Burkards Fälschung
Die Geschichte um das berühmte Tagebuch des päpstlichen Zeremoniniars gehört zu den aufschlussreichsten Episoden dieses ungeheuren, tragischen Betrugs. Johannes Burkard, genannt Burcardo, war der wichtigste Ankläger der Borgia, und spätere Historiker berufen sich fast ausschließlich auf seine Aussagen. In seinem Tagebuch hat der Zeremonienmeister des Papstes das Fundament dafür gelegt, dass der schlechte Ruf Alexanders VI. und seiner Familie seit Jahrhunderten andauert, es ist die Quelle, die mehr als jede andere dazu beigetragen hat, die schwarze Legende um den Borgia-Papst zu schaffen und seine Verwandten mit Schmähungen zu überhäufen. Denn auf das Tagebuch von Burkard stützen sich mehr oder weniger stark alle Biographien der Familie und die Beschreibungen Roms zu seiner Zeit.
Aber ist das Tagebuch überhaupt echt? Ist es wirklich ein Werk Burkards, wenigstens zum Teil? So unglaublich es auch erscheinen mag, kein einziger der Historiker, die die Echtheit des Tagebuchs bis aufs äußerste verteidigen, hat je wahrnehmen wollen, dass der Text, der dem päpstlichen Zeremonienmeister zugeschrieben wird, munter bei den deftigen Erfindungen Boccaccias abschreibt. Die Erzählung vom Kaufmann, der von seinem Freund nackt in eine Truhe gesperrt wird, einschließlich des glücklichen Endes, das die beiden Freunde und ihre Frauen wieder versöhnt, ist wortwörtlich eine getreue Nachahmung der 24. Novelle aus dem Decamerone. Nur die Namen der Figuren sind geändert: Bei Boccaccio heißen sie Zeppa und Spinelloccio, bei Burkard werden sie zu Pietro und Giovanni. Henry Thuasne, der Herausgeber der ersten Ausgabe des Tagebuchs (Burchardi Johannis Diarium, Paris 1883-1885), verbannt diese beunruhigende Tatsache in eine knappe Fußnote. Nach ihm herrscht Schweigen. Generationen von Akademikern, Professoren und Gelehrten haben das freche (und als Faktum unbequeme) Plagiat verschwiegen, was beweist, wie wenig man sich manchmal auf die sogenannten Experten verlassen kann.
Der Italiener Giovanni Soranzo (Studi intorno a papa Alessandro VI, Mailand 1950, S. 62 ff.) erinnert an die gefälschten Briefe, die den Papst geheimer Absprachen mit dem türkischen Sultan Bayazet bezichtigen und in Burkards Tagebuch wiedergegeben werden. Wie Salai richtig bemerkt, wurden die Anweisungen des Papstes an den Gesandten, der den Kontakt zu Bayazet herstellen sollte, nach Aussagen der Verleumder (darunter auch Burkard) bei dem Notar Filippo de’ Patriarchi in Florenz deponiert. Ein störendes Detail: Einen Notar mit diesem Namen hat es in Florenz nie gegeben … (Soranzo, S. 63, Anm. 1).
Nicht weniger erschreckend ist die Tatsache, dass es von Burkards Tagebuch, aus dem die Historiker jahrhundertelang vertrauensvoll geschöpft haben, kein zweifelsfrei identifiziertes Original gibt, außer 25 Seiten, die die letzten drei Jahre, 1503-1506, umfassen. Tatsächlich liegen von Burkards Tagebuch verschiedene Abschriften vor (auch weil es erst dreihundert Jahre nach seiner Entstehung gedruckt wurde), aber nur in einer von ihnen wurde mit ausreichender Sicherheit die echte Handschrift des Autors erkannt, und es handelt sich wohl nicht zufällig nur um den Teil, der die Jahre nach dem Tod Alexanders VI. umfasst. Genauer: Dieses originale Tagebuch ist ab dem 12. August 1503 überliefert, also dem Tag, an dem Alexander VI. von einem mysteriösen Leiden befallen wurde, das ihn in nur sechs Tagen ins Grab brachte. Welch ein seltsames Zusammentreffen.
Kurzum, was das Pontifikat und die Jahre betrifft, in denen Rodrigo Borgia Kardinal war, müssen wir uns mit angeblichen Kopien des Tagebuchs begnügen, die zudem nicht persönlich von Burkard verfasst wurden. Sind es getreue Kopien? Wer hat sie geschrieben?
Wie schon vor vielen Jahren eingehend und mit detaillierten Belegen gezeigt wurde (vgl. F. Wasner, Eine unbekannte Handschrift des Diarium Burckardi, in: Historisches Jahrbuch, 83 [1963], S. 300-331), entstanden die Texte der wichtigsten Handschriften Burkards (nämlich das Original von 1503 bis 1506 und die ältesten Kopien) nicht kontinuierlich und in einheitlicher Form. Erst wurden jene Berichte geschrieben, die sich auf die Routine des päpstlichen Zeremoniale bezogen (Empfänge bedeutender Persönlichkeiten, liturgische Aktivitäten, Beförderung von Kardinälen, Feste, päpstliche Audienzen usw.); und danach wurden die «skandalösen» Nachrichten eingefügt, nämlich die Einzelheiten über die angeblichen Exzesse Papst Alexanders VI. und seiner Angehörigen. Wasner zeigt außerdem an (S. 331), dass aus dem lateinischen Vatikan-Kodex 5633 in der Vatikanischen Bibliothek in Rom, einer Sammlung unterschiedlicher Handschriften des päpstlichen Zeremoniars, mehrere Seiten entnommen wurden. Demnach handelt es sich nicht um ein richtiges Tagebuch, sondern um eine Art Kanevas, in den zu einem bestimmten Zeitpunkt und aus nicht offengelegten Gründen ganze Seiten herausgenommen und zahlreiche «pikante» Details kunstvoll eingeflochten wurden. Von einer langweiligen Beschreibung päpstlicher Zeremonien gelangt man zu einer erschütternden Reihe von Enthüllungen über die Hintergründe der Familie Borgia, über das sündige, korrupte Rom und das Papsttum, das einer kräftigen Säuberung bedarf.
Im Übrigen ist es höchst unwahrscheinlich, dass Burkard ein Tagebuch geführt hat, das ihn sofort den Kopf gekostet hätte, wenn es von Valentino oder anderen entdeckt worden wäre. So aber passt jeder Mosaikstein des Rätsels an seinen Platz: Die «skandalösen» Inhalte wurden dem Manuskript erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeimpft, vielleicht nach dem Tod Alexanders VI. als ohnehin unzählige gefälschte Dokumente hergestellt wurden, die sich auf sein Pontifikat bezogen (wie Ferrara, De Roo und andere behaupten), vielleicht auch schon vorher (wie Wasner meint, vgl. S. 330), aber auf jeden Fall a posteriori.
Wasner fragt sich natürlich, warum das alles geschah und vor allem für wen. Es gibt die Hypothese einer Rache (Wasner, S. 328): Burkard hatte den Ehrgeiz, Bischof zu werden, wie sein Vorgänger Agostino Patrizi, was Alexander VI. ihm jedoch verweigerte. Tatsächlich schwelte zwischen dem Papst und seinem Zeremonienmeister ein heimlicher Krieg: Wie Salai erzählt, bat Alexander VI. die deutsche Bruderschaft der Anima um Hilfe bei der Verteidigung der Stadt gegen das anmarschierende französische Heer, doch er erhielt eine klare Absage. Die überraschende Entscheidung, von der Spitze der Bruderschaft (zu der auch Angelo/Toefl gehörte, der Besitzer des Wirtshauses della Campana) gemeinsam gefällt, wurde dem Papst von Burkard persönlich mitgeteilt, der viele Jahre lang an der Spitze der Bruderschaft stand und höchstwahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Weigerung gespielt hatte.
Unser Salai geht jedoch noch einen Schritt weiter und betrachtet die Sache aus einer umfassenderen Perspektive: Während Tacitus’ Germania die Herzen der Deutschen entflammte und sie mit Hilfe der elsässischen Sirenengesänge von Wimpfeling und seinen Genossen davon überzeugte, dass sie edler Abstammung waren und das Recht auf eine triumphale Wiedergutmachung hatten, musste gleichzeitig an der anderen Front deutlich werden, in welch unflätigen Morast Rom die ganze Christenheit hineinzog. Burkards Tagebuch enthielt die passenden Argumente, und sie sollten jahrhundertelang von der antikatholischen Propaganda benutzt und immer wieder «aufgewärmt» werden.
Manch einem könnte es willkürlich erscheinen, die elsässischen Humanisten mit Burkard und seinem Tagebuch und obendrein die Bankiersfamilie Fugger, die nicht aus Straßburg, sondern aus Augsburg stammte, in einer gemeinsamen Intrige zu verbinden, wie Salai es tut. Nun, es gibt Verbindungen: In der zweiten Hälfte es 16. Jahrhunderts erhielt ein italienischer Humanist, Onofrio Panvinio (1530-1568), den Auftrag, Burkards Tagebuch zu kopieren. Da die älteren Kopien so lückenhaft sind und das einzige überlieferte Original nur wenige Seiten umfasst (wie gesagt, 25 Seiten, die Jahre 1503 bis 1506), wurde das Exemplar von Panvinio dann zu dem kanonischen Text, auf den die Historiker sich stützen müssen, um das Werk des päpstlichen Zeremoniars zu beurteilen (Ilari, op. cit. S. 264). Gab es nachträgliche Einfügungen, Veränderungen, Zusätze? Wir werden es nie erfahren. Panvinio erklärt seltsamerweise nicht, was er kopiert hat, nicht einmal, ob es ein Original oder bereits eine Kopie war.
Wer beauftragte Onofrio Panvinio mit dieser Abschrift? Johann Jakob Fugger (1459-1525), ein Mitglied der Bankiersfamilie, die sich schon 1479 nach Rom begab, um ihre finanziellen Beziehungen mit dem Papsttum zu festigen. Diese Beziehungen wurden nach dem Tod Alexanders V. besonders intensiv und erreichten ihren Höhepunkt 1508, unter dem Pontifikat Julius’ II., als die Fugger die Münzen des Papststaates prägen durften. Wozu brauchten die Fugger Burkards Tagebuch? Man weiß es nicht.
Fast alle Historiker haben es nicht so genau genommen. Jahrhundertelang haben sie das Plagiat des päpstlichen Zeremonienmeisters nicht nur verschwiegen oder ignoriert, sie haben auch nie aufgehört, die Öffentlichkeit in dem Glauben zu wiegen, es gebe nicht den geringsten Zweifel an der Urheberschaft (also der Echtheit) des gesamten Berichts des Zeremonienmeisters. Abgesehen von der bereits erwähnten fragwürdigen Authentizität des Textes, gibt sogar Burkard selbst (oder wer an seiner Stelle schreibt) zu, Ereignisse mehrmals nur nach bloßem Hörensagen berichtet zu haben. Darüber hinaus hat er die zeitlichen Lücken mit Hilfe eines anderen, ebenso zweifelhaften Tagebuchs gestopft, das nur wenig älter ist und von Stefano Infessura stammt (siehe weiter unten das entsprechende Kapitel), oder im Nachhinein lang vergangene Ereignisse in das Tagebuch eingefügt, sie jedoch an falscher Stelle platziert und so eklatante Anachronismen geschaffen (vgl. De Roo, Bd. 5, S. 309f.).
Mehr noch. Die Übeltaten Burkards, von denen Salai erfährt, sind alle wahr: Seine Vergangenheit als Fälscher und Händler mit gefälschten Dokumenten, Dieb und skrupelloser Emporkömling, der sogar in seiner Heimatstadt Straßburg verachtet wurde, ist bei mehr als einem Historiker ausführlich dokumentiert (vgl. J. Lesellier, Les méfaits du cérémoniaire Jean Burckard, in: Mélanges d’archéologie et d’histoire, 44 [1927], S. 11-34; L. Oliger, Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard von Straßburg, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte, 9 [1934], S. 199-232). Überdies darf man nicht vergessen, dass der Zeremonienmeister schwerwiegende geistige Diebstähle bei seinen Vorgängern beging, indem er ihre Schriften über das Zeremoniale plünderte, um dann sich selbst die Urheberschaft und das Verdienst zuzuschreiben (Lesellier, S. 24-30). Später verschwanden diese Schriften auf geheimnisvolle Weise: Burkard brach mit der Tradition, indem er sie nicht an seinen Nachfolger Paride Grassi weiterreichte. Auch von seiner schleichenden Kleptomanie hat der Straßburger Zeremonienmeister sich nie befreit. Wie Grassi berichtet (Lesellier, S. 18f.), konnte Burkard am 18. April 1506, noch wenige Monate vor seinem Tod, der kindlichen Versuchung nicht widerstehen, sich heimlich eine Münze anzueignen, die der neue Papst Julius II. während des feierlichen Ritus der Eröffnung des neuen Chors von San Pietro in eine Schale gelegt hatte. Später versuchte er, die Tat zu vertuschen, indem er in seinem Tagebuch behauptete, er habe die Münze als Geschenk erhalten (Diarium, hg. v. Thuasne, Bd. III, S. 423). Der Zeremonienmeister, der während einer Zeremonie stiehlt und im Tagebuch des Zeremoniale lügt. Es wundert nicht, dass Burkard von einigen wenigen Forschern, die gegen den Strom schwimmen, eine «Persönlichkeitsspaltung» (Soranzo, S. 51) und ein «pathologisch krimineller Zug» (Wasner, S. 329) diagnostiziert wurde.
Und dennoch sind seit fünf Jahrhunderten weltweit fast alle Historiker entschlossen, diesem Mann und seinen (angeblichen) Schriften zu glauben.