2 Die Charkis

 

Ein Klirren wie von Schwertern weckte Falkenmond.

Einen Augenblick fragte er sich, ob er träumte oder wieder in der Höhle mit d’Averc war und der Kampf gegen Meliadus’ Leuten weiterging. Er sprang aus dem Bett und griff nach seiner Klinge, die mit seinem zerfetzten Gewand auf einem Hocker lag. Er befand sich, wie er nun festgestellt hatte, in dem Zimmer, das Zhenak-Teng ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und in einem zweiten Bett richtete d’Averc sich gerade mit erstaunter Miene auf.

Falkenmond schlüpfte hastig in seine Kleidung. Von hinter der Tür erklangen Kampflärm, Schreie, Schwertergeklirr und merkwürdiges Jammern und Stöhnen. Als er angezogen war, eilte er zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

Verwirrt zuckte er zurück. Die gutaussehenden bronzefarbigen Menschen des Teng-Kampps waren erbittert dabei, einander umzubringen. Das Klirren, das er gehört hatte, kam jedoch nicht von Schwertern, sondern von Beilen, Eisenstangen und einer Anzahl von. Haushaltsgeräten und wissenschaftlichen Instrumenten, die nun als Waffen dienten. Die Gesichter der Kämpfenden waren voll Hass. Schaum drang aus den Mundwinkeln, und die Augen funkelten irr. Sie alle schienen vom Wahnsinn besessen zu sein!

Dunkelblauer Rauch begann sich durch den Korridor zu schlängeln, und ein eigenartiger Gestank hing in der Luft.

»Beim Runenstab!« keuchte d’Averc. »Sie haben den Verstand verloren!«

Eine Gruppe Kämpfender drückte mit ihren Leibern die Tür nach innen, so dass Falkenmond sich plötzlich in ihrer Mitte befand. Er schob sie zurück und sprang zur Seite. Keiner der Tengs griff ihn oder d’Averc an. Sie fuhren fort, einander niederzumetzeln, als gäbe es keine Zuschauer.

»Schnell«, drängte Falkenmond d’Averc. Mit dem Schwert in der Hand eilte er auf den Korridor. Er hustete, als der blaue Rauch in seine Lunge drang und seine Augen tränen ließ. Chaos herrschte. Überall auf dem Gang lagen Tote.

Sie stiegen darüber hinweg, bis sie Zhenak-Tengs Apartment erreichten. Die Tür war verschlossen. Verzweifelt trommelte Falkenmond mit dem Schwertgriff dagegen. .

»Zhenak-Teng! Wir sind es! Falkenmond und d’Averc!«

Etwas bewegte sich hinter der Tür, dann sprang sie auf. Zhenak-Teng blickte mit vor Grauen geweiteten Augen heraus, zog die beiden schnell herein und versperrte hastig die Tür hinter ihnen.

»Die Charkis!« keuchte er. »Irgendwo muss noch eine andere Meute herumgestreift sein. Ich habe versagt! Sie haben uns unvorbereitet überfallen. Wir sind verloren!«

»Ich sehe keine Ungeheuer«, wunderte sich d’Averc. »Eure Verwandten kämpfen untereinander.«

»Eben«, murmelte Zhenak-Teng. »Dadurch vernichten uns die Charkis ja. Sie strahlen Wellen aus, die unsere Gehirnströmungen beeinflussen – die uns wahnsinnig machen, uns in unseren Brüdern und besten Freunden die schlimmsten Feinde sehen lassen. Und während wir kämpfen, betreten sie unser Kampp. Sie werden jeden Augenblick hier sein.«

»Der blaue Rauch – was ist das?« fragte d’Averc.

»Der Rauch hat mit den Charkis nichts zu tun. Er kommt von unseren zerstörten Generatoren. Wir haben nun keine Energie mehr.«

Poltern und Dröhnen ertönte, und der Raum, in dem sie sich befanden, erzitterte.

»Die Charkis«, murmelte Zhenak-Teng. »Bald werden ihre Wellen auch mich erreichen, selbst mich …«

»Wieso habt Ihr sie bisher nicht gespürt?« erkundigte sich Falkenmond.

»Einige von uns können ihnen besser widerstehen. Ihr scheint sie offenbar nicht zu fühlen. Andere werden ganz schnell betroffen.«

»Können wir denn nicht fliehen?« Falkenmond sah sich um. »Die Kugel, in der wir kamen …«

»Es ist zu spät …«

D’Averc packte Zhenak-Teng an der Schulter. »Kommt, Mann, wir können noch entkommen, wenn wir flink genug sind. Ihr braucht nur die Kugel zu bedienen.«

»Ich muss mit meiner Familie sterben! Ich bin an ihrem Untergang nicht schuldlos.« Zhenak-Teng war in seiner Haltung kaum noch wieder zu erkennen. Er war ein gebrochener Mann. Seine Augen wirkten bereits ein wenig glasig, und Falkenmond war überzeugt, dass er bald der fremdartigen Kraft der Charkis verfallen würde.

Nach kurzer Überlegung schlug er ihm den Griff seines Schwertes über den Schädel, dass er zusammenbrach.

»Hilf mir, Huillam«, drängte Falkenmond. »Wir bringen ihn in die Kugel.«

Der blaue Rauch wurde dicker und reizte zum Husten. Mit dem ohnmächtigen Zhenak-Teng zwischen ihnen stolperten sie aus dem Raum in den Korridor. Falkenmond erinnerte sich an den Weg, den sie gekommen waren, und führte d’Averc.

Plötzlich erbebte der gesamte Gang so heftig, dass sie stehen bleiben und Halt suchen mussten. Dann …

»Die Wand bricht!« brüllte d’Averc und stolperte rückwärts. »Rasch, Falkenmond! Wir müssen zurück!«

»Das geht nicht! Die Kugel liegt in dieser Richtung!«

Trümmer brachen aus der Decke, und ein graues, steinartiges Ding kroch durch den Spalt in der Wand in den Gang. Vorne an dem Ding befand sich eine Art Tentakel; er bewegte sich auf sie zu wie ein Mund, der sie küssen wollte.

Falkenmond schüttelte sich vor Ekel und stach mit dem Schwert danach. Es zog sich zurück, und es sah fast so aus, als sei es ein bisschen beleidigt über diesen Empfang, aber durchaus bereit, doch Freundschaft zu schließen. Erneut kam der Rüssel auf sie zu.

Diesmal schlug Falkenmond mit der Schneide darauf ein. Die Kreatur zischte, offenbar überrascht, dass sich etwas ihr widersetzte. Falkenmond hob Zhenak-Teng auf seine Schulter, hieb noch einmal auf den Rüssel ein, dann sprang er darüber und rannte durch den einfallenden Gang.

»Komm, d’Averc! Auf zur Kugel!«

D’Averc setzte über den verwundeten Tentakel und folgte Falkenmond.

Nun brach die Wand völlig ein und gab eine riesige Masse aus schlenkernden Tentakeln, einem pulsierenden Schädel und einem Gesicht frei, das eine Parodie menschlicher Züge war und idiotisch zu grinsen schien.

»Es möchte uns lieb haben«, rief d’Averc mit grimmigem Humor, als er einem nach ihm greifenden Tentakel auswich. »Willst du denn seine Gefühle wirklich so verletzen, Dorian?«

Falkenmond war damit beschäftigt, die Tür zur Kugelgarage zu öffnen. Zhenak-Teng, den er neben sich auf den Boden gelegt hatte, begann zu stöhnen und die Hände an den Kopf zu pressen.

Als er die Tür offen hatte, hob Falkenmond Zhenak-Teng wieder auf die Schulter und trat in die Kugelgarage ein.

Kein Geräusch drang aus der Kugel, und auch die Farben waren verschwunden, aber ein Spalt, groß genug, sie einzulassen, klaffte an einer Seite. Falkenmond erstieg die Leiter und ließ Zhenak-Teng in den Kontrollsitz fallen. D’Averc folgte ihm.

»Startet dieses Ding«, drängte er Zhenak-Teng, »oder die Charkis verschlingen uns.« Er deutete mit dem Schwert auf das riesige Ungeheuer, das sich durch die Garagentür zwängte.

Mehrere Tentakel griffen in die Kugel. Einer berührte Zhenak-Teng leicht an der Schulter, und der Mann stöhnte. Falkenmond schrie und schlug mit dem Schwert danach. Es fiel auf den Boden. Aber inzwischen hatten sich bereits weitere um den bronzehäutigen Mann gewunden, der ihre Berührung nun völlig willenlos duldete. Falkenmond und d’Averc brüllten ihn an, die Kugel zu starten, während sie verzweifelt auf die Tentakel einhieben.

Schließlich packte Falkenmond Zhenak-Teng am Kragen. »Schnell, schließt die Kugel! Schnell!«

Wie ein Roboter gehorchte Zhenak-Teng. Er drückte auf einen Knopf. Die Kugel begann zu summen und in den verschiedensten Farben zu glühen.

Die Tentakel versuchten, sich gegen die schließenden Wände, der Kugel zu stemmen. Drei gelangten an d’Averc vorbei und saugten sich an Zhenak-Teng fest, der aufstöhnte und schlaff in sich zusammensank. Falkenmond hieb erneut auf sie ein, und die Kugel schloss sich und begann aufzusteigen.

Einer nach dem anderen verschwanden die Tentakel, und Falkenmond seufzte erleichtert auf. Er wandte sich an den bronzehäutigen Mann. »Wir sind frei!«

Aber Zhenak-Teng starrte nur stumpf vor sich hin, seine Arme hingen kraftlos an seiner Seite.

»Zu spät«, flüsterte er. »Es hat mir das Leben ausgesaugt …« Er rutschte aus dem Sitz und schlug auf dem Boden auf.

Falkenmond beugte sich über ihn und drückte die Hand auf seine Brust. Schaudernd erhob er sich. »Er ist kalt, Huillam -unvorstellbar kalt!«

»Lebt er noch?« fragte der Franzose.

Falkenmond schüttelte den Kopf. »Sein Herz schlägt nicht mehr.«

Die Kugel stieg mit zunehmender Geschwindigkeit auf. Falkenmond sprang zur Kontrolltafel und starrte verzweifelt darauf. Aber er wagte nicht, irgendetwas zu berühren, damit die Kugel ja nicht zu sinken begänne und sie wieder in Teng-Kampp landeten, wo die Charkis die Lebensenergie der Tengs aussaugten.

Plötzlich befanden sie sich an der Oberfläche, und die Kugel begann hüpfend über den Rasen zu rollen. Falkenmond griff nach dem Hebel, den er am Tag zuvor Zhenak-Teng hatte bedienen sehen, und zog ihn ein wenig nach rechts. Sofort schlug das Gefährt diese Richtung ein.

»Ich glaube, ich kann sie steuern«, erklärte er erleichtert. »Aber wie man sie zum Halten bringt oder sie öffnet, ist eine andere Sache.«

»Solange wir nur diese Scheusale hinter uns lassen, stört mich das im Augenblick nicht«, versicherte ihm d’Averc mit einem grimmigen Lächeln. »Lenke das Ding nach Süden, Dorian. So kommen wir vielleicht sogar dorthin, wohin wir wollen.«

Falkenmond änderte die Richtung, und die Kugel rollte stundenlang über die Ebene, bis in der Ferne ein Wald in Sicht kam.

»Ich bin gespannt, wie die Kugel sich verhält, wenn sie die Bäume erreicht«, murmelte d’Averc. »Zweifellos ist sie nur für freies Gelände geschaffen.«