10 Der Zusammenbruch der Kamarg

 

»Setzt sie auf«, befahl Baron Meliadus, »Damit sie sehen können, was vor sich geht!«

Aus dem Sattel blickte er in den Wagen. »Ihr müsst sie aufrichten!« wandte er sich an seine schwitzenden Männer. Sie mühten sich mit den dreien ab, die durch ihre Rüstung und die Ketten ein gewaltiges Gewicht hatten. »Sie sehen nicht besonders gut aus«, fügte er hinzu. »Und ich dachte, sie seien so ausdauernd!«

D’Averc kam an Baron Meliadus’ Seite geritten. Er hustete und hing halb zusammengekauert im Sattel. »Und Ihr seid noch immer in recht schlechter gesundheitlicher Verfassung, d’Averc«, wandte der Baron sich an ihn. »Hat mein Feldscher Euch denn nicht die Medizin zusammengebraut, nach der Ihr verlangtet?«

»Doch, das tat er, Lord Baron«, erwiderte d’Averc schwach, »aber sie lindert meine Schmerzen nur wenig.«

»Vielleicht tatet Ihr zuviel des Guten mit dieser Mischung von Kräutern, die Ihr ihm angabt.« Meliadus wandte seine Aufmerksamkeit wieder den drei Gefangenen zu. »Seht, wir halten auf diesem Hügel an, damit Ihr einen Blick auf Euer Land werfen könnt.«

Falkenmond blinzelte in der Mittagssonne und erkannte die Marschen seiner geliebten Kamarg, die sich bis zum Horizont erstreckten.

Doch in der Nähe sah er die gewaltigen, düsteren Wachtürme – die Stärke der Kamarg – mit ihren ungewöhnlichen Waffen von unvorstellbaren Kräften, deren Geheimnis nur Graf Brass bekannt war. Und ganz in ihrer Nähe kampierte eine schwarze Masse von Männern – die geballten Streitkräfte des Dunklen Imperiums.

»Oh!« schluchzte Yisselda. »Einer solch gewaltigen Zahl vermag sie nicht zu widerstehen!«

»Eine sehr vernünftige Einsicht, meine Teure.« Baron Meliadus lächelte. »Ihr habt natürlich völlig recht.«

Der Hügel, auf dem die Kolonne haltgemacht hatte, führte allmählich abwärts zu der Ebene, wo die Truppen des Dunklen Imperiums sich dicht an dicht drängten. Falkenmond sah Infanterie, Kavallerie, Pioniere, Kompanie um Kompanie. Er sah Kriegsmaschinen von gewaltiger Größe, riesige Flammenwerfer, Ornithopter, die durch den Himmel flatterten, in solcher Zahl, dass sie die Sonne über den Köpfen der Zuschauer verdunkelte. Alle Arten von Metall waren gegen die friedvolle Kamarg herbeigeschleppt worden – Messing und Eisen und Bronze und Stahl, widerstandsfähige Legierungen, denen die Flammenlanzen nichts anzuhaben vermochten, Gold und Silber und Platin und Blei. Geier marschierten neben Fröschen, Pferde neben Maulwürfen, und Wölfe, Eber, Hirsche, Wildkatzen, Adler, Ratten, Dachse und Wiesel drängten sich Seite an Seite. Seidene Banner flatterten in der feuchtwarmen Luft, sie trugen die Farben von gut drei Dutzend Edelleuten aus allen Ecken Granbretaniens. Rot leuchtete hier, Geld, Purpur und Schwarz, Blau und Grün und grelles Rosa, und das Sonnenlicht brach sich in hunderttausend Augen und ließ die Masken so scheinbar böse grinsen.

»Hah!« lachte Baron Meliadus. »Das ist meine Armee. Hätte Graf Brass sich damals nicht geweigert, uns zu helfen, wäret ihr nun ehrenvolle Verbündete des Dunklen Imperiums. Aber weil ihr euch widersetztet, sollt ihr bestraft werden. Ihr dachtet, eure Waffen und Türme und der Mut eurer Mannen wäre genug, sich Granbretanien zu widersetzen. Doch dem ist nicht so, Dorian Falkenmond. Seht selbst, welche Toren ihr wart!« Er warf seinen Kopf zurück und brach in hämisches Gelächter aus. »Zittert, Falkenmond – und Ihr, Yisselda ebenfalls –, zittert, wie eure Freunde nun in ihren Türmen zittern, denn sie wissen, dass diese fallen werden, wissen, dass die Kamarg Schutt und Asche sein wird, ehe die Sonne wieder aufgeht. Ich werde die Kamarg vernichten und wenn ich dazu meine ganze Armee opfern muss!«

Und Falkenmond und Yisselda zitterten in der Tat, doch in Trauer über das, was der wahnsinnige Baron prophezeite.

»Graf Brass ist tot!« rief Baron Meliadus und wandte sein Pferd, um an die Spitze seines Trupps zu reiten. »Und nun stirbt auch sein Land!« Er hob den Arm. »Vorwärts! Lasst sie das Gemetzel miterleben!«

Der Wagen begann sich erneut in Bewegung zu setzen und holperte hügelabwärts zur Ebene, und die Gefangenen, die mit Stricken aufrecht gehalten wurden, blickten wie betäubt vor sich hin.

D’Averc blieb an der Seite des Wagens und hustete übertrieben. »Die Medizin des Barons ist nicht schlecht«, bemerkte er schließlich. »Sie müsste eigentlich die Krankheiten aller heilen.« Nach dieser etwas rätselhaften Bemerkung trieb er sein Pferd an und ritt erneut an die Seite seines Herrn.

Falkenmond sah seltsame Strahlen aus den Türmen der Kamarg in die Reihen der auf sie Einstürmenden schießen. Sie hinterließen rauchende Narben im Boden, wo sich vorher Männer befunden hatten. Er sah die Kavallerie der Kamarg sich in Stellung begeben – eine dünne Linie von Hütern, die auf ihren gehörnten Pferden ritten, mit Flammenlanzen über den Schultern. Er sah Bürger aus den Ortschaften mit Schwertern und Äxten bewaffnet der Kavallerie folgen. Aber Graf Brass sah er nicht, auch nicht den Philosophen Bowgentle. Die Männer der Kamarg marschierten ohne Führer in ihre letzte Schlacht.

Was hätte Falkenmond nicht dafür gegeben, frei zu sein, ein Schwert in seiner Hand zu schwingen, ein Pferd zwischen den Schenkeln zu spüren und den Männern der Kamarg vorauszustürmen, die sich sogar noch ohne Führer dem Dunklen Imperium widersetzten, obgleich ihre Zahl nur ein Bruchteil der des Feindes darstellte. Er wand sich in seinen Ketten und fluchte in seiner Wut und Hilflosigkeit.

Der Abend brach herein, und die Schlacht ging weiter. Falkenmond sah Millionen Flammen aus den Kanonen der Granbretanier einen der uralten, düsteren Türme durchdringen. Er sah ihn schwanken und schließlich zu Schutt zerfallen. Und die schwarzen Horden jubelten.

Die Nacht senkte sich herab, doch weiter wütete die Schlacht. Die Hitze, die von ihr aufstieg, ließ den Schweiß über die Gesichter der drei Gefangenen strömen. Um sie herum saßen die Wachen des Wolfstrupps; sie redeten lachend über den bevorstehenden Sieg. Ihr Herr war mitten in das Gewühl der Angreifer geritten, wo er sich besser über den Stand der Schlacht zu informieren vermochte, und sie hatten einen prallen Sack Wein herbeigeschleppt, aus dem lange Strohhalme herausragten, damit sie durch ihre Masken hindurch daraus trinken konnten. Als die Nacht voranschritt, verstummte allmählich ihre angeregte Unterhaltung und ihr Gelächter, bis sie seltsamerweise eingeschlafen waren.

Oladahn wunderte sich darüber. »Es sieht den wachsamen Wölfen gar nicht ähnlich, so tief zu schlafen. Sie scheinen sich unser völlig sicher zu sein.«

Falkenmond seufzte. »Was hilft es uns? Diese verdammten Ketten sind so fest zusammengeschmiedet, dass wir nicht hoffen können, uns daraus zu befreien.«

»Na, na«, erklang die Stimme d’Avercs. »Wo habt Ihr Euren Optimismus gelassen, Herzog Dorian? Ich erkenne Euch gar nicht wieder.«

»Verschwindet, Verräter!« knurrte Falkenmond, als der Franzose aus der Dunkelheit an den Wagen trat. »Kehrt zu Eurem Herrn zurück und leckt ihm die Füße.«

»Ich habe etwas mitgebracht«, erklärte d’Averc in übertrieben gekränktem Ton, »um zu sehen, ob es Euch vielleicht helfen könnte.« Er deutete auf einen klobigen Gegenstand in seiner Hand. »Schließlich war es meine Medizin, die die Wachen in den Schlaf schickte.«

»Ein seltenes Stück, das ich auf dem Kampfplatz fand. Vermutlich das Eigentum eines hohen Führers, denn heutzutage gibt es nur noch wenige ihrer Sorte. Es ist eine Art Flammenlanze, doch klein genug, sie in einer Hand zu tragen.«

»Ich habe davon gehört.« Falkenmond nickte. »Aber wie könnte sie uns nützen? Wir sind in Ketten, wie Ihr seht und wisst.«

»Ich weiß und sehe. Doch wenn Ihr bereit wärt, ein Risiko einzugehen, könnte ich Euch vielleicht befreien.«

»Ist das eine neue Falle, d’Averc, die Ihr und Meliadus euch für uns ausgedacht habt?«

»Ihr kränkt mich, Falkenmond. Wie könnt Ihr so etwas nur denken?«

»Weil Ihr uns in Meliadus’ Hand geliefert habt. Ihr müsst weit voraus geplant haben, als Ihr mit den Wolfskriegern in dem karpatischen Städtchen spracht. Ihr habt sie geschickt, Ihren Herrn zu finden, und arrangiert, uns zu dem Lager zu führen, wo wir ohne viel Schwierigkeiten gefangen gesetzt werden konnten.«

»Es klingt durchaus vorstellbar«, pflichtete d’Averc ihm bei. »Aber man könnte es auch von einer anderen Seite sehen – die Wolfskrieger erkannten mich, folgten uns und benachrichtigten dann ihren Herrn. Ich hörte im Lager, dass Meliadus gekommen war, um Euch zu suchen. Also beschloss ich, ihm zu erzählen, dass ich Euch in die Falle gelockt habe, damit wenigstens einer von uns frei bliebe.« D’Averc hielt inne. »Nun, wie klingt das?«

»Unglaubhaft.«

»Nun, vielleicht klingt es wirklich unglaubhaft. Aber Falkenmond, wir haben nicht viel Zeit. Soll ich versuchen, Eure Ketten aufzuschweißen, und hoffen, dass ich euch dabei nicht versenge, oder wollt Ihr etwa lieber hier auf Eurem Tribünenplatz sitzen bleiben, um nichts von der Schlacht zu versäumen?«

»Schweißt die verdammten Ketten auf«, brummte Falkenmond. »Denn mit freien Händen habe ich zumindest die Chance, Euch zu erwürgen, falls Ihr lügt!«

D’Averc hob die kleine Flammenlanze und richtete sie schräg auf die Kette an Falkenmonds Arm. Dann drückte er auf den Knopf, und ein Strahl intensiver Hitze zischte aus der Mündung. Falkenmond spürte einen brennenden Schmerz am Arm, aber er biss wortlos die Zähne zusammen. Die Qual erhöhte sich, bis er glaubte, er müsse sie hinausschreien, doch in diesem Augenblick klirrte ein Teil der Kette auf den Wagenboden. Sein rechter Arm war frei. Er rieb ihn und schrie fast, als er eine Stelle berührte, wo die Rüstung weggebrannt war.

»Beeilt Euch«, drängte d’Averc. »Haltet ein Stück der Kette, das erleichtert mir die Arbeit.«

Endlich war Falkenmond seiner Ketten ledig, und er konnte d’Averc bei der Befreiung Yisseldas und Oladahns helfen. D’Averc wurde sichtlich unruhiger.

»Ich habe eure Schwerter hier«, erklärte er, »und neue Masken und frische Pferde. Ihr müsst mir jetzt folgen. Und beeilt euch, jeden Augenblick mag Meliadus zurückkehren. Ich muss gestehen, ich hatte ihn schon längst zurückerwartet.«

Sie schlichen durch die Dunkelheit zu den Pferden, stülpten die Masken über die Köpfe, gürteten die Schwerter und kletterten in die Sättel.

Da hörten sie Pferdegetrappel hügelaufwärts auf sie zukommen, ein Durcheinanderbrüllen und wütende Flüche, die nur von Meliadus stammen konnten.

»Schnell!« zischte d’Averc. »Wir müssen reiten – über die Grenze, in die Kamarg!«

Sie trieben ihre Pferde zu einem wilden Galopp an und stürmten hügelabwärts auf das Hauptkampffeld zu. »Macht Platz!« brüllte d’Averc. »Macht Platz für die Verstärkung! Neue Truppen für die Front!«

Krieger sprangen zur Seite, als sie mitten durch das Gewimmel preschten, und fluchten auf die vier tollkühnen Reiten.

»Macht Platz!« brüllte d’Averc erneut. »Aus dem Weg! Eine Nachricht für den Oberkommandierenden!« Er nahm sich die Zeit, sich nach Falkenmond umzudrehen und ihm zuzurufen: »Immer die gleiche Lüge langweilt mich!« Wieder schrie er. »Macht Platz! Das Serum für die Seuchenkranken!«

Hinter sich hörten sie das Klappern von Hufen, als Meliadus und seine Leute näher kamen.

Sie sahen nun, dass die Kämpfe an der Front noch immer anhielten, aber nun nicht mehr mit solcher Wildheit geführt wurden wie zu Beginn der Schlacht.

»Macht Platz für Baron Meliadus!« schrie d’Averc.

Ihre Pferde sprangen über kleinere Gruppen von Soldaten, galoppierten um Kriegsmaschinen und mitten durch das Feuer und kamen immer näher an die Türme der Kamarg heran, während sie hinter sich bereits Meliadus wütend brüllen hörten.

Sie galoppierten nun über die Leichen der gefallenen Granbretanier, nachdem sie die Hauptmacht hinter sich gelassen hatten.

»Nehmt die Masken ab!« schrie d’Averc. »Es ist unsere einzige Chance. Wenn die Kamarganer Euch und Yisselda rechtzeitig erkennen, stellten sie das Feuer ein. Wenn nicht …«

Aus der Dunkelheit schoss der Strahl einer Flammenlanze auf sie zu. Er verfehlte d’Averc um nicht mehr als eine Handbreit. Weitere Flammenlanzen sandten ihren verzehrenden Tod aus. Zweifellos waren es Meliadus’ Männer, die auf sie schossen. Falkenmond fummelte am Verschluss seines Maskenhelms und atmete erleichtert auf, als es ihm endlich gelang, ihn nach hinten zu schwingen.

»Halt!« brüllte Meliadus, der inzwischen aufgeholt hatte. »Ihr werdet durch eure eigenen Leute umkommen! Ihr Narren!«

Auch von der Seite der Kamarganer strahlte nun eine Flammenlanze nach der anderen auf und erhellte die Nacht mit ihrem rötlichen Licht. Die Pferde stolperten über die Toten. D’Averc hatte den Kopf auf den Hals seines Pferdes gepresst, und auch Oladahn und Yisselda kauerten sich tief. Aber Falkenmond zog sein Schwert und brüllte: »Männer der Kamarg! Ich bin es, Falkenmond! Falkenmond ist zurück!«

Die Flammenlanzen stoppten ihr Feuer nicht, doch die vier kamen nun einem Turm immer näher. D’Averc richtete sich im Sattel auf.

»Kamarganer!« rief er. »Ich bringe euch Falkenmond, der euch …« Da traf ihn der Strahl einer Lanze. Er warf seine Arme in die Höhe, stieß einen Schmerzensschrei aus und taumelte im Sattel. Falkenmond ritt hastig an seine Seite und stützte ihn. D’Avercs Rüstung war rotglühend und an manchen Stellen geschmolzen, aber der Franzose war noch nicht tot. Ein schwaches Lachen kam über die Brandblasen seiner Lippen. »Eine arge Fehlkalkulation, mein Geschick mit Eurem zu verknüpfen, Falkenmond. -. .«

Die beiden anderen hielten an. Ihre Pferde tänzelten unruhig. Hinter ihnen kamen Baron Meliadus und seine Männer immer dichter heran.

»Nimm die Zügel seines Pferdes, Oladahn«, bat Falkenmond. »Ich halte ihn im Sattel, und wir werden zusehen, dass wir näher an den Turm herankönnen.«

Flammen schossen knapp an ihnen vorbei, diesmal von granbretanischer Seite. »Haltet an, Falkenmond!«

Falkenmond achtete nicht darauf, sondern ritt weiter, durch den Schlamm und um die Toten herum und hielt d’Averc im Sattel.

Als ein gewaltiger Lichtschein aus dem Turm aufstrahlte, brüllte Falkenmond: »Männer, der Kamarg! Wir sind es. Falkenmond und Yisselda – Graf Brass’ Tochter.«

Das Licht erlosch. Immer näher trabten die Pferde mit Meliadus und seinen Männern. Yisselda schwankte vor Erschöpfung im Sattel. Falkenmond bereitete sich auf den Empfang seines Erzfeindes vor.

Da stürmten etwa zwei Dutzend der Hüter auf den weißen, gehörnten Pferden der Kamarg einen Hang herab und umringten die vier.

Einer der Wächter besah sich Falkenmonds Gesicht genau, dann strahlte er vor Freude. »Es ist unser Herr Falkenmond! Es ist Yisselda. Ah, jetzt wird sich doch noch alles zum Guten wenden!«

Meliadus und seine Männer waren in einiger Entfernung stehen geblieben, als sie die Kamarganer sahen. Nun drehten sie sich um und ritten zurück in die Dunkelheit.

 

Sie erreichten Burg Brass gegen Morgen, als das erste bleiche Sonnenlicht auf die Lagunen fiel. Die wilden Stiere, die dort ihren Durst stillten, hoben die Köpfe und blickten ihnen nach. Der Wind verwandelte die Schilfwiesen in wogende Meere, und auf dem Hügel, der auf die Stadt herabschaute, reiften Trauben heran und andere Früchte. Auf seinem Kamm erhob sich die Burg Brass, alt und trutzig und offenbar unberührt von den Schlachten, die an den Grenzen der Kamarg wüteten.

Sie ritten die gewundene Straße zur Burg empor und überquerten den Innenhof, wo über das ganze Gesicht strahlende Stallburschen ihnen die Pferde abnahmen. Dann betraten sie die Halle, in der die Trophäen Graf Brass’ standen. Es war seltsam kalt und still hier, und eine einsame Gestalt stand am Kamin und erwartete sie. Obgleich er lächelte, verrieten seine Augen doch die Sorge. Es war Sir Bowgentle, der Philosoph und Poet – und er war sehr gealtert, seit Falkenmond ihn zuletzt gesehen hatte.

Bowgentle umarmte Yisselda, dann drückte er Falkenmonds Hand.

»Wie geht es Graf Brass?« fragte Falkenmond.

»Körperlich gut, aber er hat den Willen zu leben verloren.« Bowgentle winkte ein paar Dienern zu, d’Averc zu helfen. »Bringt ihn in die Krankenstube im Nordturm. Ich kümmere mich so schnell wie möglich um ihn. Kommt.«, wandte er sich wieder an Falkenmond und Yisselda. »Seht selbst …«

Sie ließen Oladahn bei d’Averc zurück und stiegen die alte. Steintreppe zu dem Zwischenstock empor, in dem sich Graf Brass’ Räumlichkeiten befanden. Bowgentle öffnete eine Tür, und sie betraten das Schlafgemach.

Ein einfaches Soldatenbett stand in dem Raum mit weißen Decken und einfachen Kissen. Auf den Kissen ruhte ein großer Kopf, der aus Metall gegossen schien. Das rote Haar war mit mehr Grau durchzogen, als Falkenmond in Erinnerung hatte, das bronzefarbige Gesicht war um eine Spur bleicher, aber der rote Schnurrbart war noch derselbe. Auch die schweren Brauen über den tiefliegenden, goldbraunen Augen waren die gleichen. Doch die Augen selbst starrten blicklos an die Decke.

»Graf Brass«, sagte Bowgentle. »Seht.«

Aber die Augen bewegten sich nicht. Falkenmond musste näher kommen, und ihm direkt ins Gesicht sehen, und auch Yisselda tat dasselbe. »Graf Brass, Eure Tochter Yisselda ist zurückgekehrt, und auch Dorian Falkenmond.«

Ein kraftloses Murmeln drang nun über die Lippen. »Neue Wahnbilder, Bowgentle. Ich dachte, das Fieber wäre vorbei.«

»So ist es auch, mein Lord – sie sind keine Hirngespinste.«

Die Augen bewegten sich endlich und nahmen ein wenig Glanz an. »Bin ich nun endlich tot und wieder vereint mit euch, meine Kinder?«

»Ihr seid auf Erden, Graf Brass!« versicherte ihm Falkenmond.

Yisselda küsste ihren Vater auf die Lippen. »Ein irdischer Kuss, Vater, spürt Ihr es?«

Langsam schmolzen die wie eingefrorenen Züge, bis ein breites Lächeln ihnen neues Leben verlieh. Der Körper bewegte sich unter den Decken, und plötzlich setzte der Graf sich auf.

»Ah, es ist wahr!« Er strahlte. »Ich hatte jegliche Hoffnung verloren. Welch ein Narr ich war!« Nun lachte er laut vor Freude.

Bowgentle schüttelte ungläubig den Kopf. »Brass, ich glaubte dich an der Schwelle des Todes!«

»Das war ich auch, mein guter Freund – aber ich bin davon zurückgesprungen, wie du siehst. Es war ein weiter Sprung. Wie steht es mit der Belagerung, Falkenmond?«

»Es sieht schlecht für uns aus, Graf Brass. Aber nun, meine ich, doch wieder etwas besser, da wir drei wieder beisammen sind.«

»Richtig. Bowgentle, lass meine Rüstung bringen. Und wo ist mein Schwert?«

»Brass – du musst doch noch völlig von Kräften sein …«

»Dann sorge für etwas zu essen – und zwar reichlich –, dann stärke ich mich, während wir uns unterhalten.« Und Graf Brass sprang aus dem Bett, um seine Tochter und ihren Verlobten zu umarmen.

 

Sie speisten in der Halle, während Dorian Falkenmond Graf Brass alles berichtete, was ihm zugestoßen war, seit er die Burg vor so vielen Monaten verlassen hatte. Graf Brass seinerseits erzählte von seinen Schwierigkeiten mit, wie es schien, der gesamten granbretanischen Streitmacht. Er erzählte von Villachs letzter Schlacht, mit welchem Heldenmut er etwa zwei Dutzend Granbretanier mit sich in den Tod genommen hatte. Er erzählte, wie er selbst verwundet worden war und dann von Yisseldas Verschwinden erfahren hatte, woraufhin er jeglichen Lebenswillen verlor.

Oladahn kam aus der Krankenstube, und Falkenmond machte die beiden Männer miteinander bekannt. Der Pelzgesichtige brachte frohe Botschaft. D’Averc war zwar sehr schwer verletzt, aber Bowgentle war überzeugt, dass er sich wieder erholen würde.

Im Großen und Ganzen war es eine frohe Heimkehr, getrübt jedoch von dem Bewusstsein, dass an der Grenze die Hüter in einer wahrscheinlich verlorenen Schlacht um ihr Leben kämpften.

Graf Brass hatte inzwischen seine Messingrüstung übergestreift und sein schweres Breitschwert gegürtet. Er überragte die anderen, als er sich erhob. »Kommt, Falkenmond, und Ihr, Sir Oladahn«, forderte er die beiden auf. »Wir müssen an die Front und unseren Männern neuen Mut geben.«

Bowgentle seufzte. »Vor zwei Stunden hielt ich dich noch für so gut wie tot – und jetzt willst du schon in die Schlacht reiten. Dazu bist du noch nicht gesund genug, Brass.«

»Meine Krankheit war eine des Geistes und nicht des Körpers – und sie ist nun bezwungen!« polterte Graf Brass. »Pferde! Lass unsere Pferde satteln, Bowgentle.«

Falkenmond war zwar erschöpft, aber die Energie des Grafen schien auch auf ihn überzugreifen und die betäubende Müdigkeit aus den Gliedern zu nehmen, als er mit dem alten Kämpen auf den Hof trat. Er warf Yisselda einen Kuss zu und stieg aufs Pferd.

Die drei gönnten sich keine Rast, als sie auf nur wenig bekannten Pfaden durch das Marschland ritten. Schwärme von Riesenflamingos flatterten vor ihnen auf, und Herden von wilden, gehörnten Pferden ergriffen die Flucht. Graf Brass deutete mit behandschuhten Fingern um sich. »Ein Land wie dieses ist es wert, dass man es verteidigt mit allem, was man hat. Solcher Frieden muss beschützt werden.«

Bald hörten sie den Schlachtenlärm und kamen zu jenem Abschnitt, wo die Truppen des Dunklen Imperiums die Türme stürmten. Sie zügelten die Pferde, als sie das Schlimmste sahen.

»Unmöglich«, flüsterte der Graf tonlos.

Aber es war so.

Die Türme waren gefallen. Nur Schutt und Asche zeugten noch von ihnen. Die Überlebenden wurden immer weiter zurückgedrängt, obgleich sie sich tapfer verteidigten.

»Das ist das Ende der Kamarg«, murmelte der Graf mit gebrochener Stimme.