Der Fall De Roo
In Wahrheit mangelt es nicht an Versuchen, die Geschichte der Familie Borgia seriös und objektiv zu untersuchen, doch sie sind von der offiziellen Kritik alle gewaltsam unterdrückt worden. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts veröffentlichte der belgische Priester Peter De Roo ein monumentales Werk über Alexander VI., seine Familie und seine Zeit (Literaturangabe siehe oben). Es ist das umfassendste Werk, das je über den Borgia-Papst geschrieben wurde, gestützt auf eine beeindruckende Dokumentation der Quellen, die in Dutzenden Archiven in Italien und im Ausland zusammengetragen wurde und zu der Hunderte konsultierter Bücher hinzukommen. Mit seiner äußerst detailreichen Rekonstruktion gelingt es De Roo, die rufschädigenden Gemeinplätze in der Biographie Alexanders VI. und seiner Verwandten Punkt für Punkt zu widerlegen. Er zeigt, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass Cesare und Lucrezia Borgia leibliche Kinder des Papstes waren und er eine Geliebte namens Vannozza Cattanei hatte. Die damaligen Botschafter, sogar die Gesandten feindlicher Potentaten, sprechen in ihren geheimen Sendschreiben an ihre Herrscher von Cesare und Lucrezia immer nur als Neffen des Papstes, niemals als seine Kinder. Aus De Roos gründlichen Recherchen geht hervor, dass die Eltern von Cesare und Lucrezia eine Vannozza Cattanei und Guglielmo Raimondo Lançol de Borgia, ein Neffe des Papstes, waren. In Rom gab es mindestens noch eine andere Frau mit Namen Vannozza Borgia (De Roo, Bd. I, S. 146; nach Ferrara, S. 128, konnten es auch drei oder sogar vier gewesen sein), die mit dem Papst nichts zu tun hatte, wie Salai erzählt. De Roo weist darauf hin, dass es zu dem Zeitpunkt, als Alexander VI. mit sechzig Jahren zum Papst gewählt wurde, kein einziges bis heute erhaltenes Dokument gab, das von seinen Beziehungen zu Vannozza spricht. Feinde hatte er damals schon viele, und sie bezeichnen ihn als hochmütig, heuchlerisch und gerissen, aber sie dichten ihm keine Geliebte und keine Kinder an. Als der Botschafter von Florenz seiner Stadt über den Fortgang des Konklave berichtet, erklärt er, dass Kardinal Ardicino della Porta nicht gewählt werden kann, weil er einen Sohn hat, aber sein Bericht enthält nicht die geringste Anspielung auf vermeintliche und wirkliche Kinder des Kardinals Borgia, der dann gewählt wird.
De Roo beweist außerdem, dass das Konklave, aus dem Alexander VI. als Papst hervorging, alles andere als simonistisch war, im Gegenteil, er wurde einstimmig gewählt, wie alle Botschafter der italienischen Staaten (Florenz, Ferrara, Lucca, Genua, Mantua, Mailand usw.) ihren Herren berichten. Überdies erwartete der Borgia nicht einmal, dass er gewählt werden würde, darum beschlossen die beiden anderen spanischen Kardinäle, von denen einer sein Cousin war, gar nicht erst, am Konklave teilzunehmen. Das Märchen vom simonischen Konklave tauchte erst später auf, wurde mit Hilfe gefälschter Papiere in alle Himmelsrichtungen hinausposaunt (einige davon grobe, fehlerhafte Fälschungen, zum Beispiel ein angeblicher Brief von Pietro Martire A’Anghiera vom 19. Juli 1492, der berichtet, dass der Borgia Papst wurde, weil er seine Wahl bezahlt hatte. Aber die Papstwahl fand am 11. August statt …) und von den modernen Geschichtsschreibern akzeptiert, die es vorziehen, nicht allzu gründlich forschen zu müssen. Der Vorwurf des Ämterkaufs wird auch dadurch entkräftet, dass der Borgia-Papst am Morgen nach der Wahl eine Fülle von Benefizien austeilte, aber weniger an seine Freunde, nein, vor allem an seine Feinde: Er wollte die Kirche reformieren, und dafür brauchte er größten Zusammenhalt und Harmonie im Kardinalskollegium.
Tatsächlich trifft der Vorwurf der Simonie auch im Fall Ascanio Sforza nicht zu. Der Papst belohnte Sforza nicht mit dem Palazzo della Cancelleria für seine Stimme bei der Wahl. Es ist belegt, dass Rodrigo Borgia, als er Vizekanzler war, den Palazzo auf eigene Kosten erbauen ließ, da es in Rom kein Kanzleigebäude gab, und dass er ihn nach seiner Wahl zum Papst dem neuen Vizekanzler Ascanio Sforza überließ. Nach dessen Amtszeit blieb der Palazzo nicht im Besitz der Sforza, sondern beherbergte die nachfolgenden Vizekanzler, nämlich zwei Kardinäle Della Rovere und den Kardinal Giulio de Medici. 1521 beschloss der damalige Papst Leo X. den Palazzo von Kardinal Riario als neue Kanzlei zu benutzen. Der Palazzo Borgia wurde von da an «Palazzo della Cancelleria vecchia» genannt und erst 1535 von Papst Paul III. einem Zweig der Sforza geschenkt, den Sforza Cesarini, nach denen der Palazzo heute benannt ist. Diese Schenkung, die jedoch dreißig Jahre nach Alexanders Tod erfolgte, haben sich die historischen Verleumder Alexanders VI. für ihre diskreditierende Unterstellung zunutze gemacht, der Palazzo sei ein Wahlgeschenk des Papstes für Kardinal Sforza gewesen (vgl. De Roo, Bd. II, 11. Kap. S. 356).
Die Stärke von De Roos Buch liegt in der systematischen Untersuchung sämtlicher Details aus dem Leben von Rodrigo Borgia, von der Wiege bis an die Schwelle zur Papstherrschaft und darüber hinaus bis zu seinem unerwarteten, mysteriösen Tod. Gestützt auf Hunderte gedruckter und handschriftlicher Quellen wird jener Mythos gründlich entzaubert, nach dem der Papst seine politischen Gegner regelmäßig vergiftet haben soll (wenn es Kardinäle waren, um sich ihrer Reichtümer zu bemächtigen), eine unglaubliche Anzahl Konkubinen hatte, darunter auch Prostituierte, und eine große Schar unehelicher Kinder zeugte. Lucrezia soll Alexander VI. sogar einen Sohn und Enkel geboren haben. Außerdem wird Rodrigo Borgia böswillig unterstellt, er habe geheime Absprachen mit den Türken getroffen, sich den Papstthron durch Bestechung der Kardinäle gekauft, er sei als Politiker treulos und verlogen gewesen und habe seine eigenen Verbündeten verraten, indem er die Franzosen unter Karl VIII. aufforderte, Italien zu erobern. Er soll sich weltlichen Vergnügungen wie Tänzen, Bällen und Orgien hingegeben haben, und in diesen Zusammenhang gehört die lächerlich unglaubwürdige Geschichte, nach der er Dutzende von Prostituierten in den vatikanischen Palast holte, die seine Festgäste unterhalten sollten, indem sie nicht nur großzügig ihre Körper zur Verfügung stellten, sondern auch einen Wettkampf veranstalteten, bei dem es darum ging, auf dem Boden verstreute Kastanien mit der Vagina einzusammeln; all das unter dem herzlichen Gelächter des Papstes. Weiterhin soll er seinem Sohn Cesare, der des Mordes an seinem Bruder Juan angeklagt wurde (noch eine Verleumdung, die nie bewiesen wurde), einen Ablass gewährt haben. Zuletzt soll Alexander VI. während eines Banketts vergiftet worden sein, bei dem die vergiftete Speise, die er und Cesare ihren mit am Tisch sitzenden Feinden zugedacht hatten, irrtümlich dem Papst selbst und dem Valentino serviert wurde (der nach langer Krankheit wie durch ein Wunder genas).
Zu Recht weist De Roo darauf hin, dass alle Anschuldigungen der Unsittlichkeit sich auf die Zeit beziehen, in der Rodrigo Borgia bereits Papst war. In den sechsunddreißig Jahren seiner Tätigkeit als Kardinal Vizekanzler (das zweithöchste Amt nach dem Papst) gibt es unglaublicherweise niemanden – auch unter seinen Feinden nicht –, der von Geliebten und unehelichen Kindern des zukünftigen Papstes Alexander VI. berichtet. Sogar ein gefälschter Brief Papst Pius’ II., der nur dazu dient, den Borgia zu diffamieren (vgl. weiter unten im Kapitel «Die Methoden Pastors»), wagt nicht, so weit zu gehen.
Wie die Botschafter der italienischen Fürstentümer und Raffaele Maffei da Volterra (1451-1522) in seinem Commentariorum Urbanorum berichten, wurde an Rodrigos Tafel sogar nur ein Gang serviert, sodass Cesare Borgia und die andren Kardinäle nicht gern zum Essen bei ihm blieben, weil sie nicht hungrig vom Tisch aufstehen wollten. Die fünf Päpste, unter denen er als Vizekanzler tätig war, suchten seinen Rat, vertrauten ihm die wichtigsten Missionen an, beauftragten ihn, in ihrem Namen mit den Mächtigen der Erde zu verhandeln, und ließen sich auf all ihren Reisen von ihm begleiten. So zum Beispiel Pius II., als er zu einem Kreuzzug aufbrach. Diese Episode ist besonders aufschlussreich für die Böswilligkeit, mit der die Geschichtsschreibung das Leben Rodrigo Borgias geschildert hat. Pius II. war im Begriff, sich in Ancona einzuschiffen, um die Türken in Konstantinopel zu bekämpfen, als eine Pestepidemie ausbrach. Die Stadt quoll über von den Kreuzrittern des Papstes, ihre Zahl übertraf die der Einwohner um das Zwanzigfache. Sogar der Papst war in einem winzigen Häuschen einquartiert worden, und die Kardinäle mussten sich damit abfinden, dicht gedrängt zu mehreren in wenigen Zimmern zu schlafen. Viele erkrankten an der Pest, auch der Papst, der leider daran starb, und Rodrigo Borgia, der über Schmerzen in den Drüsen klagte und dessen Gesundheitszustand sich zusehends verschlechterte. Der Arzt glaubte ihn nicht mehr heilen zu können, weil Rodrigo «nicht allein geschlafen hatte» («non solus in ledo dormiverat»), und wegen des fortwährenden Kontakts mit den anderen erkrankten Kardinälen schien es unmöglich, der Ansteckungsgefahr zu entgehen. In der blühenden Anekdotendichtung um den Borgia ist die Bemerkung des Arztes sofort als schlüpfrige Anspielung auf ein erotisches Abenteuer des Vizekanzlers verstanden worden, und die Pest verwandelte sich bald schon in Syphilis, obwohl die Symptome dieser Krankheit sich bei dem zukünftigen Papst niemals zeigten.
Es sind viele Dokumente überliefert, in denen die fünf Päpste, denen er diente, den Kardinal Vizekanzler loben. Hier einige Beispiele:
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«Rodrigo Borgia leitet gegenwärtig die Kanzlei; gewiss, er ist jung an Jahren [er war mit fünfundzwanzig ernannt worden], aber was seine Vernunft betrifft, so ist er alt» (das Urteil von Pius II., dem berühmten Enea Silvio Piccolomini, wird wiedergegeben bei: Leonetti, Papa Alessandro VI. Bd. I, S. 166);
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Papst Sixtus IV. lobte seine «gewohnte Vorsicht, Rechtschaffenheit und Diensteifrigkeit und seine strenge Sittlichkeit» (Dokument seiner Bevollmächtigung, unterzeichnet von Sixtus IV. am 7. August 1477). Außerdem lobte er Rodrigo Borgias «beständige und ausgezeichnete und eifrige Tugend und überaus sorgfältige Genauigkeit» («Multis annis eximia virtutis solertissima et exactissima diligentia», Bulle vom 13. Juni 1482, Archivio Segreto Vaticano, Sixtus IV, Bd. LXXV, Regest 620, fol. 145). Wenn die Sittenstrenge wirklich ein schwacher Punkt des Borgia gewesen wäre, hätte der Papst wahrscheinlich vermieden, ihn ausdrücklich dafür zu loben …
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Innozenz VIII. schließlich, sein letzter päpstlicher Dienstherr vor seiner eigenen Wahl auf den Heiligen Stuhl, gibt in einer Bulle vom April 1486 unerwartet den protokollarischen Ton auf und dankt dem Vizekanzler Borgia in einer langen, informellen, lebhaften Lobrede für die dreißig Jahre seines Wirkens unter ihm und seinen päpstlichen Vorgängern: «In dieser Zeit hast du uns geholfen, die Pflichten der Kirche zu tragen, und hast unter der fortwährenden Arbeit den Rücken gebeugt, mit einer Sorgfalt, die jeder Mühe standhielt, unterstützt von deiner außergewöhnlichen Vorsicht, deinem Scharfblick, deinem reifen Urteil, deiner Aufrichtigkeit im rechten Glauben, deiner langen Erfahrung und all den anderen Tugenden, die man dir zuerkennt. Bis zum heutigen Tag hast du kein einziges Mal versäumt, uns nützlich zu sein» (Arch. Segr. Vaticano, Innocentius VIII, Reg. 682, fol. 251. Im 2. Band seines Werks, S. 455 f. gibt De Roo den Text dieser Bulle vollständig wieder). Solche Worte finden sich äußerst selten in den offiziellen Dokumenten der Kirchengeschichte. Zu jener Zeit war Rodrigo vierundfünfzig Jahre alt: Und nur sechs Jahre später sollte er sich in das Ungeheuer verwandeln, das man uns weismachen will?
War ganz Rom womöglich blind? Oder war es die unvorhergesehene Ankunft des spanischen Kardinals auf dem Papstthron, die zu solchen Klatschgeschichten anregte?
Eine einzige der Anklagen gegen Papst Borgia wird von De Roo bestätigt: der Nepotismus, da der Papst seinen Neffen Cesare tatsächlich begünstigte, was im Übrigen alle Päpste vor und nach Alexander VI. taten. Alle anderen Anschuldigungen dagegen werden von dem belgischen Historiker genau analysiert und eine nach der anderen widerlegt, wodurch auch die unglaubliche Reihe gefälschter Dokumente ans Licht kommt, auf die sie sich stützen.
Eines von vielen Beispielen ist die gefälschte Bulle, die Salai dem Alten im Keller zeigt und in der Cesare Borgia als «romanus» bezeichnet wird. Sie existiert wirklich: Die grobe Fälschung ist von De Roo entdeckt und nachgewiesen worden (Bd. I, S. 477fr.). Dennoch haben die bekanntesten unter den früheren und späteren Autoren (Pastor, Oliver, De l’Epinois) – unglaublich, aber wahr – sämtlich ein Auge zugedrückt. Die Bulle stammt aus dem bekannten spanischen Archiv des Herzogs von Osuna, einer wahren Fundgrube an Dokumenten, die, alle zum Zweck der Diskreditierung Alexanders VI. fabriziert, von mehreren Seiten bereits als Fälschungen erkannt wurden.
Diese Tatsache muss zu denken geben. Es gibt Dutzende Fälschungen, die keinen anderen Zweck hatten, als dem Ruf des Borgia-Papstes zu schaden. Dabei handelte es sich nicht um das Werk eines vereinzelten Irren, sondern mehrerer Fälscher, die wahrscheinlich ein gemeinsames Ziel verband. Doch wer wendet Zeit und Mühen auf, um mit Maßnahmen, die große Geschicklichkeit erfordern, das Andenken eines Papstes zu schmähen, der schon zu seiner Zeit von allen als frevelhaft und unmoralisch angesehen wird? Wer fabriziert Fälschungen, um den bereits besudelten Ruf eines Mafiabosses, eines Terroristen, eines bekanntermaßen korrupten Politikers in den Schmutz zu ziehen? Echte Dokumente und die Historiker sorgen schon dafür, ihnen den gebührenden Platz im kollektiven Gedächtnis zuzuweisen, da braucht es keine Fälschungen. Nur gegen ehrliche Menschen werden Verleumdungskampagnen konstruiert, nicht gegen Übeltäter.
Es gibt eine weitere unvermeidliche Frage: Warum haben auch die Historiker, die den Borgia-Papst gegen die zahlreichen, offensichtlich unbegründeten Bezichtigungen in Schutz nehmen wollten, die von De Roo angeführten Argumente und Beweise in ihren Arbeiten nicht zitiert? Sogar Soranzo oder Susanne Schüller Piroli (Borgia. Die Zerstörung einer Legende. Die Geschichte einer Dynastie, Olten, 1963; Die Borgia-Päpste Kallixt III. und Alexander VI. Wien 1979), die beide gegen die Verteufelung der Borgia ins Feld gezogen sind, zitieren die entscheidende Arbeit ihres belgischen Vorgängers an keiner Stelle.
Der Grund ist einfach: Die akademische Forschung und Lehre beruht vor allem auf Diskussionen und Wortgefechten. Je hitziger die Debatte wird, desto mehr Veröffentlichung gibt es; wenn die entsprechende Fakultät zunehmend Vorlesungsskripte und Publikationen (und vielleicht sogar Doktoranden) hervorbringt, steigen auch die öffentlichen oder privaten Zuschüsse, die die Macht (oder den Narzißmus) der Professoren nähren, die sie verwalten. Darum schreckt die akademische Forschung besonders in den geisteswissenschaftlichen Fächern vor endgültigen Lösungen zurück, die dem Geschwätz den Boden entziehen. Diese Neigung wird übrigens von anderen Intellektuellen geteilt. Wie der bekannte Chefredakteur verschiedener italienischer Zeitungen Claudio Rinaldi schrieb: «Der Journalismus ist ein Beruf, der vor allem aus Geschwätz besteht.» Es gibt also Berufsgruppen, die, recht besehen, unanfechtbar belegte Tatsachen, unangreifbare Thesen, bei denen man entweder schweigen oder mit derselben Akribie reagieren muss, nicht ertragen können. Weil jeder im Rampenlicht stehen möchte, darf die Diskussion nie enden. The show must go on. Darum ist es besser, den Papst halbherzig zu verteidigen und eine Flanke ungeschützt zu lassen, damit ein neuer Einwand der Gegner den Streit wieder aufleben lässt. So haben sich Soranzo und seine Kollegen, darunter auch jene, die entschlossen sind, Rodrigo Borgia zu verteidigen, ihre Plätze ergattert, indem sie sorgfältig vermeiden, die definitiven Beweise von De Roo zu zitieren (mithin zu diskutieren). Denn auf diese Weise beleben sie weiterhin die Bühne des akademischen Geschwätzes und bauen munter an immer neuen Kulissen.
Nach dem Erscheinen von De Roos Werk, durch das die Geschichtsschreibung unwiderruflich eines ihrer Lieblingsopfer verlor, hat sie sich nicht im Geringsten bemüht, die Argumente des belgischen Priesters zu untersuchen – sie hat ganz einfach so getan, als existierten sie nicht. Es erschien ihr zu aufwendig und vielleicht unmöglich, die minutiöse Analyse, in die der belgische Priester jahrzehntelang viel Arbeit gesteckt hatte, Punkt für Punkt zu widerlegen. In Fällen wie diesem, das heißt, wenn es eine Idee, ein Ereignis oder eine Person gibt, die bekämpft werden müssen, setzt der offizielle Wissenschaftsbetrieb gegen die Rebellen die einzige Waffe ein, die ihn nichts kostet und die, vorausgesetzt alle machen mit, sehr wirkungsvoll ist: das Totschweigen. So wird De Roos Arbeit in den Veröffentlichungen über die Borgia auch heute noch kaum zitiert, oder man beschränkt sich darauf, das monumentale, fünfbändige Werk in drei Zeilen abzuhandeln, weil es «ihm an kritischem Geist mangelt» (so Maria Bellonci in ihrer berühmten Biographie über Lucrezia Borgia). Nur in einer Fachzeitschrift (The American Historical Review, Bd. 31, Nr. 1 – Oktober 1925, S. 117-120) erschien eine Rezension, oder besser gesagt ein radikaler Verriss mit der Anklage der Parteilichkeit, der jedoch sorgfältig vermied, sich auf die Argumente De Roos einzulassen. Wie hätte er das auch bewerkstelligen können? Die Rezension umfasst gerade mal drei Seiten.
Das ist noch nicht alles. Das überaus nützliche, noch immer unübertroffene Werk von De Roo ist im Lauf der Zeit völlig vom Markt verschwunden. Auf der ganzen Welt gibt es nur noch sehr wenige Exemplare, die heute nur dank des Internets auffindbar sind, was bedeutet, dass sie vor den Möglichkeiten des Netzes praktisch für niemanden zugänglich waren. Zudem ist kein einziges Exemplar auf dem Markt für antiquarische Bücher erhältlich. Von den wenigen existierenden Exemplaren befinden sich fünf Stück in Ohio (in verschiedenen Universitäten); aber weder die am besten ausgestattete Bibliothek der Welt, die Library of Congress in Washington, besitzt ein Exemplar (obwohl das Werk gleichzeitig in Belgien und in den USA auf Englisch veröffentlicht wurde), noch die nahezu allwissende Pariser Nationalbibliothek. Zwei weitere Exemplare werden in Belgien aufbewahrt, drei in England, zwei in Kanada, eins in Spanien, zwei in Deutschland und zwei in Rom (in der Vatikanischen Bibliothek und in der Päpstlichen Universität Gregoriana). Siebzehn Exemplare in der ganzen Welt, als handelte es sich um eine äußerst seltene Inkunabel aus dem 14. Jahrhundert. Dagegen genügt es, auf der Webseite www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html (der besten Datenbank für die Suche nach Büchern in Bibliotheken oder Antiquariaten) nach einem beliebigen anderen Buch aus dem 20. Jahrhundert zu suchen, um herauszufinden, dass man Dutzende, wenn nicht Hunderte Exemplare davon finden kann, viele auch im Handel, vor allem dann, wenn das Buch, wie im Fall De Roo, in der meistverbreiteten Sprache der westlichen Welt, in Englisch, geschrieben wurde. Nur zum Vergleich: Von der Lucrezia Borgia von Ferdinand Gregorovius, einem scharfen Kritiker der Borgia, gibt es auf der ganzen Welt – zählt man die zum Verkauf stehenden, gebrauchten Exemplare und den Bestand in den Bibliotheken zusammen – 415 Exemplare. Wahrlich ein unfairer Wettkampf, der zwischen De Roo und seinen Gegnern, denn es gibt Dutzende, wenn nicht Hunderte Veröffentlichungen gegen die Borgia, während sich die ihrer Verteidiger an den Fingern einer Hand abzählen lassen.
Die Lektüre der Monographie von Peter De Roo verblüfft und erschreckt gleichzeitig: Jahrhundertelang hat kein Historiker die Dokumente untersucht, die die Borgia betreffen, die Quellen korrekt wiedergegeben, die Tatsachen mit kritischem und unparteiischem Blick ins Auge gefasst. Von Anfang an ging es darum, ein Ungeheuer zu erschaffen (aus der ganzen Familie Borgia) und ein Urteil letzter Instanz zu fällen. Tatsächlich haben Pastor, Picotti und viele andere Forscher gewarnt, niemand solle sich erdreisten, die Fama vom üblen Ruf Alexanders VI. anzutasten. Sie ist ein Dogma und darf nicht in Frage gestellt werden. Jedes Werk, das es wagte, diese offizielle Version in Zweifel zu ziehen, wurde grob verrissen, ignoriert, sogar verheimlicht – ein Vorgehen im Geist intellektuellen Faschismus, zu dessen objektivem Komplizen sich noch heute jeder Historiker der Borgia macht, wenn er eilfertig von den «autorisierten» Werken abschreibt.
Die Verfasser dieser Zeilen haben sich gefragt: Was kann man tun, um der Komödie der Lüge, die seit fünfhundert Jahren gespielt wird, ein Ende zu setzen? Wir haben, wie man sagt, den Stier bei den Hörnern gepackt: Wir haben das gesamte Werk De Roos, das, wie gesagt, auf Englisch verfasst ist, scannen und ins Internet stellen lassen. Auf der Webseite www.attomelani.net/english/deroo kann jeder es einsehen und dort die Antworten auf alle Fragen finden, die ihm zum Borgia-Papst kommen. Und er kann, wie wir, schmerzlich überrascht den Triumph der Lüge über die Wahrheit entdecken.