Salaì und Leonardo
Die Art der Beziehung zwischen Salaì und seinem Ziehvater so wie das leichtsinnige, launenhafte Naturell unseres Protagonisten sind Historikern viel zu gut bekannt, als dass man hierfür noch Beweise liefern müsste (vgl. z. B. C. Vecce, Leonardo, Rom 1998, S. 129-130, 133-134 passim).
Der lockenköpfige Junge, dessen richtiger Name Giangiacomo Capretti lautet, wird Leonardo von seinem leiblichen Vater im Alter von zehn Jahren zur Adoption übergeben. Leonardo soll sein Pflegevater und Lehrmeister werden, und der Junge soll der Armut entkommen. Sofort zieht Giangiacomo sich seinen bösen Spitznamen zu: Salaì oder Saladino, wie der wilde Sarazene. Denn schon am ersten Tag seines Lebens bei Leonardo stiehlt er ihm Geld aus der Börse, was Leonardo in seinen Aufzeichnungen vermerkt. Am zweiten Tag lässt der Künstler für Salaì zwei Hemden, ein paar Hosen und eine Jacke schneidern. Zum Dank nimmt der Junge wieder Geld aus Leonardos Beutel und weigert sich, den Diebstahl zu gestehen, obwohl er in flagranti ertappt wurde. Am Rand des Blattes notiert Leonardo «Dieb, Lügner, Dickschädel und Fresssack». Am dritten Tag zerbricht Salaì im Haus eines mit seinem Ziehvater befreundeten Architekten drei Pokale und verschmutzt den Tisch mit Wein (Leonardo notiert: «Er aß für zwei und richtete Schaden an für vier»). In den folgenden Tagen stiehlt der kleine Teufel ein silbernes Werkzeug eines anderen Schülers von Leonardo, der sich das Diebesgut aus Salaìs Truhe zurückholt. Einen Monat später entwendet er seinem Adoptivvater ein Stück türkisches Leder, aus dem Stiefel gemacht werden sollen, und verkauft es an einen Schuster. Von dem Erlös kauft er sich Aniskringel und Süßigkeiten. Noch einmal stiehlt er einem Schüler Leonardos ein silbernes Werkzeug. Die geschickten Diebstähle sind eine Konstante: Auf einem Fest, das sein Adoptivvater in Mailand für den Hof der Sforza ausrichtet, beobachtet der freche Bengel, wie einer der Lakaien sich entkleidet, um sein Kostüm anzuziehen (eine der Masken der «wilden Männer», auf die Salaì anspielt, als er für Paride Grassi in der Höhle Theater spielt), und klaut ihm den Geldbeutel, den er auf dem Bettrand ablegt. Auch diese Episode taucht in einer Notiz Leonardos auf.
Wer nicht glaubt, dass Salaì seine Briefe mit Tinte bekleckerte, kann unter Leonardos eigenen Werken und denen zeitgenössischer Künstler zahlreiche Abbildungen von Salaìs schönem Kopf finden, aber überraschenderweise auch ein ungeschicktes, mit Tintenflecken versehenes Selbstporträt Salaìs (vgl. E. Möller, Salaì und Leonardo da Vinci, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, XVI [1928], S. 139-161).
Auch die Spionagetätigkeit Salaìs ist nicht unserer Phantasie entsprungen. Historiker haben nachgewiesen (Vecce, S. 343), dass der junge Mann tatsächlich als Informant bei einflussreichen Persönlichkeiten im Sold stand: zum Beispiel bei dem ehemaligen Herzog von Mailand Massimiliano Sforza, der Salaì großzügig (125 Scudi im Jahr) für vertrauliche Informationen aus dem Mailänder Hof bezahlte, die er an Sforzas Sekretär weiterleiten musste.