Wird die Geschichte (seit Generationen)
von Fälschern geschrieben?

Auch wir waren fassungslos. Wir brauchten ein wenig Zeit, bevor wir diese überraschende Erkenntnis akzeptieren können. Ein paar Tage lang sind wir verwirrt und ratlos durch die Bibliotheken gelaufen, die eben noch Schauplatz unserer Entdeckungen gewesen waren, und hofften, wir hätten uns geirrt. Eine naive Hoffnung! Als wir im 15. und 16. Jahrhundert angelangt waren, nachdem wir Jahre mit dem Studium von Quellen aus den folgenden Jahrhunderten, besonders des 17. und 18. zugebracht hatten, hatten wir uns bereits daran gewöhnt, immer wieder auf parteiische Historiker zu stoßen. Aber nie hätten wir uns eine solche Dreistigkeit beim Fälschen historischer Wahrheiten vorzustellen gewagt, und erst nicht recht, dass dies die wirklichen, ja sogar die einzigen Hauptfiguren der Geschichte sind: die Großen Fälscher. Wir hatten vorgehabt, uns in Gesellschaft Salais ein bisschen zu amüsieren, freilich mit den polemischen Absichten, die wir zu Beginn dieses Apologs erklärt haben, doch sieh mal einer an, wo unsere Nachforschungen uns hingeführt haben.

Die erste Reaktion war die, den Deckel dieser Büchse der Pandora schnell wieder zu schließen, alles aufzugeben und uns aufs Land zurückzuziehen; die zweite, etwas weniger radikale, uns sofort wieder dem Studium unseres geliebten Barock, anderthalb Jahrhunderte nach Burkard, zuzuwenden. Doch da meldete sich eine unangenehme Erinnerung an eine länger zurückliegende Begebenheit. Als Italien damals beschloss, unseren Büchern Tür und Tor zu verschließen, hatten wir ein interessantes Telefongespräch mit einem Journalisten des bekannten Wochenblatts L’Espresso, den wir kontaktiert hatten, weil wir ihm vorschlagen wollten, eine Rezension unseres ersten historischen Romans Imprimatur zu schreiben. Der Journalist (ein wichtiger Name in dem römischen Nachrichtenmagazin) bekundete zunächst großes Interesse und schlug sogar vor, in der Internetausgabe der Zeitschrift einige der von uns entdeckten historischen Dokumente zu zeigen. Nachdem er den Roman gelesen hatte, änderte sich der Ton. «Ihr Buch ist gefährlich!», brüllte er mehrmals hysterisch am Telefon, während wir vor Überraschung verstummten. «Es suggeriert die Vorstellung, dass die ganze Geschichte eine Fälschung ist, dass in den Büchern der Historiker nur Unsinn steht. Wollen Sie wissen, was ich denke? Ich hoffe inständig, dass niemand etwas von Ihrem Buch erfährt und dass keine Zeitung auch nur eine Zeile darüber schreibt!» Dann wartete er auf unsere Reaktion. Wir bedankten uns für die interessante Meinungsäußerung und verabschiedeten uns höflich (nachdem wir aufgelegt hatten, mussten wir uns erst einmal hinsetzen, um uns von der Überraschung zu erholen).

In Italien ist der Wunsch des Journalisten vom Espresso in Erfüllung gegangen. In der übrigen Welt, wo Imprimatur und die folgenden Bücher in einundzwanzig Sprachen übersetzt wurden, ist die Sache anders verlaufen. Seit den Zeiten des Borgia-Papstes sind die Angst vor Ideen, die den Status quo in Frage stellen, und die Mittel, sie zu unterdrücken, unverändert die gleichen geblieben.

Nachdem wir uns an diesen Vorfall erinnert hatten, erkannten wir, dass es durchaus nicht darum ging zu entscheiden, ob wir auf dem eingeschlagenen, mühsamen Weg weitergehen wollten oder nicht: Dazu hatten wir uns schon vor Jahren mit Imprimatur entschieden, und jener zu repressiven Mitteln neigende Journalist hatte es schon früher begriffen als wir. Darum sind wir jetzt hier und schlagen uns mit Salai herum. Zum Barock werden wir bald zurückkehren und ihn nach dieser Erfahrung mit neuen Augen sehen.

Im Übrigen können, dürfen und wollen wir im Moment keine Antwort auf die Frage im Titel dieses Schlusskapitels geben, sondern nur auf das bereits zitierte Werk in sechs Bänden (und etwa viertausend Seiten Umfang) über die mittelalterliche Fälschungspraxis hinweisen: Fälschungen im Mittelalter – Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München 16.-19. September 1986, Hannover 1990. Hieraus stammen die Informationen über Fälschungen auf deutschem Gebiet, von denen der Alte berichtet, den Leonardo und Salai um Rat fragen, außerdem die Angaben über Trithemius, den gewisse Teile der Historiographie immer noch zu retten versuchen, indem sie ihm mildernd «höhere Zwecke» zubilligen (nämlich Deutschland eine große Vergangenheit zu geben), Zwecke, die Trithemius jedoch dazu verleiteten, die Ursprünge des deutschen Volkes frei zu erfinden. Dem Leser, der sich in die sechs Bände von Fälschungen im Mittelalter vertieft, werden die Augen durch die Lektüre dieser Beispiele eher geöffnet als durch alle abstrakten Darstellungen. Wie im Vorwort zum ersten Band zu lesen ist, hat die Breite des Themas die anfänglichen Erwartungen der Organisatoren des Kongresses weit übertroffen, und die Fülle des Quellenmaterials, das während der Tagung vorgestellt wurde (1028 Fälle von Fälschungen), hat alle Teilnehmer erstaunt. Viel mehr hätte noch hinzugefügt werden können, auch aus den vorhergehenden und folgenden Jahrhunderten, doch dieser schon zwanzig Jahre zurückliegende Kongress hat – vielleicht nicht zufällig – nicht noch einmal stattgefunden. Zu viel Sprengkraft in dem behandelten Material?

«O Leser, ich hab dir vorgelegt (…) nun musst du speisen», dichtete Dante am Beginn des zehnten Gesangs des «Paradies».

Die geneigten und aufmerksamen Leser, die uns bis hierhin gefolgt sind, vielleicht sogar seit den Zeiten von Imprimatur, haben wahrscheinlich gelernt, hinter die Kulissen der – wie Napoleon sie gerne nannte – Fabel zu schauen, die zu glauben man übereingekommen ist und die Geschichte heißt.

ANHANG

Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
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