Die betrügerische Kampagne gegen den Borgia-Papst

Manch ein Leser hat sich wahrscheinlich gewundert, dass die sogenannte historische Wahrheit über die Familie Borgia hier geradezu in ihr Gegenteil verkehrt wird. Er wird sich fragen:

Wenn es wahr ist, dass Cesare kein Sohn von Alexander VI. war, ebenso wie Lucrezia nicht seine Tochter, und wenn der Papst nicht das Ungeheuer war, für das man ihn immer gehalten hat, warum haben die Historiker das nicht bemerkt?

Zur Erklärung einige Beispiele. Eine der Quellen, aus der Historiker im Zusammenhang mit dem Pontifikat von Alexander VI. gerne zitieren, ist der Briefwechsel von Pietro Martire d’Anghiera (1457-1526), eines Mailänder Gelehrten, der während der Herrschaft des Borgia-Papstes in Rom und Spanien lebte. Die Briefe dieses Pietro Martire (vgl. Ministero per i beni culturali e ambientali – Comitato nazionale per le celebrazioni del V centenario della scoperta dell’America, Roma 1988, Bd. VI: La scoperta del nuovo mondo negli scritti di Pietro Martire d’Anghiera, S. 405 ff.), in denen sich einige der bekanntesten und schwerwiegendsten Angriffe auf Papst Alexander VI. finden, wurden vier Jahre nach dem Tod ihres vermeintlichen Verfassers in Amsterdam publiziert. Der veröffentlichte Text enthält jedoch eine Reihe schier unglaublicher, schwerer historischer Fehler, die niemand von einem gelehrten Humanisten wie Pietro Martire erwarten würde: Unwahrscheinlichkeiten, Anachronismen, Widersprüche und die Beschreibung von Ereignissen, die niemals stattgefunden hatten. Mehr noch: Von keinem der in Amsterdam veröffentlichten Briefe ist je ein Original von Hand des Verfassers gefunden worden. Nicht nur fehlt jede Spur der Briefentwürfe, die Pietro Martire geschrieben und verwahrt haben muss – unauffindbar sind auch alle Exemplare, die an ihre Adressaten abgesandt wurden, Dutzende von Personen in ganz Europa. Auch in deren Archiven gibt es erstaunlicherweise keinen einzigen Hinweis auf einen Briefwechsel mit Pietro Martire. Die Historiker konnten nur einen handgeschriebenen, mit Sicherheit echten und von Martire unterzeichneten Brief finden, der – welch ein Zufall – nicht in die gedruckte Briefsammlung aufgenommen wurde, wo sich auch kein anderer Brief an diesen Adressaten findet.

Sogar ein Kind könnte verstehen, dass die Briefsammlung von Pietro Martire d’Anghiera eine grobe Fälschung ist, die die Historiker schon längst als solche hätten entlarven müssen. Aber das ist nicht geschehen: Die Korrespondenz von Pietro Martire d’Anghiera wird noch heute als äußerst zuverlässige Quelle zitiert und von den Forschern weiterhin mit einer unerklärlichen Nachsicht behandelt. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man daran denkt, dass Pietro Martire d’Anghiera auch als eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte von der Entdeckung Amerikas gilt.

Den scharfen Angriffen Pietro Martires auf den Ruf Papst Alexanders VI. begegnet man tatsächlich auf Schritt und Tritt in allen Studien über die Borgia. In einem Brief Martires jedoch (an Marquis Pietro Fajardo und Marquis Luis Hurtado, in den Kodizes 773C = 770A und in einem späten Apograph = 741 ms, vgl. Comitato nazionale … op. cit. S. 23) liest man über eine Begebenheit, die den Papst in ein günstiges Licht rückt und auch in anderen Quellen wiedergegeben wird: Als 1494 die Pest in Rom ausbrach und alle Kardinäle aufs Land flohen, weigerte sich Rodrigo Borgia, die Stadt zu verlassen, und erklärte, es sei seine Pflicht, als Stellvertreter Christi in seinem Amt der Petrus-Nachfolge zu bleiben: «Rom wird von einer schweren Pestilenz heimgesucht, der Pontifex ist darum in den Vatikanischen Palazzi eingeschlossen. Der Papst gibt den dringenden Aufforderungen der Kardinäle, sich an einen Ort zu begeben, wo keine Gefahr eines Kontagiums droht, nicht nach. Er empfängt wenig Besucher.»

Während der gesamten Dauer der Pestepidemie blieb der Borgia-Papst praktisch allein im Vatikan, ihm standen nur sehr wenige Diener zur Seite, die seinem Vorbild gefolgt waren. Seltsamerweise wird aber gerade diese Episode, die Alexander VI. Ehre macht, von den Historikern niemals erwähnt.

Dies ist nur ein Beispiel für die Art und Weise, wie die offizielle Geschichtsschreibung sich mit den Borgia und den historischen Quellen befasst hat, die sie betreffen: oberflächlich, blind und vor allem unverfroren parteilich. So überlebte der negative Mythos um die Familie Alexanders VI. und blieb bis heute unangetastet. Die Auswirkungen eines solchen Mythos auf das kollektive Bewusstsein sind sehr viel größer, als man denkt. Jede Ideologie hat ihr unbezweifeltes Ungeheuer, ihr negatives Paradigma, das die ihm innewohnende Amoralität fortwährend zu beweisen scheint, ja es stellt geradezu ihren Gipfel und ihre Verkörperung dar. Für den Faschismus ist das Mussolini, für den Kommunismus Stalin, für den islamischen Fanatismus Bin Laden. Natürlich gelingt der Beweis umso besser, je gröber und demagogischer das negative Vorbild ist. Analog lässt sich bei nationalen Entitäten verfahren, und so ist die Mafia das klassische Exemplum für die italienische Unehrlichkeit, der Sonnenkönig für die wahnhafte grandeur der Franzosen. Und für die unausrottbare Korrumpierbarkeit der Kirche? Die Borgia natürlich, deren Namen alle kennen. Vor allem aber fiele es schwer, andere Namen zu nennen. Die dämonisierende Legende um Alexander VI. und seine Verwandten war eine unersetzliche Waffe für alle Verleumder der Kirche zur Zeit, als Luther auf den Plan tritt.

Der Borgia-Papst war und ist ein Sündenbock, der allen, auch den Katholiken, gelegen kommt, weil er durch seine Rolle verhindert, dass sehr viel unbequemere und kompliziertere Wahrheiten der Geschichte ausgegraben werden müssen.

Bis heute sind Historiker bemüht, den kolossalen Betrug zum Schaden der Borgia zu verbergen und diskreditieren all jene, die die schwarze Legende um Alexander VI. anzweifeln.

Wenn sich konträre Thesen nicht widerlegen lassen, versucht man eine Diskussion um Details zu vermeiden und dem Gegner stattdessen generell seine Glaubwürdigkeit abzusprechen. Oreste Ferrara, der mutige, unorthodoxe Biograph Alexanders VI. (El Papa Borgia, Madrid 1938), wurde von der berühmten, einflussreichen Autorin Maria Bellonci, die eine Biographie über Lucrezia Borgia verfasste, und von der «Civiltà Cattolica», einer Zeitschrift der Jesuiten, auf schroffe Weise angegriffen und verächtlich gemacht. Gegen Peter De Roo und seine geduldige, bis heute unübertroffene Forschungsarbeit in den vatikanischen und anderen Archiven (Material for a History of the Pope Alexander VI, his relatives and his time, 5 Bde., Brügge 1924), wurde, wie wir sehen werden, eine klassische Totschweigekampagne inszeniert. Andrea Leonetti, ein weiterer Historiker des 19. Jahrhunderts, der auf Archivforschungen gestützte Beweise liefern konnte, um Lügen und Vorurteile zu widerlegen (Papa Alessandro sesto secondo documenti e carteggi del suo tempo, Bologna 1880), wurde ebenfalls zur Vergessenheit verdammt. Sogar das präzise und gewöhnlich stets gut unterrichtete Bautz-Lexikon (vgl. Bautz Biographischbibliographisches Kirchenlexikon, Bd. I [1990], Spalten 104-105, von Friedrich Wilhelm Bautz persönlich verfasst) versäumt es, in seiner Bibliographie das monumentale Werk (etwa 2600 Seiten) von De Roo zu erwähnen. Auch der jüngst erschienene, sehr sachverständige Aufsatz von A. Ilari («Il liber notarum di Giovanni Burcardo», in: Roma di fronte all’Europa al tempo di Alessandro VI, Akten des Kongresses, Rom 2001, S. 249ff.) begnügt sich listig damit, die Existenz des Werkes von De Roo mit einer einzigen Zeile in einer Fußnote zu erwähnen und als Warnung mit der lakonischen Bemerkung zu versehen: «Von der Kritik nicht anerkannt.»

Salai und Leonardo da Vinci 01 - Die Zweifel des Salai
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