6 Die Bestien des Wahnsinnigen Gottes
Der Ritter in Schwarz und Gold führte sie zu einer Stelle des Innenhofs, wo zwei gewaltige, eiserne Falltüren in das Kopfsteinpflaster eingelassen waren. Sie mussten erst einige Leichen zur Seite ziehen, ehe sie an die Messingringe herankonnten, um die Türen zu heben, hinter denen eine Steinrampe in die düstere Tiefe führte.
Von drinnen stieg ein warmer Geruch, auf, der Falkenmond gleichzeitig vertraut und doch nicht vertraut schien. Er zögerte am Kopfende der Rampe; denn er war sich sicher, dass der Geruch Gefahr bedeutete.
»Habt keine Angst«, sagte der Ritter mit fester Stimme. »Schreitet nur hinab, dort unten findet Ihr die Möglichkeit, von hier zu entkommen.«
Langsam stieg Falkenmond in die Tiefe. Die anderen folgten ihm zögernd.
Das Licht, das nur schwach von oben herunterdrang, zeigte ihnen einen langen Raum, an dessen Ende etwas stand, auf das Falkenmond sich keinen Reim machen konnte. Er wollte darauf zugehen, doch der Ritter hielt ihn zurück. »Nicht jetzt. Erst die Tiere. Sie sind in ihren Boxen.«
Da erkannte Falkenmond, dass der lange Raum eine Art Stall mit geschlossenen Boxen an jeder Seite war. Von einigen davon drang Scharren und Knurren, und plötzlich erzitterte eine Tür, als sich offenbar von der anderen Seite etwas dagegenwarf.
»Das sind gewiss keine Pferde«, murmelte Oladahn. »Auch keine Rinder. Wenn Ihr mich fragt, Herzog Dorian, ich würde sagen, es riecht nach Katzen.«
Falkenmond nickte und befingerte den Schwertgriff. »Raubkatzen – ja, so riecht es. Aber wie können Katzen uns bei der Flucht helfen?«
D’Averc hatte eine Fackel von der Wand genommen und sie angezündet. In ihrem Schein sah Falkenmond, dass das, was am Ende des Ganges stand, eine Art Streitwagen war, der ihnen bequem Platz bieten würde. Die Doppeldeichsel wies Halterungen für vier Zugtiere auf.
»Öffnet die Boxen«, forderte der Ritter Falkenmond auf, »und spannt die Katzen ein.«
Falkenmond wirbelte zu ihm herum. »Katzen an den Wagen spannen? Das ist ein verrückter Einfall, der zu dem Wahnsinnigen Gott passt – wir aber sind vernünftige Sterbliche, Ritter. Außerdem hört es sich den Geräuschen nach an, als handle es sich um Raubkatzen. Wenn wir die Boxen öffnen, fallen sie möglicherweise über uns her.«
Wie zur Bestätigung erscholl ein dröhnendes Brüllen aus einer der Boxen, und die anderen Bestien stimmten ein, bis das Gebrüll im ganzen Stall widerhallte und nicht mehr zu übertönen war.
Als sich der Lärm etwas gelegt hatte, zuckte Falkenmond mit den Schultern und ging auf die Rampe zu. »Wir werden schon irgendwo Pferde finden und mit ihnen weiterziehen.«
»Habt Ihr immer noch nicht gelernt, meinem Rat zu vertrauen?« fragte der Ritter in Schwarz und Gold. »Sprach ich nicht die Wahrheit über das Rote Amulett und alles andere?«
»Diese Wahrheit habe ich noch nicht gänzlich ergründet«, sagte Falkenmond.
»Diese wahnsinnigen Frauen gehorchten der Macht des Amuletts, nicht wahr?«
»Das taten sie«, stimmte Falkenmond zu.
»Die Bestien des Wahnsinnigen Gottes sind auch darauf abgerichtet, dem Herrn des Roten Amuletts zu gehorchen. Was nutzte es mir, wenn ich Euch anlöge, Falkenmond?«
Falkenmond zuckte die Schultern. »Das Misstrauen ist mir zur zweiten Natur geworden, seit ich meine Erfahrungen mit dem Dunklen Imperium machte. Ich weiß nicht, ob Ihr etwas davon hättet oder nicht. Aber …« Er schritt auf die nächste Box zu und legte die Hand auf den hölzernen Riegel, »Ich bin des Hin – und Hergeredes müde und will sehen, ob ich Euch trauen kann …«
Er zog den Riegel zurück, und die Tür der Box wurde von innen durch eine riesige Pranke aufgestoßen. Ein Kopf schob sich heraus, größer als der eines Stiers, wilder als der eines Tigers, ein zähnefletschender Katzenkopf mit schrägen, gelben Augen und langen, elfenbeinfarbigen Zähnen. Als das Tier auf weichen Ballen heraustappte, sahen sie, dass sein Rücken mit einer Reihe etwa ein Fuß hoher in Stacheln auslaufender Hörner der gleichen Farbe und desselben Aussehens wie die Reißzähne bewachsen war, die bis zum Schwanz führten, der -unähnlich dem einer Katze – ringsum Widerhaken aufwies.
»Eine zum Leben erwachte Legende«, stieß d’Averc, für den Moment weniger gefasst als sonst, hervor. »Einer der mutierten Kriegsjaguare aus Asiakommunista. Ich sah sie in einem uralten Buch abgebildet, und der Text besagte, wenn es sie überhaupt gegeben habe, seien sie vor etwa tausend Jahren einem verrückten biologischen Experiment entsprungen und nicht fähig gewesen, sich fortzupflanzen …«
»Das sind sie auch nicht«, warf der Ritter in Schwarz und Gold ein, »aber ihre Lebensspanne ist schier unbegrenzt.«
Der gewaltige Kopf wandte sich nun Falkenmond zu, und der Widerhakenschwanz fegte hin und her, während das Tier das Amulett beäugte.
»Befehlt ihm, sich hinzulegen«, schlug der Ritter vor.
»Hinlegen!« befahl Falkenmond, und sofort streckte das Tier sich auf dem Boden aus, und seine Augen verloren ein wenig von ihrer Wildheit.
Falkenmond lächelte. »Ich muss mich bei Euch entschuldigen, Ritter. Also wollen wir auch die anderen drei aus ihren Boxen holen. Oladahn, d’Averc …«
Seine Freunde hoben die Riegel von den restlichen Boxen, und Falkenmond legte den Arm um Yisseldas Schultern.
»Die Kutsche wird uns nach Hause bringen, Liebste.« Plötzlich ersann er sich etwas. »Ritter, meine Satteltaschen – sie müssen noch an meinem Pferd hängen, außer die granbretanischen Hunde haben sie gestohlen.«
»Wartet hier.« Der Ritter in Schwarz und Gold drehte sich um und stieg die Rampe hoch. »Ich werde nach ihnen sehen.«
»Das werde ich selbst«, versuchte Falkenmond ihn zurückzuhalten. »Ich kenne …«
»Nein«, widersprach der Ritter. »Ich gehe.«
Erneutes Misstrauen erwachte in Falkenmond. »Weshalb?«
»Nur Ihr, mit dem Amulett, habt die Macht, die Tiere unter Kontrolle zu halten. Ließet Ihr sie allein, würden sie über Eure Freunde herfallen und sie zerfleischen.«
Widerstrebend blieb Falkenmond zurück und sah dem Ritter nach, der schweren Schrittes die Rampe emporstieg.
Aus den restlichen Boxen schlichen lautlos drei weitere der stachelhornigen Katzen. Oladahn räusperte sich nervös. »Ihr solltet sie vielleicht darauf aufmerksam machen, dass sie Euch zu gehorchen haben«, wandte er sich an den Herzog von Köln.
»Hinlegen!« befahl Falkenmond, und die drei Bestien ließen sich auf dem Boden nieder. Er schritt auf die nächste zu und legte eine Hand auf ihren dicken Nacken, unter dessen drahtigem Fell er die harten Muskeln spürte. Die Tiere waren etwa von Pferdehöhe, aber viel kräftiger und breiter – und zweifellos unvorstellbar gefährlich. Sie waren ganz sicher nicht gezüchtet worden, um Kutschen zu ziehen, sondern um in der Schlacht zu töten.
»Wir wollen die Tiere einspannen«, sagte Falkenmond.
D’Averc und Oladahn schoben das Gefährt aus der Ecke. Es war aus schwarzem Messing und grün und golden und roch unsagbar alt. Nur das Ledergeschirr war verhältnismäßig neu. Sie legten das Geschirr über Köpfe und Schultern der Katzen, und die mutierten Jaguare bewegten sich kaum, nur hin und wieder legten sie die Ohren an, wenn die Männer zu rasch festzogen.
Falkenmond half Yisselda in die Kutsche. »Wir müssen nur noch auf den Ritter warten, dann können wir aufbrechen«, erklärte Falkenmond.
»Wo ist er denn?« erkundigte sich d’Averc.
»Meine Satteltaschen holen.«
D’Averc zuckte die Schultern und zog den schweren Helm über das Gesicht herunter. »Er braucht aber reichlich lange. Ich bin froh, wenn wir diesen schrecklichen Ort hinter uns haben. Er stinkt nach Tod und Verderben.«
Oladahn deutete zur Rampenöffnung. »Ist es das, was Ihr riecht, d’Averc?«
An der Falltür standen sieben oder mehr Soldaten des Wieselordens. Ihre langschnauzigen Masken schienen vor Vorfreude auf die Beute geradezu zu zittern.
»Schnell in die Kutsche«, ordnete Falkenmond an, als die Wieselkrieger begannen, die Rampe herunterzusteigen.
Vorne am Wagen befand sich der erhabene Kutschbock, und daneben in einer Halterung, die wohl einst für Wurfspeere gedacht war, steckte eine Peitsche mit langem Griff. Falkenmond sprang auf den Kutschbock, packte die Peitsche und ließ sie über den Köpfen der Tiere schnalzen. »Auf, meine Schönen, auf!« Die Katzen erhoben sich. »Los!« befahl er ihnen.
Die Kutsche machte einen gewaltigen Satz vorwärts, als die starken Tiere sie die Rampe hinaufzogen. Die wieselmaskigen Krieger brüllten auf, als sie die riesigen, gehörnten Katzen auf sich zukommen sahen. Manche retteten sich von der Rampe, aber die meisten gerieten unter die klauenbewehrten Pranken und die eisenbeschlagenen Räder.
Als das bizarre Gefährt im Hof auftauchte, rannten die Krieger, die gekommen waren, um die offene Falltüre zu untersuchen, panikerfüllt auseinander.
»Wo ist der Ritter?« rief Falkenmond über den Lärm der aufgeschreckten Soldaten. »Wo sind meine Satteltaschen?«
Aber der Ritter in Schwarz und Gold war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie Falkenmonds Pferd.
Nun warfen die Schwertkämpfer des Dunklen Imperiums sich gegen die Kutsche. Falkenmond ließ die Peitsche auf sie herabzischen, während hinter ihm Oladahn und d’Averc sie mit ihren Klingen abwehrten.
»Lenkt sie durchs Tor!« schrie der Franzose. »Beeilt Euch -sonst erdrücken sie uns mit ihrer Übermacht!«
»Wo ist der Ritter!« Falkenmond blickte wild um sich.
»Zweifellos wartet er vor der Burg!« schrie d’Averc mit Verzweiflung in der Stimme. »Schnell, Herzog Dorian, sonst sind wir verloren!«
Da sah Falkenmond plötzlich sein Pferd über die Köpfe der sich zusammendrängenden Krieger hinweg. Es war ohne seine Satteltaschen.
Panikerfüllt schrie er erneut. »Wo ist der Ritter in Schwarz und Gold? Ich muss ihn finden! Der Inhalt der Satteltaschen mag Tod oder Leben für die Kamarg bedeuten!«
Oladahn schüttelte ihn an den Schultern. »Und wenn Ihr die Kutsche nicht sofort hinauslenkt, bedeutet es unseren Tod -und vielleicht noch Schlimmeres für Yisselda!«
Falkenmond war vor Unentschlossenheit schier verzweifelt, aber schließlich begriff er Oladahns Worte. Er stieß einen. schrillen Befehl aus, schnalzte mit der Peitsche und lenkte die Katzen, die gewaltige Sprünge machten, durch das Tor über die Zugbrücke und das Seeufer entlang. Hinter ihnen stürmten die Horden Granbretaniens.
Schneller als Pferde zogen die Bestien des Wahnsinnigen Gottes den hüpfenden Wagen fort von der finsteren Burg, dem nebelverschleierten See, dem Hüttendorf und den verstreut liegenden Leichen, ins Vorgebirge jenseits des Sees, auf einer schlammigen Straße, die zwischen düsteren Felsen hindurchführte, und schließlich wieder auf die weite Ebene.
»Wenn mir der Einwand erlaubt ist«, sagte d’Averc, der sich verzweifelt an der Reling des Gefährts festhielt, um nicht hinausgeschleudert zu werden, »möchte ich doch feststellen, dass wir ein wenig zu schnell fahren …«
Oladahn versuchte durch seine zusammengebissenen Zähne zu grinsen. Er kauerte auf dem Boden des Fahrzeugs und versuchte, Yisselda vor den schlimmsten Schlägen dieser rasenden Fahrt zu schützen.
Falkenmond jedoch schien nichts zu hören. Er hielt die Zügel umklammert und machte keine Anstalten, die Geschwindigkeit der Bestien zu verringern. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen funkelten vor Grimm; denn er war sicher, dass der Ritter in Schwarz und Gold ihn betrogen hatte – ausgerechnet der Mann, der behauptete, sein wichtigster Verbündeter im Kampf gegen das Dunkle Imperium zu sein.