1 Soryandum
Die Stadt war alt, und die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Wind hatte an den Steinen genagt, und das Mauerwerk war bröckelig, Türme standen schief und Gemäuer waren zerfallen. Wildschafe kauten am Gras, das zwischen den Pflastersteinen wuchs, und Vögel mit bunter Federhaube nisteten zwischen den Säulen, deren Mosaik verblasst war. Einst war die Stadt prunkvoll und mächtig gewesen, nun war sie von friedlicher Schönheit.
Die zwei Reiter erreichten sie im milchigen Morgendunst, als ein leichter Wind durch die schweigenden Straßen blies. Das wildwuchernde Gras dämpfte den Hufschlag der Pferde, deren Reiter sie zwischen moosbewachsene Türme lenkten, vorbei an den Ruinen, denen orange, gelbe und purpurne Blüten eine bezaubernde Schönheit verlieh.
Dies war das von seinen Einwohnern verlassene Soryandum.
Männer und Pferde waren über und über mit Staub bedeckt, was ihnen das Aussehen von Statuen verlieh, die zum Leben erwacht waren. Sie ritten langsam und betrachteten staunend die Schönheit der toten Stadt. Der vordere war hochgewachsen und fast hager, und obwohl er erschöpft war, bewegte er sich doch mit der selbstverständlichen Sicherheit des erfahrenen Kriegers. Die Sonne hatte sein langes helles Haar nahezu weiß gebleicht, und seine wasserblauen Augen verrieten eine Spur von Verzweiflung. Was jedoch besonders an ihm auffiel, war das in seiner Stirnmitte eingebettete stumpfschwarze Juwel, ein Stigma, das er den abartigen Magier-Wissenschaftlern Granbretaniens verdankte. Er war Dorian Falkenmond, Herzog von Köln, der dem Dunklen Imperium, das ihn aus seinem Land vertrieben und die Weltherrschaft anstrebte, Rache geschworen hatte.
Der zweite Reiter trug einen großen beinernen Bogen und. einen Köcher mit Pfeilen auf seinem Rücken. Er war lediglich in Kniehosen und Stiefel aus weichem Leder gekleidet, aber seinen ganzen Körper, das Gesicht nicht ausgenommen, bedeckte feines rotes Haar. Er reichte Falkenmond kaum bis zur Schulter. Er war Oladahn, der Sohn eines Zauberers und einer Bergriesin aus den Bulgarbergen.
Oladahn schüttelte den Sand aus seinem Pelz. »Nie zuvor sah ich eine so schöne Stadt. Weshalb gibt es hier keine Menschen? Wer würde einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen wollen?« brummte er verwundert.
Falkenmond rieb das Juwel an seiner Stirn, wie immer, wenn ihm etwas ein Rätsel aufgab. »Vielleicht gab es hier eine Seuche? Wenn ja, lass uns hoffen, dass sie uns nicht mehr zu befallen vermag. Doch darüber machen wir uns später Gedanken. Ich bin sicher, dass ich das Rauschen von Wasser hörte – und das brauche ich als erstes, danach etwas zu essen und dann Schlaf, Freund Oladahn.«
Auf einem der Plätze der Stadt fanden sie einen blaugrauen Stein vor, in den Figuren eingemeißelt waren. Aus den Augen eines Mädchens fiel reines Quellwasser, das in einer Steinschale darunter aufgefangen wurde. Falkenmond stieg ab und trank. Mit nassen Händen wischte er sich über das staubige Gesicht und machte Oladahn Platz, dann tränkten sie die Pferde.
Falkenmond holte aus seiner Satteltasche die Karte, die sie in Hamadan bekommen hatten. Sein Finger fuhr auf ihr entlang und blieb an dem Punkt, der mit Soryandum bezeichnet war, stehen. Er lächelte erleichtert. »Wir sind nicht allzu sehr von unserer Route abgekommen«, erklärte er Oladahn. »Hinter diesen Bergen fließt der Euphrat, und Tarabulus liegt etwa eine Wochenreise jenseits davon. Wir werden uns hier ausruhen und morgen weiterreiten. Ausgeruht kommen wir schneller voran.«
Oladahn grinste. »Und Ihr wollt wohl vorher die Stadt erst gründlich durchstöbern.« Er goss sich Wasser übers Fell, dann bückte er sich und hob Bogen und Köcher auf. »Und ich werde nun für etwas zu essen sorgen. Ich sah wilde Schafböcke auf den Bergen – heute Abend gibt es Hammel am Spieß.« Er schwang sich wieder aufs Pferd und ritt durch das zerfallene Stadttor, während Falkenmond aus den Kleidern schlüpfte und genussvoll das kühle Wasser über sich schüttete. Dann holte er frische Sachen aus der Satteltasche. Er streifte sich das Seidenhemd über, das Königin Frawbra von Hamadan ihm geschenkt hatte, und schlüpfte in eine blaue Baumwollhose mit weiten Beinen und in leichte Sandalen. Er war froh, aus dem schweren Leder und Eisen befreit zu sein, das er zum Schutz getragen hatte, falls die Männer des Dunklen Imperiums ihnen durch die Wüste folgten. Nur das Schwert gürtete er sich vorsichtshalber um, obwohl er nicht glaubte, dass ihnen in dieser friedlichen Stadt Gefahr drohen könnte.
Er nahm seinem Pferd den Sattel ab und legte sich in den Schatten eines zerfallenen Turms, um auf Oladahn und den Hammelbraten zu warten.
Der Mittag kam und verging. Falkenmond fragte sich, wo der Freund so lange blieb. Er gab sich noch eine Stunde dem Genuss des Schlafes hin, ehe er begann, sich echte Sorgen zu machen. Dann stand er auf und sattelte sein Pferd.
Es war sehr unwahrscheinlich, dass ein so guter Schütze wie Oladahn so lange brauchen würde, ein selbst noch so flinkes Schaf zu erlegen. Andererseits gab es hier keinerlei Anzeichen von Gefahr. Vielleicht hatte Oladahn sich entschlossen, erst eine Stunde auszuruhen, ehe er die Jagdbeute hierherbrachte? Bestimmt würde es jedoch auch in diesem Fall nichts schaden, nach ihm Ausschau zu halten.
Falkenmond stieg auf und ritt durch die Straßen zur verfallenen äußeren Mauer der Stadt und von dort zu den Hügeln. Als das Pferd die Wiesen unter den Hufen spürte, schien seine frühere Kraft sich wieder voll zu entfalten, und Falkenmond musste die Zügel kurz halten. Er ritt in leichtem Galopp auf die Hügel zu.
Vor sich sah er eine Herde Wildschafe, die ein großer, weise dreinsehender Widder anführte. Vielleicht war es der, den Oladahn erwähnt hatte, aber von dem kleinen Mischling war nichts zu sehen.
»Oladahn!« rief Falkenmond und sah sich um. »Oladahn!« Aber nur dumpfe Echos antworteten ihm.
Falkenmond ließ das Pferd den höchsten Hügel emporklimmen, von wo aus er eine gute Aussicht hatte. Er sah sich nach allen Seiten um, aber von Oladahn war nichts zu sehen.
Auch über die Stadt schweiften Falkenmonds Blicke. Verschwand da nicht gerade ein Mann in eine der Seitenstraßen in Brunnennähe? War Oladahn aus einer anderen Richtung zurückgekehrt? Nur, wenn ja, weshalb hatte er sich dann auf seine Rufe hin nicht gerührt?
Angst um den Freund beschlich Falkenmond nun, doch noch immer konnte er nicht glauben, dass die Stadt selbst Gefahr barg.
Er lenkte das Pferd den Hügel hinunter, und es sprang durch eine eingestürzte Stelle in der Stadtmauer.
Durch den Staub gedämpft, tappten die Hufe des Pferdes dumpf durch die Straßen auf den Platz mit dem Brunnen zu. Immer wieder rief Falkenmond Oladahns Namen. Aber wieder antworteten ihm nur Echos, und auf dem Platz war nichts von dem kleinen Mann zu sehen.
Falkenmond runzelte die Stirn. Er war sich nun fast sicher, dass sie doch nicht allein in der Stadt gewesen waren. Aber von Einwohnern fehlte jede Spur.
Er lenkte sein Pferd wieder auf die Straßen zu. In dem Moment hörte er ein schwaches Geräusch über sich. Er sah hinauf und versuchte, etwas zu erkennen, das Geräusch kannte er nur zu gut. Schließlich sah er es – weit entfernt noch, eine schwarze Gestalt oben in der Luft. Dann blitzte Sonnenlicht auf, das von Metall reflektiert wurde, und das Geräusch wurde deutlicher – ein Klirren und Surren von großen bronzenen Flügeln. Falkenmond wurde schwer ums Herz.
Das immer näher und tiefer kommende Ding war ohne Zweifel ein Ornithopter in der Form eines gewaltigen Kondors, blau, Scharlach und grün lackiert. Es konnte nur eine Flugmaschine des Dunklen Imperiums sein; denn keine andere Nation auf Erden verfügte über Ähnliches.
Damit wurde Oladahns Verschwinden verständlich. In Soryandum hielten sich offenbar Krieger Granbretaniens auf. Sie hatten Oladahn erkannt und wussten, dass Falkenmond nicht fern sein konnte. Und Falkenmond war der am meisten gehasste Feind des Dunklen Imperiums.