1 Zhenak-Teng
Falkenmond und d’Averc beobachteten die näher kommende, merkwürdige Kugel und zogen schließlich müde ihre Schwerter.
Ihre Kleider waren nur noch Fetzen und ihre Körper blutverkrustet, ihre bleichen Gesichter waren gezeichnet von der Anstrengung der vergangenen Tage und des überstandenen Kampfes, und in ihren Augen spiegelte sich wenig Hoffnung.
»Ah«, murmelte Falkenmond. »Jetzt könnte ich die Kraft des Amuletts brauchen.« Er hatte es auf Anraten des Ritters in Burg Brass zurückgelassen.
D’Averc lächelte gequält. »Ich gäbe mich schon mit meiner normalen Stärke zufrieden. Doch was soll’s! Wir müssen unser Bestes tun, mein Freund.« Er straffte die Schultern.
Die donnernde Kugel kam näher, sie hüpfte über das Gras. Sie war riesig und blitzte in grellen Farben. Schwerter richteten gegen sie gewiss nichts aus.
Mit einem tiefen, ersterbenden Brummen kam sie neben ihnen zum Halt.
Dann begann sie schrill zu summen, und ein Spalt bildete sich in ihrer Mitte, der sich immer mehr weitete, bis es aussah, als bräche die Kugel entzwei. Weißer, zarter Rauch quoll aus dieser Öffnung und schwebte als Wolke auf den Boden.
Nun löste die Wolke sich auf und gab eine hochgewachsene Gestalt frei, deren langes, helles Haar durch einen silbernen Reif aus der Stirn gehalten wurde. Der Mann – denn zweifellos war es ein Mann – trug einen kurzen Hosenrock von der gleichen Bronzefarbe wie seine Haut. Er schien keine Waffen bei sich zu haben.
Falkenmond betrachtete ihn misstrauisch.
»Wer seid Ihr?« fragte er. »Was wollt Ihr?«
Der Mann aus der Kugel lächelte. »Das sind Fragen, die ich eigentlich euch stellen sollte«, erwiderte er mit einem eigenartigen Akzent. »Ihr wart offenbar in einen Kampf verwickelt, und einer von euch ist tot. Er sieht mir ein wenig zu alt für einen Krieger aus.«
»Wer seid Ihr?« fragte Falkenmond erneut.
»Ihr seid hartnäckig, Krieger. Ich bin Zhenak-Teng aus der Familie der Teng. Verratet mir, gegen wen ihr hier gekämpft habt. Waren es die Charkis?«
»Der Name sagt uns nichts. Wir haben gegen niemanden hier gekämpft«, erklärte d’Averc. »Wir sind Reisende. Jene, gegen die wir uns zur Wehr setzen mussten, befinden sich weit von hier. Wir flohen hierher …«
»Und doch sehen eure Wunden noch ganz frisch aus. Wollt ihr mit mir nach Teng-Kampp kommen?«
»Ist das Eure Stadt?«
»Wir haben keine Städte. Wir können euch helfen, eure Wunden zu versorgen, vielleicht sogar euren Freund wiederzubeleben.«
»Unmöglich. Er ist tot.«
»Wir haben schon so manchem Toten das Leben zurückgegeben«, behauptete der gutaussehende Mann leichthin. »Kommt ihr mit?«
Falkenmond zuckte die Schultern. »Warum nicht?« Er und d’Averc hoben Mygans Leiche auf und luden sie in die Kugel. Zhenak-Teng zeigte ihnen den Weg.
Sie stellten fest, dass das Innere der Kugel eigentlich eine Art Kabine war, die mehreren Personen bequem Platz bot. Zweifellos war das Ding ein übliches Transportmittel hier, denn Zhenak-Teng machte keine Anstalten, ihnen zu helfen, und überließ es ihnen selbst, wo und wie sie sich niederlassen wollten.
Er schwenkte die Hand über die Kontrolltafel der Kugel, und der Öffnungsspalt schloss sich. Und schon rollte die Kugel sanft, aber mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über die endlose Grasfläche, die man von innen undeutlich erkennen konnte.
Die Landschaft schien immer gleich zu bleiben. Nirgends sahen sie Bäume oder Berge oder Flüsse. Falkenmond fragte sich, ob sie nicht vielleicht künstlicher Natur war – oder irgendwann maschinell hergestellt worden war.
Zhenak-Teng hatte die Augen an ein Instrument gepresst, durch das er vermutlich den Weg sehen konnte. Seine Hände ruhten auf einem Hebel an einem Rad, den er von Zeit zu Zeit in die eine oder andere Richtung schob oder zog – zweifellos die Steuerung des merkwürdigen Gefährts.
Einmal kamen sie an weit entfernten, sich bewegenden Objekten vorbei, die sie jedoch durch die schimmernden Wände der Kugel nicht genauer sehen konnten. Falkenmond deutete darauf.
»Charkis«, erklärte Zhenak-Teng. »Wenn wir Glück haben, greifen sie uns nicht an.«
Es handelte sich um steingraue Dinge mit vielen Beinen und wedelnden Auswüchsen. Falkenmond war sich nicht klar, ob es Maschinen waren oder Lebewesen – oder keins von beiden.
Eine Stunde war vergangen, als die Kugel langsamer rollte. »Wir nähern uns jetzt Teng-Kampp«, erklärte Zhenak-Teng. Kurz darauf rollte die Kugel zu einem Halt. Der bronzefarbige Mann lehnte sich zurück und seufzte erleichtert. »Gut«, murmelte er. »ich habe erfahren, was ich wissen wollte. Der Charkis Trupp weidet in südwestlicher Richtung von hier und dürfte Teng-Kampp nicht zu nahe kommen.«
»Was sind die Charkis?« D’Averc erhob sich und stöhnte, als seine Wunden wieder zu schmerzen begannen.
»Die Charkis sind unsere Feinde – Kreaturen, die geschaffen wurden, um menschliches Leben zu vernichten«, erklärte Zhenak-Teng. »Sie ernähren sich von der Energie, die sie von der Grasfläche aus den versteckten, unterirdischen Kampps unseres Volkes entnehmen.«
Er bewegte einen Hebel, und mit einem Rucken begann die Kugel in den Boden zu versinken.
Die Erde schien sie zu verschlingen und sich über ihnen wieder zu schließen. Eine kurze Weile tauchte die Kugel noch tiefer, dann hielt sie an. Eine plötzliche Helligkeit umgab sie. Sie sahen, dass sie sich in einem Raum befanden, der gerade groß genug für die Kugel war.
»Teng-Kampp«, sagte Zhenak-Teng lakonisch. Er berührte einen Knopf auf der Kontrolltafel, und die Kugel öffnete sich. Falkenmond und d’Averc hoben Mygan auf und folgten Zhenak-Teng in eine anschließende Kammer, aus der ihnen Männer entgegenkamen, die ähnlich wie Zhenak-Teng gekleidet waren. Offensichtlich war es ihre Aufgabe, sich um die Kugel zu kümmern.
»Hier hinein«, bedeutete ihnen Zhenak-Teng und stieg ihnen voraus in eine Kabine, die sich langsam zu drehen begann. Falkenmond und d’Averc lehnten sich an die Wand und bemühten sich, ein Schwindelgefühl zu unterdrücken. Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht lange. Zhenak-Teng führte sie in einen Raum mit dickem, weichem Bodenbelag und einfachem, aber bequem aussehendem Mobiliar.
»Hier sind meine Räume«, erklärte er. »Ich schicke nun nach meinen ärztlich geschulten Familienmitgliedern, die eurem Freund vielleicht helfen können. Entschuldigt mich bitte.« Er verschwand in einem anderen Raum.
Kurz darauf kam er lächelnd zurück. »Meine Brüder werden bald hier sein.«
»Hoffentlich«, murmelte d’Averc. »Ich habe mich in Gegenwart von Leichen noch nie sehr wohl gefühlt.«
»Kommt, wir gehen einstweilen in ein anderes Zimmer, wo wir eine kleine Stärkung zu uns nehmen können.«
Sie ließen Mygans Leiche zurück und betraten einen Raum, wo Tabletts mit Speisen und Getränken ohne sichtbaren Halt in der Luft über weichen Sitzkissen schwebten.
Sie folgten Zhenak-Tengs Beispiel und bedienten sich. Die Gerichte waren köstlich, und sie aßen beträchtliche Mengen mit großem Genuss.
Während sie aßen, betraten zwei Männer, die Zhenak-Teng sehr ähnlich waren, das Zimmer.
»Es war bereits zu spät«, wandte einer sich an ihren Gastgeber. »Es tut mir leid, Bruder, aber wir konnten den alten Mann nicht wiederbeleben. Die schweren Verletzungen und der Zeitverlust …«
Zhenak-Teng blickte d’Averc und Falkenmond bedauernd an. »Ihr habt es gehört. Wir hätten eurem Kameraden gern geholfen.«
»Vielleicht könnt ihr ihm eine gute Bestattung zuteil werden lassen«, sagte d’Averc fast erleichtert.
»Selbstverständlich. Wir tun, was erforderlich ist.«
Die beiden anderen zogen sich zurück und kamen nach etwa einer halben Stunde wieder, gerade als Falkenmond und d’Averc ihr Mahl beendet hatten. Der erste stellte sich nun als Bralan-Teng vor, und der zweite als Polad-Teng. Beide waren Zhenak-Tengs Brüder und übten die Heilkunst aus. Sie versorgten Falkenmonds und d’Avercs Wunden, und kurz darauf fühlten sich die beiden Freunde besser.
»Nun müsst ihr uns erzählen, wie ihr in das Land der Kampps kamt«, forderte Zhenak-Teng sie auf. »Wegen der Charkis haben wir hier selten Besucher. Wie sieht es in anderen Teilen der Welt aus?«
»Ich bin nicht sicher, ob Ihr aus der Antwort zu Eurer ersten Frage klug würdet«, befürchtete Falkenmond, »noch dass wir Euch viel Neuigkeiten aus unserer Welt bieten könnten.« Aber er erklärte, so gut er es konnte, wie sie hierhergekommen waren und wo ihre Welt sich befand. Zhenak-Teng hörte ihm aufmerksam zu.
Er nickte. »Ihr habt recht. Ich verstehe nur wenig von Euren Worten. Ich habe noch nie von diesem ›Europa‹ oder einem ›Granbretanien‹ gehört. Und dieser Kristall, den Ihr beschrieben habt, ist unseren Wissenschaftlern unbekannt. Aber ich glaube Euch. Wie sonst hättet ihr so plötzlich im Land der Kampps erscheinen können?«
»Was sind die Kampps?« fragte d’Averc. »Ihr sagtet, es seien keine Städte?«
»Das sind sie auch nicht. Sie sind Familienhäuser, die einem Klan gehören. In unserem Fall gehört das Untergrundhaus der Familie Teng. Andere Familien in der Nachbarschaft sind die Ohns, die Seks und die Nengs. Früher gab es noch mehr – viel mehr, aber die Charkis entdeckten und vernichteten sie …«
»Und was sind die Charkis?« warf Falkenmond ein.
»Die Charkis sind unsere Urfeinde. Sie wurden von jenem geschaffen, der die Häuser der Ebene zu zerstören suchte. Dieser menschliche Feind vernichtete sich selbst, ungewollt natürlich, durch ein Sprengstoffexperiment. Aber seine Kreaturen, die Charkis, ziehen immer noch über die Ebene. Sie haben leider eine sehr unangenehme Art, uns zu besiegen, damit sie sich von unserer Lebensenergie ernähren können.« Zhenak-Teng schauderte.
»Sie ernähren sich von eurer Lebensenergie?« erkundigte sich d’Averc stirnrunzelnd. »Was ist das?«
»Nun, was immer es ist, das uns Leben gibt, sie nehmen es uns, saugen es auf und lassen uns als leere Hülle zurück. Wir sterben langsam, können uns nicht mehr bewegen …«
Falkenmond wollte noch eine Frage in dieser Richtung stellen, überlegte es sich jedoch, denn offensichtlich war Zhenak-Teng das Thema unangenehm. Stattdessen fragte er: »Was ist diese Ebene eigentlich? Sie scheint mir nicht natürlicher Art zu sein.«
»Das ist sie auch nicht. Sie war einst das Gebiet unserer Landeplätze. Ihr müsst wissen, wir von den Einhundert Familien waren früher reich und mächtig – bis jener kam, der die Charkis schuf. Er wollte unsere Kunstwerke und Kraftquellen für sich allein. Er hieß Shenatar-vron-Kensai, und er brachte die Charkis aus dem Osten mit sich. Ihr einziger Zweck war, die Familien zu vernichten. Und das taten sie auch, mit Ausnahme der Handvoll, die überlebte. Aber nach und nach, im Laufe der Jahrhunderte, spüren die Charkis auch sie auf …«
»Ihr scheint mir sehr pessimistisch«, stellte d’Averc fast vorwurfsvoll fest.
»Nein, nur realistisch«, erwiderte Zhenak-Teng, ohne beleidigt zu sein.
»Wir möchten morgen weiter«, erklärte Falkenmond. »Habt Ihr Karten – oder etwas anderes, das uns den Weg nach Narleen weisen könnte?«
»Ich habe eine Karte, wenn sie auch nicht sehr genau ist. Narleen war früher eine bekannte Handelsstadt an der Küste. Doch das ist Jahrhunderte her. Ich weiß nicht, was aus der Stadt geworden ist.«
Zhenak-Teng erhob sich. »Ich zeige euch nun den Raum, den ich für euch habe richten lassen. Dort könnt ihr schlafen und morgen eure lange Reise antreten.«