1 Der wartende Ritter

 

Als sie sich der öden, zerklüfteten Küste näherten, betrachtete Falkenmond verstohlen d’Averc, der seinen Ebermaskenhelm zurückgeschoben hatte und mit einem leichten Lächeln auf die See hinausschaute. D’Averc schien Falkenmonds Blick zu spüren und sah ihn an.

»Ihr macht Euch Gedanken, Herzog Dorian. Freut Ihr Euch denn nicht, dass unser Abenteuer so gut ausgegangen ist?«

»Doch.« Falkenmond nickte. »Meine Überlegungen gelten Euch. Ihr stelltet Euch, ohne ein Wort zu verlieren, auf unsere Seite, obwohl Ihr nichts dadurch gewinnt. Ich bin sicher, dass es Euch gleichgültig war, ob Schagaroff seine gerechte Strafe erhielt oder nicht, und ganz gewiss interessiert es Euch wenig, was aus Yisselda geworden ist. Aber Ihr habt keinen einzigen Fluchtversuch unternommen.«

D’Avercs Lächeln wurde stärker. »Weshalb sollte ich? Ihr trachtet mir nicht nach dem Leben. Im Gegenteil, Ihr habt es mir gerettet. Im Augenblick scheint mir mein Geschick mehr mit Eurem verknüpft als mit dem des Dunklen Imperiums.«

»Aber Eure Loyalität gilt nicht mir und meinem Streben.«

»Meine Loyalität, mein lieber Herzog, gilt nur, wie ich bereits einmal erwähnte, dem Zweck, der meine Ambitionen fördert. Ich muss jedoch gestehen, dass ich meine Ansicht über die Hoffnungslosigkeit Eures Unterfangens revidiert habe – Ihr habt ein so unwahrscheinliches Glück, dass ich hin und wieder sogar geneigt bin zu glauben, Ihr könntet vielleicht gegen das Dunkle Imperium bestehen. Wenn das möglich wäre, wäre ich sogar mit größter Begeisterung bereit, mich Euch anzuschließen.«

»Ihr wartet also nicht vielleicht nur ab, in der Hoffnung, unsere Rollen vertauschen zu können und mich erneut für Eure Herren gefangen zu nehmen?«

»Ihr würdet meinen Beteuerungen ohnehin nicht glauben.« D’Averc lächelte. »Also verschwende ich lieber gar keine Zeit damit.«

Die rätselhafte Antwort ließ Falkenmond die Brauen runzeln.

Als wolle er dem Thema des Gesprächs eine andere Wendung geben, schüttelte sich d’Averc in einem starken Hustenanfall und lehnte sich heftig atmend im Boot zurück.

Oladahn rief plötzlich vom Bootsbug aus. »Herzog Dorian! Seht – am Strand!«

Falkenmond blickte in die angewiesene Richtung. Jetzt konnte er unter den aufragenden Klippen einen schmalen Streifen Strand erkennen und einen Reiter, der bewegungslos in ihre Richtung sah, als erwarte er sie mit einer besonderen Botschaft.

Der Kiel des Bootes schabte über den Kies des Strandes, und Falkenmond erkannte den Reiter, der im Schatten der Klippe wartete.

Falkenmond sprang aus dem Boot und näherte sich ihm. Von Kopf bis Fuß war der Körper des Ritters gepanzert, der unter dem Helm verborgene Kopf nickte, als bewegten den Reiter düstere Gedanken.

»Wusstet Ihr, dass ich hierherkomme?« fragte Falkenmond.

»Es war anzunehmen, dass Ihr Euch diesen Ort zur Landung aussuchen würdet«, erwiderte der Ritter in Schwarz und Gold. »Also wartete ich.«

»Ich verstehe.« Falkenmond sah zu ihm auf und wusste nicht so recht, was er als nächstes tun sollte. »Ich verstehe …«

D’Averc und Oladahn stapften nun ebenfalls den felsigen Strand auf sie zu.

»Kennt Ihr diesen Herrn, Herzog Dorian?« erkundigte sich d’Averc.

»Ein alter Bekannter«, erklärte Falkenmond.

»Ihr seid Sir Huillam d’Averc«, stellte der Ritter in Schwarz und Gold mit tiefer Stimme fest. »Ich sehe, Ihr tragt noch immer die Rüstung Granbretaniens.«

»Sie ist nach meinem Geschmack«, erwiderte d’Averc. »Ihr habt Euren Namen noch nicht genannt.«

Der Ritter in Schwarz und Gold ignorierte den Franzosen. Mit einer Hand, die in einem schweren Panzerhandschuh steckte, zeigte er auf Falkenmond. »Er ist es, mit dem ich sprechen muss. Ihr sucht die Euch versprochene Yisselda, Herzog Dorian, und seid auf dem Weg zum Wahnsinnigen Gott?«

»Ist Yisselda seine Gefangene?«

»Auf gewisse Weise ja. Aber Ihr müsstet den Wahnsinnigen Gott auch aus einem anderen Grund aufsuchen.«

»Lebt Yisselda?« drängte Falkenmond.

»Sie lebt. Aber ehe sie wieder die Eure sein kann, müsst Ihr erst den Wahnsinnigen Gott vernichten und ihm das Rote Amulett abnehmen – denn dieses Amulett ist rechtmäßig Eures. Zwei Dinge hat der Wahnsinnige Gott gestohlen, und beide gehören Euch – das Mädchen und das Amulett.«

»Yisselda ist mein, doch ich weiß von keinem Amulett. Ich habe nie eines besessen.«

»Es handelt sich um das Rote Amulett, und es gehört Euch. Der Wahnsinnige Gott hat kein Recht, es zu tragen, deshalb raubte es ihm den Verstand.«

Falkenmond lächelte. »Wenn es die Eigenschaft dieses Amuletts ist, dann soll er es ruhig behalten.«

»Dies ist eine ernste Angelegenheit, Herzog Dorian. Das Rote Amulett hat den Wahnsinn des Gottes herbeigeführt, weil er es von einem Diener des Runenstabs stahl. Aber wenn der Diener des Runenstabs es trägt, ist er in der Lage, gewaltige Kräfte durch dieses Amulett aus dem Runenstab herbeizurufen. Nur einer, der es zu Unrecht trägt, verfällt dem Wahnsinn – und nur der rechtmäßige Eigentümer kann es sich holen, wenn ein anderer es trägt. Deshalb konnte ich es ihm nicht abnehmen, noch vermag es irgendein anderer außer Herzog Dorian Falkenmond von Köln, der Diener des Runenstabs.«

»Wieder nennt Ihr mich Diener des Runenstabs, doch weiß ich von keinen Pflichten, die ich dem Runenstab gegenüber hätte. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob dies nicht alles ein Phantasiegespinst ist und Ihr nicht selbst ein Verrückter seid.«

»Denkt, was Ihr wollt. Aber es stimmt doch, dass Ihr nichts anderes im Sinn habt, als den Wahnsinnigen Gott aufzusuchen – Euer Streben geht dahin, ihn zu finden, nicht wahr?«

»Um Yisselda zu finden, seine Gefangene.«

»Wie Ihr meint. So brauche ich Euch nicht erst von Eurer Aufgabe zu überzeugen.«

Falkenmond runzelte die Stirn. »Seit meinem Aufbruch von Hamadan erlebte ich eine Reihe von recht merkwürdigen Zufällen …«

»Es gibt keine Zufälle, wo der Runenstab wirkt. Nur sind seine Handlungen manchmal erkennbar und manchmal nicht.« Der Ritter in Schwarz und Gold drehte sich im Sattel um und deutete auf einen Weg, der in Serpentinen eine Klippe emporführte. »Hier können wir aussteigen und oben übernachten. Am frühen Morgen machen wir uns dann auf den Weg zur Burg des Wahnsinnigen Gottes.«

»Ihr wisst, wo sie liegt?« fragte Falkenmond eifrig und vergaß für einen Moment seine Zweifel.

»Ja.«

Dann kam Falkenmond plötzlich ein anderer Gedanke. »Ihr habt nicht etwa Yisseldas Gefangennahme selbst in die Wege geleitet? Vielleicht, um mich dazu zu bringen, den Wahnsinnigen Gott zu suchen?«

»Yisselda wurde von Juan Zhinaga, einem Verräter in der Armee ihres Vaters, entführt, der vorhatte, sie nach Granbretanien zu bringen. Doch unterwegs nahmen Soldaten des Dunklen Imperiums sie ihm ab, weil sie selbst die Belohnung einstecken wollten. Während sie kämpften, floh Yisselda und schloss sich schließlich einer Flüchtlingskarawane durch Italien an. Sie gelangte an Bord eines Schiffes, das angeblich zur Provence fuhr, in Wirklichkeit aber ein Sklavenschiff war, das das Mädchen nach Arabien verschleppte. Unterwegs wurde es doch von Piraten überfallen – von jenem Schiff, das Ihr in Flammen setztet …«

»Ich kenne den Rest. Die Hand, die wir fanden, gehörte demnach einem Piraten, der Yisseldas Ring stahl. Aber Eure Geschichte klingt mir nicht sehr glaubhaft. Diese Zufälle …«

»Ich sagte Euch doch – es gibt keine Zufälle, wo der Runenstab wirkt. Manchmal ist das Muster einfach zu erkennen, manchmal schwerer.«

Falkenmond seufzte. »Ist sie unverletzt?«

»Ziemlich.«

»Was meint Ihr damit?«

»Wartet, bis Ihr zur Burg des Wahnsinnigen Gottes kommt.«

Falkenmond versuchte, weiter in den Ritter in Schwarz und Gold zu dringen, der rätselhafte Mann jedoch sprach nicht mehr. Er saß auf seinem Pferd und schien tief in Gedanken versunken, während Falkenmond zum Boot zurückging und Oladahn und d’Averc half, die nervösen Pferde an den Strand zu bringen und die restliche Habe und die Verpflegung, die sie gekauft hatten, auszuladen. Er fand seine alte Satteltasche und fragte sich, ob er sie wohl sicher durch, alle Abenteuer bringen konnte.

Als sie fertig waren, wendete der Ritter in Schwarz und Gold stumm sein Pferd und begann ohne Pause den steilen Pfad hinanzureiten.

Die drei Gefährten jedoch mussten absteigen und konnten ihm nur langsam folgen. Einige Male stolperten die Männer und auch die Pferde und drohten abzustürzen. Steine brachen los und hüpften tief hinunter auf den schieferfarbenen Strand. Aber schließlich hatten sie den beschwerlichen Aufstieg bewältigt. Vor ihnen lag eine sanft hügelige Ebene, die sich endlos dahinzustrecken schien.

Der Ritter in Schwarz und Gold zeigte nach Westen. »Am Morgen reiten wir in Richtung zur Pulsierenden Brücke. Dahinter liegt die Ukraine, und die Burg des Wahnsinnigen Gottes liegt viele Tagesreisen im Inneren des Landes. Wir müssen vorsichtig sein, denn auch hier sind die Truppen des Dunklen Imperiums zugegen.«

Er sah zu, wie die anderen es sich gemütlich machten. D’Averc sah zu ihm hoch. »Wollt Ihr nicht an unserem Mahl teilnehmen, Sir?« fragt er, spöttisch fast.

Aber der große, behelmte Kopf bewegte sich nicht, und sowohl der Ritter als auch das Pferd standen die ganze Nacht wie ein Standbild, unbeweglich, und schienen über die Gefährten zu wachen – vielleicht wachten sie aber auch darüber, dass die drei nicht alleine aufbrachen.

Falkenmond lag in seinem Zelt und sah hinaus auf die Silhouette des Ritters in Schwarz und Gold. Er fragte sich, ob dieser überhaupt menschlich war und ob er ihm, Falkenmond, letztendlich freundlich gesonnen war oder nicht. Er seufzte. Er wollte nur Yisselda finden, sie retten und mit ihr in die Kamarg zurückkehren, um zu sehen, ob die Provinz noch immer gegen das Dunkle Imperium aushielt. Aber sein Leben war kompliziert geworden durch dieses seltsame Mysterium des Runenstabs und durch diese Bestimmung, der er folgen musste und die in den »Plan« des Runenstabs passte. Jedoch war der Runenstab ein Ding und keine Intelligenz. Oder war er eine Intelligenz? Er war die größte Macht, die man anrufen konnte, wenn man einen Schwur tat. Man glaubte, dass er die Geschichte der Menschheit lenkte. Warum also, fragte Falkenmond sich, brauchte er »Diener«, wenn ihm ja doch schließlich alle Menschen dienten?

Aber vielleicht dienten ihm gar nicht alle Menschen. Vielleicht erwuchsen von Zeit zu Zeit Mächte – wie das Dunkle Imperium –, die dem entgegenwirkten, was der Runenstab für die Menschheit bestimmt hatte. Dann brauchte der Runenstab vielleicht Diener.

Falkenmonds Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nicht bestimmt, über solche Tiefgründigkeiten nachzudenken. Wenig später war er eingeschlafen.