2 Die Burg des Wahnsinnigen Gottes

 

Zwei Tage ritten sie, bis sie zur Pulsierenden Brücke kamen, die sich über das Meer spannte, von zwei Klippen aus, die einige Meilen entfernt voneinander aufragten. Die Pulsierende Brücke war ein erstaunlicher Anblick; denn sie schien nicht aus fester Substanz, sondern aus einer großen Anzahl von sich überkreuzenden, vielfarbigen Lichtstrahlen zu bestehen, die irgendwie miteinander verflochten zu sein schienen. Gold und leuchtendes Blau waren zu sehen, helles, glänzendes Scharlach, und Grün und pulsierendes Gelb. Die ganze Brücke pulsierte wie ein lebendes Organ, und unter ihr schlug die See schäumend gegen die spitzen Felsen.

»Was ist das?« fragte Falkenmond den Ritter in Schwarz und Gold. »Das ist gewiss kein natürliches Gebilde.«

»Eine uralte Schöpfung«, erwiderte dieser, »hervorgebracht von einer vergessenen Wissenschaft einer vergessenen Rasse, die irgendwann zwischen dem Fallen des Todesregens und dem Entstehen der Prinzentümer lebte. Wer sie waren, woher sie kamen und weshalb sie wieder untergingen, weiß man nicht.«

»Aber Ihr wisst es doch sicher«, meinte d’Averc gutgelaunt. »Ihr enttäuscht mich. Ich hielt Euch für allwissend.«

Der Ritter in Schwarz und Gold erwiderte nichts. Das Licht, das von der Pulsierenden Brücke ausging, spiegelte sich in ihren Rüstungen wider, und tauchte sie in die verschiedensten Farben. Die Pferde fingen an zu tänzeln und waren schwer unter Kontrolle zu halten, als sie sich der großen Lichterbrücke näherten.

Falkenmonds Pferd schnaubte und bäumte sich auf, als er es auf die Brücke zulenkte. Erst als die Hufe das pulsierende Licht betraten und das Tier feststellte, dass es sie durchaus zu tragen vermochte, wurde es ruhiger.

Der Ritter in Schwarz und Gold hatte bereits die Mitte der Brücke erreicht. Sein ganzer Körper schien in einen vielfarbigen Schein getaucht. Falkenmond bemerkte, wie das seltsame Strahlen auch ihn und sein Pferd einhüllte, genau wie d’Averc und Oladahn, die ihm zögernd folgten.

Unter ihnen, durch die sich überkreuzenden Strahlen nur schwach zu sehen, schäumte die See, und in seine Ohren drang ein melodisches Summen. Sein Körper vibrierte im Rhythmus der Brücke.

Als sie sie schließlich überquert hatten, fühlte Falkenmond sich frisch, als hätte er sich mehrere Tage ausgeruht. Er machte eine Bemerkung darüber, woraufhin der Ritter in Schwarz und Gold erklärte, dass dies eine weitere Eigenschaft der erstaunlichen Brücke sei.

Sie ritten weiter über Land, auf dem Weg zur Burg des Wahnsinnigen Gottes.

 

Am dritten Tag ihres Rittes begann es zu regnen, und das ständige Nieseln legte sich auf ihr Gemüt. Die Pferde trotteten über das aufgeweichte ukrainische Flachland, und es schien, als nähme dieses trostlose graue Land kein Ende.

Am sechsten Tag hob der Ritter in Schwarz und Gold den Kopf und brachte sein Pferd zum Stehen. Er bedeutete den anderen stehenzubleiben und wirkte, als lausche er.

Kurz darauf hörte auch Falkenmond das Geräusch – das Trommeln von Pferdehufen. Dann sahen sie auf einer kleinen Erhebung zu ihrer Linken einige Reiter in Schafwollkappen und Mänteln galoppieren, mit langen Speeren und Säbeln auf den Rücken.

Von Panik getrieben sahen sie die Gefährten nicht, sondern donnerten an ihnen vorüber. Ihre Hacken hieben so fest in die Seiten ihrer Pferde, dass Blut aufspritzte.

»Was ist los?« brüllte Falkenmond ihnen zu. »Wovor flieht ihr?«

Einer der Reiter wandte sich, ohne langsamer zu werden, im Sattel um. »Eine Armee des Dunklen Imperiums!« rief er und war schon wieder fort.

Falkenmond runzelte die Brauen. »Sollen wir in dieser Richtung weiterziehen oder uns anderswo hin wenden?« fragte er den Ritter.

»Nein, kein Weg ist sicher«, erwiderte der Ritter in Schwarz und Gold. »Die Richtung, in der wir ziehen, ist ebenso gut wie jede andere.«

Nach etwa einer halben Stunde sahen sie in der Ferne Rauch. Es war dicker, öliger Qualm, der am Boden dahinkroch und stank. Falkenmond wusste, was diesen Qualm verursachte, sagte aber nichts. Schließlich kamen sie in eine brennende kleine Stadt, auf deren Marktplatz eine Pyramide aus toten Leibern errichtet und angezündet worden war. Die Toten, alle ausnahmslos nackt, lagen in würdelosem Durcheinander über -und nebeneinander, Kinder sah man, Frauen und Männer und selbst Tierkadaver.

Es war ein Scheiterhaufen aus Leibern, von dem der Gestank ausging, und es gab nur ein Volk, das nach Falkenmonds Wissen solche Gräueltaten verübte. Die Reiter hatten recht gehabt. Soldaten des Dunklen Imperiums waren in der Nähe. Ein Bataillon musste die Stadt genommen und geschleift haben.

Sie ritten um die Stadt herum, denn hier gab es nichts, was sie noch hätten tun können, und zogen, wachsamer als zuvor, weiter.

Oladahn, der noch nicht so viele Grausamkeiten des Dunklen Imperiums mit angesehen hatte, war offensichtlich durch das, was sie in der Stadt vorgefunden hatten, am meisten betroffen.

»Aber – normale Menschen können doch nicht – können doch nicht …«, stammelte er.

»Sie betrachten sich nicht als normale Menschen«, sagte d’Averc. »Sie sehen sich als Halbgötter und ihre Führer als Götter.«

»Das rechtfertigt ihre grausamen Handlungen in ihren Augen«, sagte Falkenmond. »Und abgesehen davon lieben sie es, Zerstörung herbeizuführen, Schrecken zu verbreiten, zu foltern und zu töten. Wie bei manchen Tieren, beim Vielfraß zum Beispiel, ist die Lust am Töten fast größer als der Wille zum Leben – und so ist es beim Dunklen Imperium. Die Insel hat eine Rasse von Wahnsinnigen hervorgebracht, deren Gedanken und Taten allem gegenüber feindlich sind, was nicht in Granbretanien geboren wurde.«

Der trostlose Regen hielt an, als sie die Stadt und ihre schwelende Pyramide hinter sich ließen.

»Es ist nicht mehr weit zur Burg des Wahnsinnigen Gottes«, sagte der Ritter in Schwarz und Gold.

 

Am nächsten Morgen gelangten sie in ein weites, flaches Tal und an einen kleinen See, auf dem grauer Nebel wogte. Jenseits des Sees sahen sie ein schwarzes, düsteres Gebilde, ein Bauwerk aus grob behauenem Stein.

Am Strand, zwischen dem Wasser und dem Bauwerk standen einige armselige windschiefe Katen, und am Ufer waren mehrere Fischerboote vertäut. Netze hingen zum Trocknen, doch nirgends rührte sich eine Menschenseele.

Der Tag war düster und kalt, und eine bedrückende Atmosphäre umgab See, Fischerdorf und Burg. Die drei Gefährten folgten dem Ritter in Schwarz und Gold nur zögernd, als er sich am Seeufer entlang auf den Weg zur Burg machte.

»Was ist eigentlich mit diesem Kult des Wahnsinnigen Gottes?« flüsterte Oladahn. »Wie viele Anhänger hat er? Und sind sie alle so besessen wie die Piraten? Unterschätzt der Ritter ihre Stärke oder überschätzt er unsere Kräfte?«

Falkenmond zuckte schweigend die Schultern. Ihn beschäftigte nur der Gedanke an Yisselda. Er betrachtete die düstere Burg und fragte sich, wo sie dort gefangen sein mochte.

Als sie das Fischerdorf erreichten, verstanden sie die unnatürliche Stille. Keiner seiner Bewohner lebte mehr. Schwerter und Äxte hatten sie niedergemetzelt. Einige der Waffen steckten noch in den Schädeln, die sie gespalten hatten.

»Das Dunkle Imperium!« rief Falkenmond aus.

Aber der Ritter in Schwarz und Gold schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ihr Werk, nicht ihre Waffen und nicht ihre Art und Weise.«

»Aber – was?« murmelte Oladahn zitternd. »Der Kult?«

Der Ritter antwortete nicht. Anstatt dessen saß er ab und ging schweren Schrittes auf einen Toten zu, der in der Nähe lag. Auch die anderen stiegen ab und sahen sich wachsam um. Der Nebel vom See legte sich um sie wie eine böse Macht, die sie zu umschlingen suchte.

Der Ritter wies auf den Toten. »All jene hier waren Anhänger des Kultes. Einige dienten, indem sie fischten und so die Burg mit Nahrung versorgten. Andere lebten in der Burg. Einige von diesen hier sind aus der Burg.«

»So haben sie sich also gegenseitig bekämpft?« meinte d’Averc.

»In gewissem Sinn, vielleicht«, erwiderte der Ritter.

Plötzlich ertönte ein durch Mark und Bein dringendes Geschrei von hinter den Katen. Sofort zogen die Gefährten ihre Waffen und bildeten abwehrbereit einen Kreis.

Doch als der Angriff kam, senkte Falkenmond vor Überraschung das Schwert. Eine wilde Horde kam mit erhobenen Schwertern und Äxten zwischen den Hütten hervorgestürmt. Die Angreifer trugen Brustpanzer und Kilts aus Leder. Ihre Augen funkelten wild, und sie hatten die Zähne wie tollwütige Hunde gefletscht.

Doch nicht das war es, was Falkenmond und seine Gefährten vor Erstaunen fast erstarren ließ – sondern ihr Geschlecht. Denn die wild kreischenden Wahnsinnigen waren Frauen von überdurchschnittlicher Schönheit.

Als Falkenmond seine Fassung einigermaßen wieder gefunden hatte, hielt er Ausschau nach Yisselda und war sehr erleichtert, dass sie sich nicht unter den Tobenden befand.

»Deshalb verlangte der Wahnsinnige Gott also nach Frauen«, stöhnte d’Averc. »Aber warum …«

»Er ist ein abartiger Gott«, murmelte der Ritter und stieß mit der Klinge vor, um den Hieb der vordersten Kriegerin abzuwehren.

Obgleich Falkenmond sich verzweifelt gegen die Klingen der wahnsinnigen Frauen wehrte, vermochte er es einfach nicht, selbst zum Angriff überzugehen, obwohl er mit Leichtigkeit durch Gegenstöße mehrere von ihnen hätte töten können. Seinen Gefährten schien es nicht anders zu ergehen. Während einer kurzen Gefechtspause blickte er um sich, und da kam ihm eine Idee.

»Zieht euch langsam zurück«, rief er seinen Freunden zu. »Folgt mir. Ich habe einen Plan, wie wir einen unblutigen Sieg erringen könnten.«

Langsam zogen sie sich zurück, bis sie bei den Pfosten ankamen, über die die Fischernetze zum Trocknen aufgehängt waren. Falkenmond fasste, während er sich gegen die Angreiferinnen wehrte, mit der freien Hand das Ende eines der Netze. Oladahn, der erkannt, was Falkenmond beabsichtigte, packte das andere Ende. »Jetzt!« rief Falkenmond, und sie warfen das Netz über die Köpfe der Kriegerinnen.

Die meisten von ihnen waren in den Maschen verfangen, doch einigen gelang es, sich freizukämpfen und weiter auf sie einzudringen.

Nun folgten d’Averc und der Ritter dem Beispiel der beiden anderen und schwangen ein Netz über jene, die entkommen waren. Falkenmond warf ein weiteres Netz über alle so Gefangenen, und noch einige Netze hinterher. Schließlich hielten die starken Netze die Frauen sicher gefangen, und die Gefährten konnten sie nach und nach entwaffnen.

Falkenmond keuchte, als er eines der erbeuteten Schwerter zu den anderen in den See schleuderte. »Vielleicht ist der Wahnsinnige Gott gar nicht so irr. Kriegerinnen haben immer einen gewissen Anfangsvorteil über männliche Kämpfer. Zweifellos sind sie nur ein Teil eines größeren Plans …«

»Ihr meint, die von den Piraten erbeuteten Schätze dienten der Aufstellung und dem Unterhalt einer Armee von Weibern?« fragte Oladahn, der ebenfalls Waffen in den See warf, während die Frauen in den Netzen langsam ruhiger wurden.

»Das mag wohl sein«, stimmte d’Averc zu. »Aber warum haben die Frauen die anderen getötet?«

»Das erfahren wir vielleicht, wenn wir die Burg erreicht haben«, sagte der Ritter in Schwarz und Gold. »Wir …« Er verstummte, als eines der Netze nachgab, und eine der Kriegerinnen mit zu Klauen gekrümmten Händen auf sie zustürmte. D’Averc packte sie, er schlang seine Arme um sie, dass sie die Hände nicht mehr rühren konnte, während sie mit den Füßen trat und kreischte. Oladahn trat hinzu, drehte sein Schwert um und schlug ihr mit dem Knauf auf den Kopf.

»So sehr es mir widerstrebt«, sagte d’Averc, als er das ohnmächtige Mädchen auf den Boden legte, »scheint es mir, Ihr habt die beste Methode gefunden, mit diesen Mörderinnen fertigzuwerden, Oladahn.« Er ging zum Netz und begann systematisch eine Kriegerin nach der anderen ins Land der Träume zu schicken. Schließlich meinte er: »Wir haben sie nicht getötet – und sie haben uns nicht getötet. Eine wundervolle Lösung.«

»Ich frage mich, ob das die einzigen Kriegerinnen waren«, sagte Falkenmond düster.

»Ihr denkt an Yisselda?« fragte Oladahn.

»Ja. Ich denke an Yisselda. Kommt.« Falkenmond saß auf. »Sehen wir uns die Burg an.« Er galoppierte rasch über den Strand auf das finstere Gebäude zu. Die anderen folgten ihm etwas gemächlicher. Als letzter ritt d’Averc; sein Pferd trabte elegant dahin, er wirkte wie ein sorgloser Jüngling auf einem Morgenritt.

Je näher er der Burg kam, desto langsamer ritt Falkenmond. An der Zugbrücke ließ er sein Pferd anhalten.

In der Burg war alles still. Ein wenig Nebel umgab die Türme. Die Zugbrücke war herabgelassen, und auf ihr lagen die Leichen der Wachen.

Irgendwo über den höchsten Türmen krächzte ein Rabe und flog dann über den See.

Keine Sonne schien durch die Wolken. Es war, als hätte die Sonne hier noch nie geschienen. Es kam ihnen vor, als verließen sie die Welt, um eine andere Ebene zu betreten wo ewige Hoffnungslosigkeit und Tod zu Hause waren.

Der dunkle Eingang der Burg gähnte Falkenmond entgegen.

Die Nebel formten seltsame Gebilde, und überall herrschte bedrückende Stille. Falkenmond sog die kalte Luft tief ein, zog seine Klinge, gab dem Pferd die Sporen und jagte über die Brücke hinweg. Mit seinem Satz fegte er über die Leichen, hinein in die Burg des Wahnsinnigen Gottes.