3 Elvereza Tozer
Falkenmond hätte sich Elvereza Tozer sicher anders vorgestellt, wäre er darauf vorbereitet worden, dass er Granbretaniens größten Dramatiker kennenlernen würde – einen Dichter, dessen Werke in ganz Europa beliebt waren, selbst bei jenen, die alles andere verabscheuten, das aus Granbretanien kam. Um den Autor von König Stauen, Katine und Cama, Der Letzte der Braldurs, Annala, Chirshil und Adulf, Die Stahlkomödie und vielen anderen Bühnenstücken war es in letzter Zeit sehr still geworden, aber Falkenmond hatte die Kriegswirren dafür verantwortlich gehalten. Er hätte Tozer in vornehmer Kleidung erwartet, selbstsicher und geistreich. Stattdessen begegnete ihm hier ein Mann, der mit dem Schwert besser als mit Worten umging, auffallend bunte Fetzen trug und, wie ihm schien, eingebildet und ein Tor war.
Als er Tozer über die Marschwege trieb, auf Burg Brass zu, rätselte Falkenmond über diesen offensichtlichen Widerspruch nach. Log der Mann? Und wenn, warum sollte er sich ausgerechnet als diesen berühmten Stückeschreiber ausgeben?
Tozer schien durch diese Wendung des Schicksals nicht sonderlich berührt, er schritt dahin und pfiff eine fröhliche Weise.
Falkenmond hielt inne. »Einen Augenblick«, sagte er und griff nach den Zügeln des Pferdes, das hinter ihm hertrottete. Tozer wandte sich um. Er trug noch seine Maske. Falkenmond war so verblüfft gewesen, diesen Namen zu hören, dass er völlig vergessen hatte, sich auch das Gesicht des Mannes anzusehen.
»Nun«, bemerkte Tozer und sah sich um. »Das ist ja eine wundervolle Landschaft hier – sie scheint jedoch nicht allzu viele Zuschauer zu beherbergen, denke ich.«
»Ja«, erwiderte Falkenmond verlegen. »Ja …« Er deutete auf das Pferd. »Wir werden zu zweit reiten. In den Sattel, Meister Tozer.«
Tozer saß auf, und Falkenmond setzte sich hinter ihn und nahm die Zügel.
Im leichten Trab ritten sie zu den Toren der Stadt, und von dort ging es langsam durch die Straßen und die Serpentinen hinauf zur Burg Brass.
Sie saßen im Burghof ab, und Falkenmond übergab das Pferd einem Stallknecht. Er wies auf das Tor zur Haupthalle der Burg. »Dort hinein, wenn es Euch recht ist«, wandte er sich an Tozer.
Tozer zuckte die Schultern und schlenderte durch das Tor, in der großen Halle verbeugte er sich vor zwei Männern, die dort am Kamin standen. Falkenmond nickte ihnen zu. »Guten Morgen, Sir Bowgentle – d’Averc, ich habe einen Gefangenen …«
»Nicht zu übersehen«, murmelte d’Averc, und seine gutgeschnittenen Züge verrieten sein Interesse. »Sind denn granbretanische Krieger an den Toren?«
»Er ist soweit der einzige, den ich gefunden habe«, erwiderte Falkenmond. »Er behauptet, Elvereza Tozer zu sein …«
»Tatsächlich?« Bowgentles ruhiges, asketisches Gesicht zeigte Neugierde. »Der Dichter, der Chirshil und Adulf schrieb? Das ist kaum zu glauben.«
Tozers Hand tastete nach den Riemen seiner Maske. »Ich kenne Euch, Sir«, erklärte er. »Wir unterhielten uns vor zehn Jahren miteinander, nach meiner Aufführung in Malaga.«
»Ich erinnere mich. Wir sprachen über einige Eurer neuesten Gedichte, die ich sehr bewunderte.« Bowgentle schüttelte den Kopf. »Ihr seid Elvereza Tozer, aber …«
Tozer nahm die Maske nun ab, und zum Vorschein kam ein ausgezehrtes, verschlagenes Gesicht mit einem stacheligen Bart, der das weiche fliehende Kinn nicht zu verbergen vermochte. Das Auffälligste in diesem Gesicht war die lange Nase. Die Haut machte einen ungesunden Eindruck, und Pusteln hatten sich auf ihr gebildet.
»Ich erinnere mich auch an Euer Gesicht«, fuhr Bowgentle fort, »nur war es damals voller. Was ist mit Euch geschehen, Sir? Seid Ihr ein Flüchtling, der Schutz vor seinen Landsleuten sucht?«
»Ah«, seufzte Tozer und warf Bowgentle einen flüchtigen, berechnenden Blick zu. »Vielleicht. Ladet Ihr mich zu einem Becher Wein ein, Sir? Mein Zusammenstoß mit Eurem kriegerischen Freund hat mich durstig gemacht.«
»Was? Ihr habt gekämpft?« warf d’Averc ein.
»Um Leben und Tod«, sagte Falkenmond grimmig. »Ich habe das Gefühl, Meister Tozer kam nicht aus Freundschaft zu uns hierher. Er versuchte, sich im Schilf zu verstecken. Ich fürchte, er ist ein Spion.«
»Und weshalb sollte Elvereza Tozer, der größte Dramatiker der Welt, den Spion spielen?« fragte Tozer in abfälligem Tonfall, der jedoch nicht überzeugte.
Bowgentle biss sich auf die Lippe und zog an einer Kordel, um einen Diener herbeizurufen.
»Das müsst Ihr selbst am besten wissen«, erwiderte d’Averc leicht amüsiert. Dann hustete er ausgiebig. »Vergebt – eine leichte Erkältung, denke ich. Es zieht in der Burg …«
»Ja, ein frischer Wind – das ist es, was ich für mich wünsche«, erwiderte Tozer. »Ein frischer Wind, der uns vergessen lässt, falls Ihr mich versteht …« Er sah sie erwartungsvoll an.
»Ja, ja«, murmelte Bowgentle hastig und wandte sich dem Diener zu, der eingetreten war. »Wein für unseren Gast«, wies er an. »Wollt Ihr auch essen, Meiser Tozer?«
»›Das Brot Babels und das Fleisch Marakhans …‹«, flüsterte Tozer verträumt. »›Denn all jene Früchte sind lediglich ….‹«
»Wir können Euch zu dieser Stunde mit Käse bewirten«, unterbrach d’Averc grinsend.
»Annala, IV. Akt, V. Szene«, sagte Tozer. »Ihr erinnert Euch an diese Szene?«
»Ich erinnere mich«, nickte d’Averc. »Ich fand diese Stelle immer schwächer als den Rest.«
»Einfühlsamer«, konterte Tozer aufgebracht. »Einfühlsamer.«
Der Diener kehrte mit Wein zurück, und Tozer goss sich selbst den Kelch randvoll. »Die Belange der Literatur«, sagte er, »sind für das einfache Volk nicht immer leicht zu erkennen. In hundert Jahren wird man sehen, dass der letzte Akt von Annala nicht, wie einige dumme Kritiker meinten, kaum durchdacht und schnell dahingeschrieben sei, sondern vielmehr das komplexe Werk erkennen, das es ist.«
»Ich betrachte mich selbst als Dichter«, sagte Bowgentle, »aber ich muss gestehen, dass auch mir das Wesentliche wohl entgangen ist … Vielleicht wollt Ihr mir erklären …«
»Ein andermal«, unterbrach ihn Tozer mit einer lässigen Handbewegung. Er leerte den Weinkelch und füllte ihn erneut.
»Wie wär’s, wenn Ihr uns Eure Gegenwart in der Kamarg erklärt?« forderte Falkenmond finster. »Immerhin hielten wir uns hier für sicher, und jetzt …«
»Keine Angst«, Tozer nahm einen tiefen Schluck. »Ihr seid es auch jetzt noch sicher hier. Allein kraft meines Geistes versetzte ich mich hierher.«
D’Averc rieb sich das Kinn und sah skeptisch drein. »Kraft Eures Geistes? Wie dies?«
»Ein uraltes Können, das mich einer der Meisterphilosophen in den verborgenen Tälern Yels lehrte …«
»Yel ist eine Provinz im Südwesten Granbretaniens, nicht wahr?« erkundigte sich Bowgentle.
»Ja. Nur ein paar dunkelbraune Barbaren leben dort in Höhlen. Nachdem mein Stück Chirshil und Adulf Missfallen am Hof erregte, hielt ich es für klüger, mich eine Weile zurückzuziehen, und überließ meinen Feinden notgedrungen all meine Besitztümer, Geld und Weiber. Woher sollte ich die kleinlichen Intrigen kennen und wissen, dass bestimmte Szenen meines Dramas die Zustände am Hof widerspiegelten?«
»So seid Ihr in Ungnade gefallen?« fragte Falkenmond und blickte den Mann aus zusammengekniffenen Augen an. Die Geschichte mochte zu Tozers Plan gehören.
»Mehr noch – fast büßte ich mein Leben ein. Aber das raue Landleben erreichte ohnehin beinah dasselbe …«
»Ihr habt also einen Philosophen gefunden, der Euch durch die Dimensionen zu reisen lehrte? Und danach kamt Ihr hierher, um Asyl zu suchen?« Falkenmond beobachtete Tozers Reaktion.
»Nein – ah, ja’ …«, stotterte Tozer. »Das heißt, ich wusste nicht genau, wohin ich kommen würde.«
»Ich glaube, Ihr seid vom Reichskönig geschickt worden, um uns zu vernichten«, sagte Falkenmond hart. »Ich bin davon überzeugt, dass Ihr uns belügt, Meister Tozer.«
»Lügen? Was sind Lügen? Was ist die Wahrheit?« Tozer sah mit glasigem Blick zu Falkenmond hoch, ein Schluckauf hatte sich seiner bemächtigt.
»Die Wahrheit«, konterte Falkenmond, »ist ein grober Strick um Euren Hals. Ich denke, wir sollten Euch hängen.« Er tastete nach dem Juwel in seiner Stirn. »Mir sind die Tricks des Dunklen Imperiums nicht neu. Ich war zu oft ihr Opfer, als dass ich mich wieder hereinlegen ließe.« Er sah die anderen an. »Wir sollten ihn hängen.«
»Aber wie wollen wir wissen, dass er wirklich der einzige ist, der weiß, wie man uns erreichen kann?« gab d’Averc zu bedenken. »Wir dürfen nicht überstürzt handeln, Falkenmond, mein Freund.«
»Ich bin der einzige! Ich schwöre es!« Tozers Stimme zitterte. »Ich gebe zu, guter Herr, dass ich zu dieser Reise gezwungen wurde. Meine einzige Alternative wäre gewesen, in den Kerkern des Königspalastes zu verrotten. Als ich das Geheimnis des Alten kannte, kehrte ich nach Londra zurück. Ich hoffte, mich mit meinem neuen Können rehabilitieren zu können – ich wollte nicht mehr als meinen früheren Status und ein Publikum für meine Stücke. Doch kaum hatten sie von meiner ungewöhnlichen Fähigkeit gehört, drohten sie mich zu töten, falls ich nicht hierherkäme und das vernichtete, was es euch ermöglichte, Burg und Stadt in diese Dimension zu versetzen. So kam ich – und ich muss gestehen, ich war froh, ihnen zu entrinnen. Ich war nicht übermäßig begeistert, meine Haut zu gefährden, indem ich euch, ihr guten Leute …«
»Und sie vergewisserten sich nicht auf irgendwelche Weise, dass Ihr auch tatsächlich die Aufgabe ausführen würdet, mit der sie Euch beauftragten?« fragte Falkenmond. »Das ist erstaunlich.«
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Tozer verdrossen, »ich hatte das Gefühl, dass sie nicht an meine Fähigkeiten glaubten. Sie wollten mich vermutlich nur auf die Probe stellen. Allerdings dürften sie ganz schön verblüfft gewesen sein, als ich zustimmte und sofort verschwand.«
»Es sieht den Lords des Dunklen Imperiums nicht ähnlich, einen solchen Fehler zu machen«, überlegte d’Averc. »Jedoch ist es nicht gewiss, dass Ihr ihr Vertrauen gewinnen konntet, da Ihr Euch auch bei uns so schwer tut. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob man Euch trauen sollte.«
»Habt Ihr ihnen von diesem Alten erzählt?« erkundigte Bowgentle sich. »Sie werden das Geheimnis von ihm erfahren.«
»Nein«, feixte Tozer. »Ich sagte ihnen, ich hätte mir diese Fähigkeiten in den Monaten meiner Einsamkeit selbst angeeignet.«
»Kein Wunder, dass sie Euch nicht ernst nahmen«, grinste d’Averc.
Tozer leerte mit gekränkter Miene den Becher.
»Es fällt mir schwer zu glauben, dass Ihr Euch allein kraft Eures Willens hierher versetzen konntet«, erklärte Bowgentle nachdenklich. »Seid Ihr sicher – habt Ihr keine Hilfsmittel benutzt?«
»Natürlich bin ich mir sicher.«
»Es gefällt mir gar nicht«, brummte Falkenmond düster. »Selbst wenn er die Wahrheit spricht, werden die Lords von Granbretanien sich inzwischen Gedanken machen, wie er wirklich zu seiner ungewöhnlichen Fähigkeit kam. Sie werden jeden deiner Schritte zurückverfolgen und so den alten Philosophen finden – und dann werden sie es auch möglich machen, eine ganze Armee hierherzuversetzen …«
»Tja, harte Zeiten«, bemerkte Tozer und füllte den Weinkelch erneut an. »Erinnert Ihr Euch an die zweite Szene im vierten Akt von König Staleen – ›Wilde Tage, wilde Reiter, Kriegsgestank über der ganzen Welt!‹ Ja! Ich war ein Prophet und wusste es nicht!« Er war nun offensichtlich betrunken.
Falkenmond starrte auf den Betrunkenen und konnte es noch immer kaum glauben, dass er der große Dramatiker Tozer war.
»Ihr wundert Euch über meine Armut«, lallte Tozer. »Das habe ich einigen Zeilen in Chirshil und Adulf zu verdanken. Oh, ungerechtes Geschick! Ein paar Zeilen, in gutem Glauben niedergeschrieben, und – nun – bin ich hier, und der Galgen droht mir. Erinnert Ihr Euch an die Szene? Bedauert mich, Sirs, hängt mich nicht. Vor euch sitzt ein großer Künstler, den sein eigenes Genie vernichtete.«
»Dieser Alte«, warf Bowgentle ein. »Was war er für ein Mensch? Und wo lebte er?«
»Der alte Mann …« Tozer nahm noch einen tiefen Schluck. »Der Alte erinnert mich ein wenig an Ioni in meiner Stahlkomödie, erster Akt, Szene vier …«
»Wie war er?« fragte Falkenmond ungeduldig.
»Er war der Sklave seiner Maschine. Er lebte nur für seine Wissenschaft, versteht Ihr? Alt wurde er bei seiner Arbeit, ohne dass er es bemerkte. Er stellte die Ringe her …« Erschrocken drückte Tozer die Hand vor den Mund.
»Ringe? Welche Ringe?« erkundigte d’Averc sich rasch.
»Ihr müsst mich entschuldigen.« Tozer versuchte, sich zu erheben. »Der Wein war wohl zu schwer für meinen leeren Magen. Habt Mitleid …«
Tozers Gesicht hatte eine grünliche Farbe angenommen.
»Na gut«, sagte Bowgentle. »Ich zeige Euch den Weg.«
»Ehe er geht«, erklang eine neue Stimme von der Tür her, »lasst Euch den Ring geben, den er am Mittelfinger seiner linken Hand trägt.« Die tiefe Stimme klang ein wenig ironisch. Falkenmond erkannte sie sofort und drehte sich um.
Tozer versteckte den Ring unter seiner Hand.
»Was wisst Ihr davon?« fragte er. »Wer seid Ihr?«
»Herzog Dorian hier«, erwiderte die Gestalt und zeigte auf Falkenmond, »nennt mich Ritter in Schwarz und Gold.«
Er überragte alle im Raum, und sein ganzer Körper steckte in einer schwarzen und goldenen Rüstung. Er hob den Arm und deutete auf Tozer. »Gib ihm diesen Ring …«
»Der Ring ist aus Glas, weiter nichts. Er hat keinen großen Wert …«
»Er erwähnte Ringe«, bemerkte d’Averc. »War es denn der Ring, der ihn hierherbrachte?«
Tozer zögerte noch, seine Augen waren glasig vom vielen Wein. »Ich sagte, er ist aus Glas und hat keinen besonderen Wert.«
»Beim Runenstab, ich befehle es dir!« dröhnte der Ritter mit gewaltiger Stimme.
Mit einer ruckartigen Bewegung zog Tozer sich den Ring vom Finger und warf ihn auf den Boden. D’Averc bückte sich danach und besah ihn sich. »Er ist aus Kristall«, sagte er, »nicht aus Glas. Und es ist eine Art Kristall, die wir kennen …«
»Er besteht aus demselben Stoff, aus dem das Gerät gearbeitet ist, das euch hierherbrachte.« Der Ritter in Schwarz und Gold hob eine behandschuhte Hand, und dort an seinem Mittelfinger sahen sie einen ebensolchen Ring wie den Tozers. »Er besitzt die Kräfte, einen Menschen durch die Dimensionen reisen zu lassen.«
»Wie ich dachte!« stieß Falkenmond hervor. »Es war nicht die geistige Kraft, die Euch hierher versetzte. Jetzt ist Euch der Galgen sicher. Woher habt Ihr den Ring?«
»Von dem Alten – von Mygan aus Llandar. Ich schwöre Euch, es ist die Wahrheit. Er hat noch mehr und kann weitere herstellen«, wimmerte Tozer. »Hängt mich nicht, ich flehe Euch an. Ich werde Euch genau beschreiben, wo Ihr den Alten finden könnt.«
»Das ist auch unbedingt erforderlich«, meinte Bowgentle nachdenklich, »denn wir müssen ihn erreichen, ehe die Lords des Dunklen Imperiums ihn entdecken. Wir brauchen ihn und seine Geheimnisse – um unserer Sicherheit willen!«
»Was? Wir sollen nach Granbretanien reisen?« fragte d’Averc überrascht.
»Es dürfte erforderlich sein«, meinte Falkenmond.