9 König Huons Ende
Baron Meliadus ritt sein Streitross in vollem Galopp durch die hallenden Korridore in Huons Palast. So viele Male war er schon hier gewesen, doch immer in demütiger Ergebenheit oder zumindest in vorgetäuschter Demut. Nun hielt er seine Wolfsmaske stolz erhoben, und sein Schlachtruf gellte, während er sich einen blutigen Weg durch die Gottesanbeterinnengarde bahnte, die er während der letzten Audienz so gefürchtet hatte. Wild hieb er mit seinem gewaltigen Breitschwert um sich – dieselbe Klinge, mit der er Huons Macht in Europa verbreitet hatte. Er ließ seinen Rappen steigen, und der Hengst, der schon über Dutzende von eroberten Landen mit ihm getrabt war, schlug nun mit den schweren Hufen Gottesanbeterinnenkrieger nieder und stampfte auf Insektenmasken.
Meliadus lachte. Meliadus brüllte. Meliadus galoppierte zum Thronsaal, wo sich der Rest der Verteidiger sammelte. Er sah, wie sie am hinteren Ende des Korridors versuchten, eine Flammenkanone aufzustellen. Mit einem Dutzend berittener Wölfe stürmte er ohne zu zögern auf sie ein, ehe die überraschten Artilleristen noch ihre Waffen einzusetzen vermochten. Sechs Schädel flogen in gleich viel Sekunden von den Hälsen. Keiner der Kanoniere überlebte. Flammenlanzen zischten an dem schwarzen Wolfshelm vorbei, aber Meliadus beachtete sie überhaupt nicht. Die Augen seines Hengstes glühten vor Kampflust, und er stürmte auf die Feinde ein.
Meliadus drängte die Gottesanbeterinnengarde zurück. Sein Schwert zischte ohne Unterlass durch die Luft, und Huons Krieger starben, überzeugt, dass Meliadus über übernatürliche Kräfte verfügte.
Aber es war reine Energie, sein Siegesbewußtsein, das. Meliadus, Baron von Kreiden, antrieb, als er zwischen den massiven Toren zum Thronraum hindurchgaloppierte und dort die restlichen Wachen in vollkommener Verwirrung vorfand. Alle verfügbaren Männer waren zur Verteidigung der Tore nötig gewesen, und nur wenige Gottesanbeterinnenwachen kamen ihm nun mit vorgestreckten Spießen zögernd entgegen. Meliadus brüllte vor Lachen und ritt durch sie hindurch, ehe sie sich auch nur bewegen konnten. Er jagte auf die Thronkugel zu, auf demselben Weg, den er früher gekrochen war.
Die schwarze Kugel nahm allmählich hellere Farben an, und die verschrumpelte Gestalt des Reichskönigs Huon von Granbretanien wurde sichtbar. Die fötusgleiche Form wand sich in ihrem gläsernen Gefängnis wie ein missgestalteter Fisch und zappelte in der engen Kugel, die ihr das Leben bedeutete. Huon war hilflos. Er war ungeschützt. Nie hatte er erwartet, sich gegen einen solchen Verrat schützen zu müssen. In all den zweitausend Jahren seiner Regentschaft hatte er nie auch nur daran gedacht, dass ein granbretanischer Edelmann sich gegen seinen rechtmäßigen Herrscher wenden könnte.
»Meliadus …« Furcht klang aus der wohlklingenden Stimme. »Meliadus – Ihr seid verrückt. Hört doch – wir sind es, Euer Reichskönig, der zu Euch spricht. Wir befehlen Euch, sofort den Palast zu verlassen und all Euere Truppen zurückzuziehen. Ihr müsst mir Treue geloben, Meliadus!«
Die schwarzen Augen, sonst so spöttisch und durchdringend böse, waren nun voll tierischer Angst. Die Zunge fuhr über die dünnen Lippen wie eine Schlange, die nutzlosen Hände und Füße zuckten nervös.
»Meliadus!«
Meliadus’ Gelächter dröhnte durch die Halle. Er hob sein Schwert und schlug auf die Thronkugel ein. Etwas wie ein elektrischer Schock durchfuhr ihn, als die Klinge in die Kugel drang. Ein betäubender Knall erklang, und die Kugel explodierte weißglühend. Ein letzter wimmernder Schrei war zu vernehmen, ehe die Scherben zu Boden fielen und die Flüssigkeit auf Meliadus herabspritzte.
Er blinzelte und erwartete, das verzerrte Gesicht und die hässliche Fötusgestalt seines ermordeten Königs vor seinen Füßen liegen zu sehen.
Aber er sah nichts – außer absoluter Schwärze., Sein Gelächter wandelte sich in einen grauenhaften Entsetzensschrei.
»Bei Huons Zähnen! ICH BIN BLIND!«