Leonardo und die Griechen

Ebenfalls kein Phantasieprodukt sind die Anregungen, die Leonardo der Wissenschaft des hellenistischen Zeitalters verdankt: Die Vermutung, dass der schöpferische Toskaner seine «Erfindungen» in alten griechischen Kodizes entdeckte und einfach kopierte, wie Salai es Machiavelli verrät, hat sich mittlerweile bestätigt. Modernere Strömungen geschichtswissenschaftlicher Forschung haben sich von der Figur des «visionären» Gelehrten verabschiedet, der Apparate entwarf, die ihrer Zeit weit voraus waren. Das Genie aus Vinci war stets auf der Suche nach griechischen Handschriften, deren Wert er unendlich hoch schätzte. Er kannte die Schriften des Archimedes (6. Jahrhundert v. Chr.), denn einen archimedischen Kodex hatte ihm ausgerechnet der Valentino geschenkt, und wahrscheinlich auf indirektem Wege lernte er sehr viel aus dem hellenistische Erbe (3. bis 4. Jahrhundert n. Chr.). In der Leonardo-Forschung wird zunehmend deutlich, dass Leonardo nicht in die Zukunft schauen konnte, wie häufig von ihm behauptet wird, sondern im Gegenteil die Vergangenheit sehr genau studierte und wiederzubeleben trachtete. Wie der Mathematiker Lucio Russo (La rivoluzione dimenticata. Il pensiero scientifico greco e la scienza moderna, Mailand 1996) gezeigt hat, schöpfte Leonardo ebenso wie andere Wissenschaftler und Baumeister der Renaissance mit vollen Händen aus dem reichen technologischen Wissensschatz des antiken Griechenland, der in römischer Zeit und im Mittelalter vergessen oder verdunkelt war und auf noch weit ältere Perioden zurückgeht. In seinem Vorwort zu Russos Buch erklärt der bekannte Physiker Marcello Cini, es gebe Grund zu der Vermutung, dass die bei Heron von Alexandrien im ersten Jahrhundert n. Chr. beschriebene Technologie, die eine Vielzahl von Werkzeugen umfasst, darunter Schrauben, Zahnstangen, Übersetzungsgetriebe, Transmissionsketten, Propeller, Kolben und verschiedene Arten von Ventilen, für die Energiequellen wie Wasser, Luft und Dampf vorgesehen waren, sehr wahrscheinlich eine Zusammenstellung aus hellenistischen Werken darstellt, die mindestens zwei oder drei Jahrhunderte früher datieren.

Auf diese Weise wurden der Renaissance auch Werke überliefert (und oft gründlich missverstanden, so Cini und Rosso) wie «die Arbeiten von Herophilos, des Begründers der wissenschaftlichen Medizin; von Eratosthenes, des ersten Mathematikers, dem es gelang, eine außergewöhnlich präzise Berechnung der Länge des Erdmeridians anzustellen; von Aristarchos von Samos, des Erfinders der heliozentrischen Astronomie; von Hipparchos, der die moderne Dynamik und die Gravitationslehre vorwegnahm, und von Ctesibios, der mit großem Geschick mechanische und hydraulische Werkzeuge erfand und baute – all dies Wissenschaftler, von denen sich außer dem Namen nahezu jede Spur verloren hat, obwohl sie die Hauptfiguren einer wissenschaftlichen Revolution waren, welche ein so hohes Niveau theoretischer Durchdringung und experimenteller Praxis erreicht hatte, dass Galileo und Newton im Vergleich dazu wie zwar geniale, aber leicht verwirrte Lehrlinge und blutige Anfänger erscheinen müssen.»

Die Geburt der modernen Wissenschaft war also «weder unabhängig von ihren Vorgängern noch zufällig. Im Gegenteil, zu Beginn taten die sogenannten Modernen nichts anderes, als sich langsam Kenntnisse zurückzuerobern, die in dem Maße nach und nach wieder ans Licht kamen, in dem die Funde griechischer, arabischer und byzantinischer Manuskripte durch den wachsenden Handelsverkehr und kulturellen Austausch auch nach Italien gelangten» (Russo, S. 13f.).

«Leonardo verdankt Philon von Byzanz, der damals gerade zum ersten Mal in eine moderne Sprache übersetzt worden war, sehr viele Anregungen aus dem Bereich der Technologie, und er verdankt der hellenistischen Zeit viel, was Ansaug- und Druckpumpen, Endlosschrauben, Zahnstangen und Wasserleitungen betrifft. Und vielleicht sollte man auch Heron von Alexandrien berücksichtigen, dessen Maschinen eine sehr wichtige Inspirationsquelle (und vielleicht noch mehr) waren: Wasserwaagen, Dampfmaschinen ante litteram, Pressen, Untersetzunggetriebe und vieles andere waren tatsächlich schon Jahrhunderte zuvor erdacht worden», bestätigt der Geologe Mario Tozzi (Leonardo, L’acqua e il Rinascimento, Mailand 2004, S. 17).

Kurzum, Leonardo, der sich das griechische und hellenistische Erbe gründlich angeeignet hatte, entwarf Maschinen, deren Zweck er selbst nicht immer begriff, und genau das ist der Grund, warum sie nicht funktionieren konnten, nicht weil sie ihrer Zeit so weit voraus waren. Um sie zu bauen, wäre ein technologisches Wissen vonnöten gewesen, das mittlerweile verloren war.

«Die Intellektuellen der Renaissance», schreibt Lucio Russo, «waren nicht in der Lage, die wissenschaftlichen Theorien der hellenistischen Zeit zu verstehen, doch wie intelligente und neugierige Kinder, die zum ersten Mal eine Bibliothek betreten, waren sie von den einzelnen Ergebnissen fasziniert und besonders von jenen, die in den Handschriften mit Illustrationen erklärt werden, zum Beispiel, in zufälliger Ordnung, von den anatomischen Sezierungen, der Perspektive, den Räderwerken, den mit Luftdruck betriebenen Maschinen, dem Guss großer Bronzewerke, den Kriegsgeräten, der Hydraulik, den Automaten, der ‹psychologischen› Porträtkunst und dem Bau von Musikinstrumenten» (Russo, S. 112).

Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
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