17 Die trauernde Königin
Falkenmond erwachte und starrte voller Entsetzen direkt in die Schlangenmaske des Barons Kalan von Vitall. Er fuhr von der Bank hoch und tastete nach einer Waffe.
Kalan zuckte die Schultern und drehte sich den anderen zu, die im Schatten des Raumes standen. »Ich sagte Euch doch, dass ich es tun kann. Sein Gehirn ist wiederhergestellt, seine ganze törichte Persönlichkeit ist wie zuvor. Und jetzt, Königin Flana, erbitte ich Eure Erlaubnis, mit dem fortzufahren, worin Ihr mich gestört habt.«
Falkenmond erkannte die Reihermaske. Sie nickte einmal kurz, und Kalan schlurfte in das Nebenzimmer, dessen Tür er sorgfältig hinter sich schloss. Die Gestalten traten aus dem Schatten. Falkenmond sah nun voll Freude, dass eine von ihnen Yisselda war. Er schloss sie in die Arme und küsste sie.
»Ich hatte solche Angst, dass Kalan uns irgendwie hereinlegen würde«, murmelte sie. »Königin Flana hat dich gefunden, nachdem sie die Einstellung der Kämpfe befohlen hatte. Wir waren die letzten Überlebenden, Orland Fank und ich. Und wir hielten dich für tot. Aber Kalan brachte dich zum Leben zurück. Er holte das Juwel aus deiner Stirn und zerstörte die Maschine, dass niemand mehr die Macht des Schwarzen Steins zu befürchten braucht.«
»Und worin habt Ihr ihn gestört, Königin Flana?« fragte Falkenmond. »Weshalb war er so ungehalten?«
»Er wollte gerade seinem Leben ein Ende machen«, erwiderte Flana tonlos. »Ich drohte, ihn unsterblich zu machen, wenn er nicht tun würde, was ich von ihm verlangte.«
»D’Averc?« fragte Falkenmond und blickte sich um. »Wo ist denn d’Averc?«
»Tot«, erwiderte die Königin mit derselben ausdruckslosen Stimme. »Im Thronsaal von einem übereifrigen Krieger erschossen.«
Falkenmonds Freude wurde zur Trauer. »Sind denn alle tot? Graf Brass, Oladahn, Bowgentle?«
»Alle«, sagte Orland Fank leise. »Aber sie starben für eine große Sache und befreiten Millionen aus der Sklaverei. Bis zum heutigen Tag hat Europa nur Zwist und Krieg gekannt. Vielleicht werden die Menschen von nun an den Frieden sichern, jetzt, da sie wissen, wohin Zank und Hader führen.«
»Graf Brass ersehnte den Frieden für Europa mehr als alles andere«, murmelte Falkenmond. »Ich wollte, er hätte ihn noch erleben können.«
»Vielleicht wird es sein Enkel«, flüsterte Yisselda.
»Ihr habt von Granbretanien nichts mehr zu befürchten, solange ich Königin bin«, versicherte ihnen Flana. »Ich werde Londra zerstören lassen und meine Heimatstadt Kanbery zur Hauptstadt erheben. Der Reichtum Londras – der mit Sicherheit größer ist als aller auf der ganzen Welt zusammen – soll zur Wiedergutmachung verwendet werden, um die Städte Europas neu aufzubauen, um die Bauern und Bürger zu entschädigen und ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen. Sie sollen nicht länger unter dem leiden, was Granbretanien ihnen angetan hat.« Sie zog die Reihermaske hoch und entblößte ihr von Trauer erfülltes, liebliches Gesicht. »Und ich werde auch dieses unsinnige Tragen der Masken abschaffen.«
Orland Fank wirkte skeptisch, aber er schwieg. »Die Macht Granbretaniens ist für immer gebrochen«, sagte er. »Und die Arbeit des Runenstabs ist getan.« Er tätschelte das Bündel unter seinem Arm. »Ich nehme das Schwert der Morgenröte, das Rote Amulett und den Runenstab zur Aufbewahrung an mich. Aber sollte je wieder eine Zeit kommen, Freund Falkenmond, da Ihr diese Dinge benötigt, dann werdet Ihr sie wiederbekommen, das verspreche ich Euch.«
»Ich hoffe, diese Zeit wird nie kommen, Orland Fank.«
Fank seufzte. »Die Welt ändert sich nicht, Dorian Falkenmond. Es kommt lediglich hin und wieder vor, dass sie aus dem Gleichgewicht gerät, dann bemüht sich der Runenstab, es wiederherzustellen. Vielleicht sind die Tage der übertriebenen Schwankungen für ein Jahrhundert oder auch zwei vorbei? Ich weiß es nicht.«
Falkenmond lachte. »Das solltet Ihr aber – Ihr seid doch schließlich allwissend.«
Fank lächelte. »Nicht ich, mein Freund, sondern der, dem ich diene – der Runenstab.«
»Euer Sohn, Jehamia Cohnahlias …«
»Ah, das ist ein Rätsel, das mir selbst der Runenstab nicht beantwortet.« Fank rieb sich die lange Nase und blickte sie darüber hinweg an. »Nun, damit sage ich euch, die ihr übrig geblieben seid, lebt wohl. Ihr habt gut gekämpft, und ihr habt der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen.«
»Gerechtigkeit?« rief Falkenmond, als Fank den Raum verließ. »Gerechtigkeit? Gibt es denn so etwas überhaupt?«
»Sie kann in kleinen Mengen geschaffen werden«, versicherte ihm Fank. »Aber wir müssen schwer arbeiten, tapfer kämpfen und viel Weisheit benutzen, um auch nur ein Jota davon zu erzeugen.«
»Ja«, murmelte Falkenmond. »Vielleicht habt Ihr recht.«
Fank lachte. »Ich weiß, dass ich recht habe.« Und dann war er verschwunden, aber seine Stimme erreichte Falkenmond noch. »Gerechtigkeit ist kein Gesetz, ist nicht die Ordnung, als die die Menschen sie gern ansehen. Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit -das Gleichgewicht, die Ausgewogenheit. Denkt daran, Falkenmond. Denkt daran!«
Falkenmond legte den Arm um Yisseldas Schultern. »Das werde ich«, murmelte er. »Und jetzt kehren wir nach Burg Brass zurück und sorgen dafür, dass die Quellen wieder fließen, dass es wieder Schilf und Lagunen gibt und dass die Stiere und Pferde und Flamingos wiederkehren. Dass es wieder die Kamarg wird, die wir kennen.«
»Und die Macht des Dunklen Imperiums wird sie nie wieder bedrohen.« Königin Flana lächelte.
Falkenmond nickte. »Das glaube ich auch. Aber wenn ein anderes Unheil sich auf Burg Brass herabsenken will, werde ich bereit sein, gleichgültig wie mächtig es ist oder in welcher Gestalt es kommt. Die Welt ist noch wild. Die Gerechtigkeit, von der Fank sprach, ist noch in viel zu geringem Maße hergestellt. Wir müssen unser Bestes tun, noch ein wenig mehr davon zu erzeugen. Lebt wohl, Flana.«
Die Königin blickte ihnen nach und weinte leise.
ENDE