Die gefälschte Korrespondenz mit Giulia Farnese
Damit wird es überflüssig, jede einzelne der Fälschungen zu untersuchen, die zum Schaden Alexanders VI. fabriziert und später entlarvt wurden. Es genügt, De Roo im Internet zu konsultieren. Etwas wird der Leser dort jedoch nicht finden, denn es hat sich erst nach dem Tod des Autors ereignet.
De Roo starb nämlich kurz nach der Veröffentlichung (1924) seines Werks über den Borgia-Papst. Schon bald darauf tauchten, welch ein Zufall, neue überraschende Papiere auf, die den Papst mit weiteren Diffamierungen schmähten. Sie kamen aus dem Archiv der Engelsburg, der alten Festung unweit von San Pietro, das in neuerer Zeit in das Archiv des Vatikans überführt wurde. Von hier stammt zum Beispiel eine falsche Bulle, von der Salai spricht (De Roo, Bd. I, S. 501 ff.).
Gefunden und veröffentlicht wurden diese neuen Papiere, die großes Aufsehen erregten – auch weil sie den fieberhaften Recherchen Dutzender Forscher in den vergangenen Jahrhunderten unerklärlicherweise entgangen waren – von dem berühmten Historiker von Pastor (dem Autor der monumentalen Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters (1305 -1799) in 22 Bänden, Freiburg/Brsg. 1886-1933, einem Werk, auf das sich die Forschung noch heute oft beruft). Es handelt sich um private Briefe des Papstes, aus denen hervorgeht, dass Rodrigo Borgia die schöne Giulia Farnese angeblich zunächst mit einem Orsini verheiratete und dann (mittlerweile über sechzig Jahre alt!) versucht haben soll, die beiden Eheleute auseinanderzubringen, um sich selbst an den Gunstbeweisen der Achtzehnjährigen zu erfreuen, überdies auch seine angeheiratete Nichte, weil ihr Gatte der Sohn von Rodrigo Borgias Cousine Adriana del Milà war. All das, daran muss erinnert werden, soll der Papst unternommen haben, nachdem er ein ganzes Leben damit verbracht hatte, seine Pflichten in Spitzenpositionen der kirchlichen Hierarchie rechtschaffen zu erfüllen und in einer stürmischen Epoche das Papsttum in ganz Europa auf den wichtigsten diplomatischen Missionen zu repräsentieren.
In den Briefen, die Pastor überraschend zutage förderte (sie sind im Anhang von Band III seiner Geschichte der Päpste veröffentlicht), lässt sich der angebliche Verfasser, Alexander VI. persönlich, zu naiven Äußerungen der Wut und Eifersucht gegenüber der jungen Giulia Farnese hinreißen. Über die Echtheit der Briefe entbrannte schon in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein heftiger Streit zwischen Soranzo und seinem Gegner Giovan Battista Picotti. Doch um zu erkennen, dass es sich nur um eine weitere lügnerische Verleumdung handelt, genügt es im Grunde, sich den aberwitzigen Tonfall der Schreiben anzusehen, in denen der Papst – was höchst unwahrscheinlich ist – es wagt, sich schriftlich an Giulia zu wenden, um sie «undankbar und heimtückisch» und ihren Gatten einen «Zuchthengst» zu nennen. Der Papst erscheint hier geradezu als Karikatur einer Romanfigur aus dem 19. Jahrhundert oder eines schlechten Films aus den siebziger Jahren. Doch mit sehr wenigen Ausnahmen haben die Historiker das lächerliche Hirngespinst akzeptiert (und reproduziert).
Der Höhepunkt dieses absurden Theaters ist die Beschreibung, die der Jesuitenpater Giuliano Gasca Queirazza von den angeblichen Briefen zwischen dem alten Papst und Giulia Farnese gibt (Gli scritti autografi di Alessandro VI nell’Archivum arcis, Turin 1959). Im Gegensatz zu dem, was er im Titel seines Buches ankündigt, muss der Jesuitenpater gestehen, dass keiner der Briefe aus dieser Korrespondenz vom Borgia-Papst selbst geschrieben wurde. Gasca Queirazza behauptet zwar, die Briefe seien echt, doch in einer sehr diskreten Fußnote (S. 3) räumt er ein, dass Alexander VI. «sie nicht mit eigener Hand verfasst, sondern diktiert hat». Eine, gelinde gesagt, lachhafte Widersinnigkeit: Welcher Papst (egal, ob «gut» oder «böse»), der von politischen und militärischen Feinden in Italien und im Ausland umgeben ist, der über dreißig Jahre lang Kardinal Vizekanzler war, würde einem Schreiber so skandalöse, kompromittierende Briefe diktieren, und als wäre das nicht genug, auch noch den Entwurf aufbewahren lassen? Gibt es nicht zu denken, dass, wie schon De Roo gezeigt hat, aus demselben Archiv der Engelsburg einige grobe Fälschungen stammen, die genau darauf abzielen, dem Ruf des Papstes zu schaden?
Der Jesuit und Gelehrte zieht nicht einmal in Betracht, dass die Briefe ohne Wissen Rodrigo Borgias geschrieben sein könnten, denn «dass es sich um ein Diktat und nicht um eine Abschrift handelt, lässt sich an den Korrekturen erkennen». Kurzum, es genügt, einen Brief mit ein paar Korrekturen zu finden, schon lässt sich daraus schließen, dass er nach Diktat verfasst wurde und obendrein von einem Papst. Wem soll Alexander VI. die Briefe diktiert haben? Giovanni Marrades, Kubikular des Papstes und sein Sekretär. Dies beweist angeblich ein Brief, ein einziger, der die gleiche Handschrift trägt und von Marrades selbst stammen soll. Doch er befindet sich in demselben Briefwechsel (Gasca Queirazza, S. 3), was bedeutet, dass der Briefwechsel seine Echtheit aus sich selbst beweisen soll, wie in dem Witz von dem Wirt, der alle auffordert, seinen Wein zu trinken: «Es ist der beste Wein der Stadt, seid gewiss. Warum? Weil ich es sage!»
Wo sind also die handgeschriebenen Briefe des Papstes, die Gasca Queirazza im Titel seiner Arbeit verspricht? Die echte Handschrift Rodrigo Borgias soll an mehreren Einzelheiten erkennbar sein, behauptet der Gelehrte. Vor allem an dem Kürzel τσ χσ in griechischen Buchstaben für «Jesus Christus», das laut Queirazza «dem größten Teil der Papiere, die er eigenhändig schrieb, vorangestellt ist, und das ihm zumindest in den Briefen dieser Korrespondenz eigentümlich ist». Also wird der Beweis für die Echtheit des Briefwechsels erneut in dem Briefwechsel selbst erkannt, und die Wortwahl «zumindest» ist die diskreteste Form, zuzugeben, dass es keine anderen Beweise gibt. Der Wirt macht weiter Werbung für seinen eigenen Wein.
Gasca Queirazza hat keinen Zweifel: In dem Briefwechsel befinden sich wirklich einige Zeilen, freilich nur wenige, die vom Papst persönlich geschrieben wurden. In diesen Zeilen, fügt er hinzu (S. 5), «weist die Handschrift des Papsts zwei grundsätzlich verschiedene Formen auf».
Dieser Umstand müsste zur Vorsicht auffordern: Wenn es in einer Quelle zwei vollkommen unterschiedliche Handschriften gibt, ist es dann nicht merkwürdig, dass sie ein und dieselbe Person geschrieben haben soll?
Die Zuschreibung der ersten Handschrift zu Alexander VI. «beruht im Wesentlichen auf den Angaben des Confalonieri» (Queirazza, S. 5), also dem Geistlichen, der den Briefwechsel sammelte und ordnete. Neben einige Briefe schrieb er «minuta Papae Alex. VI.» (= Entwurf von Papst Alexander VI.). Allerdings hat dieser geheimnisvolle Confalonieri den Briefwechsel im Jahr 1627 geordnet (ibid. S. 2), also zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Papstes und zweieinhalb Jahrhunderte vor der Entdeckung der Briefe … Ein wirklich vertrauenswürdiger Zeuge.
Die zweite Handschrift soll – ebenfalls nach Gasca Queirazza – echt sein, weil sie von derselben Hand stammt, die einen Brief Rodrigo Borgias an seine Tochter Lucrezia verfasst hat, der heute in Mantua aufbewahrt wird. Wenn man jedoch überprüft, was diese Hand in dem Briefwechsel mit Giulia Farnese geschrieben hat, so entdeckt man, dass es sich um vier Zeilen am Anfang eines Briefes, drei Zeilen in einem anderen Brief und eine einzige, isolierte Zeile in einem anderen Blatt handelt. Acht Zeilen insgesamt – darauf reduzieren sich bestenfalls die berühmten, kompromittierenden Briefe Alexanders VI. an Giulia Farnese (und man vergesse nicht, dass es keine einzige Zeile von Giulia an den Papst gibt).
Was steht denn nun in diesen acht Zeilen? Es sind kurze Vermerke auf Katalanisch (übersetzt lauten sie: «Das Geld nehmen / die Ringe nehmen / mit Galceran und Franci über das Türkenproblem sprechen» usw.) und ein paar Rechnungen mit Geldsummen. Von heimlichen Liebschaften oder saftigen Skandalen keine Spur.
Doch als wenn das alles nicht zählte, füllen die Briefe aus der Engelsburg und das Märchen über die Liebschaft zwischen Alexander VI. und Giulia Farnese Wörterbücher, Enzyklopädien, Aufsätze, Biographien und kirchengeschichtliche Abhandlungen … Der Wirt hat seinen Wein gut verkauft und reibt sich zufrieden die Hände.
Gesunder Menschenverstand hätte alle schon vor langer Zeit auf den richtigen Weg bringen können. Giulia Farnese heiratete in zweiter Ehe einen Neffen von Giulio della Rovere. Aber Giulio II. Papst Julius II. hasste Rodrigo Borgia, er hatte sich sogar ein anderes Zimmer im Vatikan ausgesucht, weil er nicht in dem seines Vorgängers schlafen wollte. Niemals hätte er seinem Neffen die ehemalige Geliebte des Borgia-Papstes zur Frau gegeben, wenn ihr dieser Ruf schon damals vorausgegangen wäre. Also kann der Klatsch um Giulia Farnese erst lange Zeit nach dem Tod Alexanders VI. begonnen haben: Wie immer traten die Profis der Verleumdung erst in Aktion, als das Opfer sich nicht mehr wehren konnte.