonnenlicht dagegen verstärkt nicht nur die Produktion der wichtigsten Aufbaumoleküle für lebende Organismen, Melanin und Neuromelanin (nicht mit Melatonin zu verwechseln!), sondern auch der »Gute-Laune-Hormone« Serotonin und Dopamin. Das natürliche Tageslicht hat also eine signifikante Auswirkung auf unser Gehirn, die biochemischen Prozesse in unserem Körper und unsere Stimmung. Je mehr natürliches Sonnenlicht wir empfangen (natürlich in hautverträglicher Form), umso besser geht es uns. Deshalb werden in vielen Kliniken depressive Menschen mit Lichttherapie behandelt, durch Einsatz von Speziallampen, die weißes Spektrallicht zwischen 2 500 und 10 000 Lux liefern.
Wer im Freien genügend natürliches Sonnenlicht tankt, sorgt auf leichtere und bessere Weise für seine seelische Verfassung. Übrigens: Besonders groß ist der Bedarf an natürlichem Tageslicht auch bei Menschen, deren Arbeitsplatz mit herkömmlichen Neonröhren beleuchtet wird. Intensives künstliches Licht, das vom Sonnenspektrum abweicht, führt zu so genanntem Lichtstress mit einem beträchtlichen Anstieg der Hormone ACTH und Cortisol und auf Dauer ebenfalls zu Depressionen. Versuche haben ergeben, dass diese Stresshormone erst nach 14-tägigem Aufenthalt unter normalen Tageslichtbedingungen wieder auf ein normales Maß zurückgehen!
Die heilende Wirkung der Farben. Schon Johann Wolfgang Goethe beschäftigte sich in seiner Farbenlehre ausführlich mit der Wirkung von Farben und optischen Einflüssen auf das menschliche Gemüt. Auch in der Farbtherapie der Naturheilkunde wird die Erkenntnis genutzt, dass die Farben verschiedene so genannte Temperamente haben, also einen Charakter, der ihrer Heilwirkung entspricht. Während rotes und orangefarbenes Licht vor allem stimulierende und anregende Wirkung haben, unterstützt Gelb eher geistige und intellektuelle Tätigkeiten. In der Natur wirken jedoch hauptsächlich die Farben Blau und Grün. Seit der Antike ist wiederholt die beruhigende Wirkung von blauem Licht festgestellt worden. Sicher haben auch Sie schon erfahren, wie gut es tut, in das tiefe Blau des Himmels, des Meeres oder eines Sees zu blicken. Genauso kann ein Spaziergang in der grünen Natur und im Wald wahre Wunder wirken. Schon im Mittelalter sah die Äbtissin Hildegard von Bingen in der Grünkraft, der viriditas, die schöpferische Kraft Gottes in der Natur, die den Augen Ruhe gibt und sich wie Balsam auf die Seele legt. Und bei Krankenhauspatienten, die aus ihrem Zimmer ins Grüne blickten, wurde festgestellt, dass sie im Vergleich zu anderen Kranken, die nur auf Gebäude oder Wände blickten, schneller gesund wurden und auch weniger Schmerzmittel und persönliche Zuwendung bedurften.
Der Zauber des Wassers. Am Meeresstrand auf die weite Wasserfläche zu schauen, dem Rauschen der Brandung zu lauschen oder einem plätschernden Gebirgsbach zu folgen, gehört wohl zu den beruhigendsten und erquickendsten Erfahrungen, die die Natur uns bieten kann. Überhaupt hat Wasser, und sei es auch nur als kleiner Teich oder als Springbrunnen, eine positive Wirkung auf uns. Nicht umsonst finden sich solche Wasseranlagen in fast allen Park und Gartenlandschaften der verschiedensten Kulturen in Ost und West. Auch das Schwimmen im Wasser, das Tauchen in der lautlosen Tiefe des Meeres oder das Gleiten mit einem Segelschiff oder Surfbrett über die Wellen schafft eine noch intensivere Verbindung mit diesem Element. Und so mancher erfährt: Wasser reinigt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele!
Wohltuende Klänge. Nicht nur das Rauschen fließenden Wassers, sondern auch manch andere angenehme Geräusche begegnen uns in der Natur: das Wehen des Windes in den Bäumen, das Wiehern eines Pferdes, das Schnurren einer Katze und vor allem das Zwitschern der Vögel im Wald, für viele eine Art Seelenkonzert – zeitlose Klänge der Natur. Unter anderem haben Klangforscher festgestellt, dass die Obertöne der Vogelstimmen das menschliche Gehirn positiv beeinflussen. Ja, gerade als Gegensatz zur permanenten Geräuschkulisse unseres Alltages ist vor allem die Stille in der Natur ein wertvoller Ausgleich, der auch in uns wieder Ruhe entstehen lässt. Ist es Ihnen im Gebirge oder mitten in einem dichten Wald auch schon einmal so vorgekommen, »als könne man die Stille hören«? Dabei muss es gar keine völlige Stille sein – selbst wenn sie bisweilen durch leises Rauschen, Wehen oder Zwitschern durchdrungen wird: Entscheidend ist, dass es keine künstlichen Geräusche von irgendwelchen technischen Geräten sind, sondern die heilsamen Klänge der Natur.
Futter für alle Sinne. Neben Augen und Ohren kann die Natur auch für unsere anderen Sinne ein wahres Paradies sein. Man beginnt, die Luft zu schmecken, den würzigen Duft des Herbstwaldes zu riechen, den frischen Wind im Gesicht zu spüren oder im Gehen den weichen Wiesenboden zu fühlen. Der ganze Körper erwacht, wenn wir die uns umgebende Natur plötzlich viel intensiver wahrnehmen. In unserer modernen technisierten Welt verkümmern unsere Sinne oft zu sekundären Instrumenten, und wir reduzieren unsere Wahrnehmung der Welt meist auf das Sehen und Hören.
In der Natur können wir dagegen wieder in einen unmittelbaren sinnlichen Kontakt mit unserer Umwelt treten. Je mehr wir unsere Umwelt als lebendig erleben, desto mehr wird auch unsere eigene Lebendigkeit geweckt. Das, was manche den »Geist der Natur« nennen, kann man am leichtesten über eine intensive sinnliche Wahrnehmung erfahren.
Stille und Beruhigung. Insgesamt wird die Natur seit Jahrhunderten als »stillend und seelenberuhigend« (Adalbert Stifter) empfunden. »An ihrer Brust konnte man angesichts rauchender Schlote und sich ausbreitender Manufakturen Trost finden« (Gottfried Keller). Die Natur bietet uns eine Fülle von Möglichkeiten zu intensivem Genießen. Und intensiver Genuss (siehe S. 99) gehört ja auch zu den Möglichkeiten, innerlich aufzutanken.
Deshalb also ist die Natur ein Ort, der vielen Menschen durch alle Zeiten und Kulturen immer wieder die Möglichkeit zu tiefen persönlichen Seins- oder Einheitserfahrungen gegeben hat, sei dies nun auf dem Gipfel eines Berges, in der Stille des Waldes oder am einsamen Meeresstrand. Schon seit Urzeiten bietet die Natur und die Wildnis dem Menschen einen Raum für Selbstfindung und Sinnsuche und für die tiefe Erfahrung der uns Menschen immanenten, ureigensten Lebenskraft, die von einem religiösen Menschen als »das Göttliche in uns« benannt wird. Entscheidend ist aber nicht die Frage der Bezeichnung, sondern die Erfahrung an sich, und diese wird von der Natur besonders begünstigt.