Leonardo, Machiavelli und die anderen
Salaì sagt die Wahrheit: Wie auch die jüngste Biographie von Vecce durchblicken lässt, war Leonardo wankelmütig, langsam, kaum gebildet, immer in Geldnöten und vor allem im Vergleich zu seinen Zeitgenossen und Konkurrenten ungeheuer benachteiligt, was Aufträge und Ämter betraf. Dass er dem Valentino militärische Geheimnisse über Florenz verriet, erscheint unzweifelhaft. Er soll ihm zum Beispiel eine Karte der Nachbarstadt Arezzo und des Valdichiana mit genauen Angaben über die Entfernungen zwischen den Dörfern und Festungen geliefert haben, wichtige Informationen für die Art von Blitzkrieg, die der Valentino bevorzugte (Vecce, S. 208). Also hätte Machiavelli gut daran getan, ihn von Salaì beobachten zu lassen.
Auch das von Salaì beschriebene Aussehen und die Haartracht, einschließlich der blauen Augengläser mit dem zu alten Brillengestell und den blond gefärbten Haaren, werden von den Quellen und Aufzeichnungen bestätigt, die der Meister in seinen Kodizes hinterließ (vgl. jeweils: Codex Atlanticus, f. 225r und Codex Arundel, f. 170r und f. 190ra). Heute neigt ein Teil der Kritik zu der Annahme, dass Leonardo erst im Alter einen langen Bart trug. Doch da schwer auszumachen ist, wann diese Zeit begann (Leonardo starb 1519), darf man vermuten, dass der Künstler schon in Rom, mit fünfzig Jahren, die Bartpracht zur Schau trug, mit der er auf vielen Porträts abgebildet ist.
Leonardo war, wie man weiß, persönlich mit Machiavelli bekannt, der ihn wahrscheinlich gegen den Verdacht mangelnder Treue zu seiner Heimatstadt verteidigen musste, den Florenz gegenüber dem Genie hegte (Vecce, S. 214). Aber gerade darum kann nicht ausgeschlossen werden, dass Leonardo kontrolliert und überwacht wurde. Wenn Salaì ihm wirklich Briefe geschrieben hätte, hätte der Verfasser des Fürsten ihren Inhalt wahrscheinlich nicht beherzigt: Obwohl er in seinen Werken die Gestalt des idealen Politikers nach dem Vorbild Cesare Borgias geformt hatte, zog Machiavelli es vor, sich den Interessen der Stadt Florenz anzubequemen und war ein Gegner von Papst Alexander VI., dem Feind der Florentiner.
Leonardo stand tatsächlich im Dienst Cesare Borgias, der ihn ein Jahr nach den Ereignissen, von denen Salaì erzählt, zu seinem Militärtechniker machte. Der Künstler hielt sich im Frühjahr 1501 in Rom auf, um die Werke der Antike zu studieren. Der Besuch der Hadriansvilla in Tivoli lässt sich einer Anmerkung aus dieser Zeit im Codex Atlanticus entnehmen (f. 618v [227 v-a]). Der wissenschaftlich interessierte Maler, der so sehr auf die Kraft der Vernunft vertraute, ging wirklich zu Zigeunerinnen, um sich sein Schicksal vorhersagen zu lassen, wie eine private Notiz beweist (Codex Atlanticus, f. 877v).
Gewitzte Leser werden begriffen haben, dass die Antikisten, von denen Salaì spricht, die in der europäischen Kulturgeschichte so sehr gepriesenen Humanisten sind. Zwar kannte das 15. Jahrhundert den Ausdruck humanae litterae, doch der Begriff «Humanismus» wurde erst im 19. Jahrhundert geprägt und konnte daher zur Zeit Leonardos noch nicht gebraucht werden, um Poggio Bracciolini und die anderen ruhmreichen Pioniere zu bezeichnen, die die griechischrömische Antike wiederentdeckten (oder – je nachdem um wen es ging und wie man darüber dachte – erfanden).
Es ist bekannt, dass der große Nikolaus Kopernikus sich im Jahr 1501 tatsächlich in der Stadt des Papstes aufhielt, um an der Universität La Sapienza zu lehren. Allerdings hat die Geschichte uns keine Einzelheiten über seine Zeit in Rom hinterlassen. Erasmus Ciolek war in diesen Monaten mit Sicherheit in Rom, denn er kam am 11. März aus Krakau an (vgl. Bronislaw Bilinski, Un umanista diplomatico polacco. Erasmo Ciolek-Vitellius al Natale di Roma del 1501, in: Strenna dei Romanisti, XIX [1979], S. 73).
Der entsetzliche, rätselhafte Mord an Juan Maria Despuig (dessen Name den damaligen Gepflogenheiten gemäß in De Podio italianisiert wurde) wird in Burkards Tagebuch tatsächlich mit wenigen dürren Worten abgehandelt (Johannis Burckardi liber notarum ab anno MCLXXXIII usque ad annum MDVI, hrsg. v. E. Celani, Città di Castello 1906, Bd. I, S. 544).
Auch die anderen Episoden, die Salaì in diesem Tagebuch liest, finden sich dort, und zwar vor allem die Novelle aus dem Decamerone von Boccaccio (die 24. Novelle vom achten Tag), die Burkard kurzerhand bei Boccaccio abgeschrieben hatte. Es ist unglaublich, aber bis heute hat kein Historiker dieses offenkundige Plagiat zur Kenntnis nehmen wollen, das einen peinlichen Schatten der Unglaubwürdigkeit auf den gesamten Bericht Burkards wirft (siehe im Folgenden das Kapitel über das Tagebuch von Johannes Burkard und den Anhang, wo Boccaccios Novelle mit dem Text des päpstlichen Zeremonienmeisters verglichen werden kann).
Authentisch sind auch alle Details über Burkard und seinen Palazzo, über die Bruderschaft und Kirche Santa Maria dell’Anima (vgl. z. B. J. Schmidlin, Geschichte der deutschen Nationalkirche in Rom, Freiburg i. Breisgau/Wien 1906, und R. Samperi, La fabbrica di S. Maria dell’Anima e la sua facciata, in: Annali di architettura, 14 [2002]).
Die Details über die Herberge della Fontana sowie über Personen und Läden in der Nachbarschaft stammen aus A. Modigliani, Mercati, botteghe e spazi di commercio a Roma tra Medioevo ed età moderna, Rom 1998. Die Herberge della Fontana und die Osteria della Vacca gehörten wirklich einer Vannozza Cattanei (vgl. I. Ait, Taverne e locande: investimenti e gestione a Roma nel XV secolo, in: AAVV, Taverne locande e stufe a Roma nel Rinascimento, Rom 1999, S. 69-70), aber wie Salaì entdeckt, trug sie nur den gleichen Namen wie die Mutter des Herzogs Valentino und der Lucrezia Borgia (vgl. P. De Roo, Material for a history of Pope Alexander VI, his relatives and his time, Brügge 1924, Bd. I, S. 1466?.).
Einzelheiten über die Bevölkerung, wie gebräuchliche Personennamen, Geschäfte und Handel, Adressen usw. sind belegt in E. Lee (Hrsg.), Habitatores in Urbe. La popolazione di Roma nel Rinascimento, Rom 2006 und bei: J. Heers, La vita quotidiana nella Roma pontificia ai tempi dei Borgia e dei Medici, Mailand 1986.
Die Legende von dem unterirdischen See mit seinen unheimlichen Erscheinungen, über dem sich das Straßburger Münster erhebt, ist in unterschiedlichen Versionen verbreitet (siehe z. B. A. Stöber, Die Sagen des Elsasses, St. Gallen 1852, S. 456). Über die Straßburger in Rom informiert ausführlich F. Noack, Das Deutschtum in Rom, Stuttgart 1927, wo beschrieben wird (S. 25-26), wie gegen Ende des 15. Jahrhunderts unter den Deutschen in Rom die Saat der antipäpstlichen Rebellion, deren geheime Anfänge Salaì entdeckt, auf fruchtbaren Boden fiel und wuchs. Bei Noack findet der Leser auf Seite 16 auch eine Erwähnung des Wirtshauses della Campana und seines Besitzers Johannes Teufel (oder Teuffel oder Toefl), der von den Römern Angelo genannt wurde. Dorothea und ihr Vater gehörten zu den Mitgliedern der Bruderschaft des Heiligen Geistes (vgl. K. H. Schäfer, Die deutschen Mitglieder der Heiliggeist-Bruderschaft zu Rom, in: Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte, XVI [1913] S. 42). Die junge Frau, in die Salaì sich verliebt, wurde am 9. Februar 1494 in das Mitgliederverzeichnis der Bruderschaft eingetragen.
Ja, auch der große Michelangelo war ein Fälscher. Außer dem bekannten Betrug mit dem schlafenden Cupido, den der Bildhauer, wie Salaì erzählt, Kardinal Riario mit beträchtlichem Gewinn unterjubelte, schreiben die Historiker Leonardos Erzrivalen seit einiger Zeit auch die Fälschung der Laokoon-Gruppe zu, der wohl berühmtesten und bedeutendsten Marmorskulptur des Altertums, die 1506 in Rom gefunden wurde (vgl. L. Catterson, Michelangelo’s Laocoon?, in: Artibus et Historiae, 52 [2005]).
Wie man aus seinen Aufzeichnungen erfährt, war Leonardo mit der Familie Grimani seit seinem Aufenthalt in Venedig bekannt, und er begab sich wirklich in ihren römischen Palazzo, um die Antikensammlungen zu besichtigen. Bei dieser Gelegenheit traf er, wie Salaì erzählt, den Sekretär Stefano Iligi (vgl. Codex Arundel, f. 274f).
Bei dem von Salaì beschriebenen See mit der schwimmenden Insel könnte es sich um den See von Posta Fibreno handeln (unweit von Rom in der Provinz Frosinone), aber auch um den alten Lago Cotilia (der heute Lago Paterno heißt, bei Città Ducale) oder um den Lago Vadimone in der Gegend von Bassano in Teverina (vgl. D. Cortiglia/L. Bellincioni, Lazio. I luoghi del mistero e dell’insolito, Aprilia 2006). Ausführliche Informationen über die faszinierende «tote Stadt» Ninfa und die herrlichen Gärten, die sie heute enthält, bietet E. Zampetti, Le città perdute del Lazio e i loro segreti, Aprilia 2005.