3 Falkenmond ändert den Kurs
Die großen Segel blähten sich im Wind, als das Schiff durch die Wellen schnitt. Der Himmel war klar, und die ruhige See erstreckte sich azurblau bis zum Horizont. Die Ruder waren eingezogen, und der Rudergänger sah nun auf dem Hauptdeck nach dem Rechten. Der Bootsmannsmaat, gekleidet in Orange und Schwarz, kletterte auf das Deck, wo Falkenmond stand und über den Ozean starrte, und salutierte.
»Ich habe Anweisung gegeben, nördlichen Kurs einzuhalten, Sir«, murmelte er.
»Wer hat Euch den Kurs vorgegeben, Maat?«
»Niemand, Sir. Aber ich nahm an, da Dnark unser Ziel ist …«
»Wir segeln nicht nach Dnark, sagt das dem Rudergänger.«
»Aber dieser seltsame Ritter – der Ritter in Schwarz und Gold, so nanntet Ihr ihn doch – sagte …«
»Er ist nicht mein Herr, Maat. Nein, wir nehmen Kurs auf die hohe See. Wir segeln nach Europa.«
»Nach Europa, Sir? Ihr wisst, dass wir alles für Euch tun würden, nachdem Ihr Narleen gerettet habt, dass wir Euch überallhin folgen werden, aber ahnt Ihr auch nur, welch unvorstellbare Strecke wir zurücklegen müssten, um Europa zu erreichen? Die Meere, die wir zu überqueren haben, die Stürme …«
»Ich weiß es. Trotzdem fahren wir nach Europa.«
»Wie Ihr befehlt, Sir.« Der Bootsmannsmaat machte kehrt, um dem Rudergänger den Befehl zu übermitteln.
D’Averc kam aus seiner Kabine unter dem Hauptdeck und kletterte die Leiter empor. Falkenmond grinste ihm entgegen. »Na, hast du gut geschlafen, Freund Huillam?«
»So gut es in diesem schwankenden Bottich eben geht. Selbst unter günstigsten Bedingungen neige ich zur Schlaflosigkeit, trotzdem gelang es mir, eine kurze Zeit zu schlummern. Was kann ich mehr erwarten?«
Falkenmond lachte. »Als ich vor einer Stunde nach dir sah, fand ich dich lautstark schnarchend vor.«
D’Averc hob die Brauen. »So? Du hast mich also schwer atmen gehört. Ich versuchte so leise wie möglich zu sein, aber diese Erkältung, die ich mir an Bord zugezogen habe, macht mir sehr zu schaffen.« Er holte ein Seidentuch hervor und betupfte die Nase.
D’Averc trug ein weites, blaues Seidenhemd, bequeme, scharlachrote Hosen aus demselben Stoff und einen Ledergurt, an dem sein Schwert und ein Dolch hingen. Um den Hals hatte er sich einen langen, purpurfarbenen Schal gebunden, und ein Band in der Farbe der Beinkleider hielt seine langen Haare zusammen. Seine feinen, fast asketischen Züge wirkten wie üblich ironisch.
»Habe ich recht gehört?« fragte er. »Hast du Anweisung gegeben, nach Europa zu segeln?«
»Das habe ich.«
»Du beabsichtigst also immer noch, Burg Brass zu erreichen, ohne Rücksicht auf die Erklärung des Ritters in Schwarz und Gold, was dein Geschick betrifft. Du sollst doch die Klinge«, er deutete auf das große, rote Breitschwert an Falkenmonds Seite, »nach Dnark bringen, um dort dem Runenstab zu dienen.«
»Ich bin niemandem verpflichtet, außer meiner Frau und meinen selbstgewählten Freunden – sie kommen lange vor einem Artefakt, dessen Existenz ich ohnehin bezweifle.«
»Du hast auch nicht an die Macht des Schwertes der Morgenröte geglaubt«, erinnerte ihn d’Averc trocken, »und doch sahst du dann mit eigenen Augen, wie es die Krieger aus dem Nichts herbeirief, um uns zu helfen.«
Falkenmond presste unwillig die Lippen zusammen. Schließlich sagte er zögernd: »Du hast recht. Aber trotzdem will ich nach Burg Brass zurück, wenn das möglich ist.«
»Wir wissen ja nicht einmal, ob sie in dieser oder einer anderen Dimension zu finden ist.«
»Auch das ist mir klar. Ich kann nur hoffen, dass sie in dieser liegt«, erklärte Falkenmond hart und wandte sich ab. D’Averc hob die Brauen erneut, dann verließ er Falkenmond und schlenderte pfeifend das Deck entlang.
Fünf Tage segelten sie über den ruhigen Ozean. Alle Segel waren gehisst, um das Schiff so schnell wie möglich voranzubringen.
Am sechsten Tag trat der Bootsmannsmaat an Falkenmond heran, der am Bug stand, und deutete. »Seht Ihr den dunklen Himmel am Horizont, Sir? Ein Sturm, Sir, und wir fahren geradewegs auf ihn zu.«
Falkenmond blickte mit halb zusammengekniffenen Augen in die gewiesene Richtung. »Ein Sturm, sagt Ihr? Mir scheinen die Wolken recht seltsam.«
»So ist es, Sir. Soll ich die Segel reffen lassen?«
»Nein, Maat. Wir fahren weiter, bis wir uns ein Bild von dem machen können, was vor uns liegt.«
»Wie Ihr befehlt, Sir.« Der Bootsmannsmaat schritt kopfschüttelnd über Deck.
Ein paar Stunden später sah der Himmel vor ihnen wie eine dunkelglühende Wand aus, die sich vom Meer bis zum Horizont in düsterem Rot und Purpur erhob. Und doch war der Himmel darüber so blau wie bisher, und das Wasser war völlig ruhig. Nur der Wind hatte ein wenig nachgelassen. Es war, als segelten sie in einem See, dessen Ufer an allen Seiten bis in den Himmel stiegen. Die Besatzung war unruhig, und der Bootsmannsmaat konnte die Spur von Angst in seiner Stimme nicht unterdrücken, als er sich erneut an Falkenmond wandte.
»Fahren wir weiter, Sir? Noch nie habe ich von einem so merkwürdigen Phänomen gehört. Die Mannschaft ist nervös, Sir, und ich muss gestehen, ich nicht weniger.«
Falkenmond nickte verständnisvoll. »Es ist wahrhaftig merkwürdig. Es scheint mir mehr übernatürlichen als normalen Ursprungs zu sein.«
»Das meint die Mannschaft auch, Sir.«
Falkenmonds Instinkt sagte ihm weiterzufahren und sich, was immer es auch war, zu stellen, aber er hatte die Verantwortung für die Besatzung, von der jeder einzelne sich freiwillig gemeldet hatte, aus Dank für seine, Falkenmonds, Befreiung der Stadt Narleen vom Piratenlord Valjon von Starvel, dem vorherigen Besitzer des Schwertes der Morgenröte.
Er seufzte. »Gut, Maat. Wir werden die Segel reffen und die Nacht abwarten. Mit ein bisschen Glück hat sich diese seltsame Erscheinung bis zum Morgen verzogen.«
Der Maat schien sehr erleichtert. »Habt Dank, Sir.«
Falkenmond erwiderte seinen Salut und starrte auf die riesige Wand. Waren es Wolken, die sie bildeten, oder etwas anderes? Es war unerwartet kühl geworden, und obgleich die Sonne noch schien, berührten ihre Strahlen offensichtlich die glühende Wand nicht.
Es herrschte eine unnatürliche Stille. Falkenmond fragte sich, ob seine Entscheidung, in entgegengesetzter Richtung von Dnark zu segeln, klug gewesen war. Wer mochte sagen, welche Schrecken in diesen unbekannten Ozeanen ihrer harrten?
Die Nacht senkte sich herab, doch immer noch war die glühende rot- und purpurfarbige Wand deutlich zu sehen. Der Finsternis gelang es nicht, sie zu verschlucken. Und trotzdem schienen die Farben nicht selbst zu leuchten.
Ein nagendes Unbehagen erfüllte Falkenmond.
Am Morgen war die Wand noch viel näher, und die blaue See um sie schien viel kleiner. Falkenmond fragte sich insgeheim, ob sie sich nicht in einer Falle gefangen hätten, die von Riesen oder übernatürlichen Mächten ausgelegt worden war.
In einen dicken Umhang gehüllt, der aber nicht viel von der Kälte um ihn abhalten konnte, schritt Falkenmond an Deck auf und ab.
Bald leistete auch d’Averc ihm Gesellschaft. Auch er war warm gekleidet – auffällig warm gekleidet –, und trotzdem zitterte er merklich. »Ein kalter Morgen, Dorian«, stellte er fest.
»Mhm«, murmelte der Herzog von Köln. »Was hältst du davon, Huillam?«
Der Franzose schüttelte den Kopf. »Ein düsteres Zeug, nicht wahr? Ah, hier kommt der Maat.«
Sie blickten ihm beide entgegen. Auch er war warm gekleidet. Er hatte sich in einen schweren Lederumhang gehüllt, der normalerweise als Schutz bei. starkem Sturm verwendet wurde.
»Habt Ihr irgendeine Ahnung, was diese glühende Wand bedeutet, Maat?« fragte d’Averc.
Der Bootsmannsmaat schüttelte den Kopf und wandte sich an Falkenmond. »Die Männer sagen, was immer auch geschieht, Sir, sie werden jeden Eurer Befehle ausführen. Sie sind auch bereit, für Euch zu sterben, Sir, falls es soweit kommen sollte.«
»Sie befinden sich in düsterer Stimmung, wie es scheint«, d’Averc lächelte. »Aber wer könnte es ihnen verübeln.«
»Wie recht Ihr habt, Sir.« Das runde, ehrliche Gesicht des Maats wirkte besorgt. »Soll ich die Anweisung geben, weiterzusegeln, Sire?«
»Es wäre sicherlich besser, als hier zu warten, bis das Zeug näher kommt und uns einhüllt«, erwiderte Falkenmond.
Der Bootsmannsmaat gab seine Befehle, und die Männer stiegen in die Wanten, setzten die Segel, und zurrten die Taue fest. Allmählich blähten sich die Segel und das Schiff bewegte sich langsam – widerstrebend wie es schien – auf die seltsamen Wolkenklippen zu.
Als sie näher kamen, begannen die glühenden Wolken wild zu wirbeln. Dunklere Farben vermischten sich mit dem düsteren Rot und Purpur, und ein eigenartiges Heulen drang von allen Seiten auf das Schiff ein. Die Mannschaft konnte sich kaum der Panik erwehren; sie stand wie erstarrt, als das Schiff immer schneller wurde. Falkenmond spähte aufgeregt voraus.
Plötzlich war die Wand verschwunden!
Der Herzog von Köln holte tief Luft.
Die See um sie herum war völlig ruhig. Alles war wie zuvor. Die Mannschaft stieß laute Freudenschreie aus, aber Falkenmond bemerkte, dass d’Avercs Gesicht kreideweiß war. Auch er selbst hatte das Gefühl, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt war. Er wartete, die Hände auf die Reling gestützt.
Da stieß der Schädel eines gewaltigen Ungeheuers aus dem Wasser.
Die Freudenrufe der Mannschaft wurden zu Angstschreien.
Weitere Bestien tauchten an allen Seiten auf. Gigantische Reptilien waren es, mit schleimigen, roten Rachen und dreifachen Zahnreihen. Das Wasser floss von ihren glänzenden Schuppen, und ihre böse starrenden Augen funkelten.
Ein betäubendes Flügelschlagen erfüllte die Luft, und eine nach der anderen flatterten die unheimlichen Kreaturen in die Höhe.
»Das ist das Ende, Dorian«, murmelte d’Averc und zog sein Schwert. »Es ist traurig, dass wir Burg Brass nicht ein letztes Mal wieder sehen und den Frauen, die wir lieben, nicht einen letzten Kuss geben konnten.«
Falkenmond hörte ihn kaum. Bitterkeit erfüllte ihn, dass er hier an diesem trostlosen Ort sterben sollte, ohne dass jemals einer erfahren würde, wie und wo er sein Ende gefunden hatte …