3 Das Schwarze Juwel
Am nächsten Morgen wurde Falkenmond wieder zu Baron Kalan gebracht. Die Schlangenmaske schien nahezu zynisch dreinzublicken, aber der Baron führte ihn ohne viele Worte durch einige Räume und Hallen, bis sie an eine Kammer kamen, deren Tür aus glattem Stahl gefertigt war. Diese stand offen und gab so den Blick auf eine weitere, ebensolche Tür frei, und als diese geöffnet wurde, kam eine dritte zum Vorschein. Diese führte in eine kleine Kammer aus weißem Metall, die von blendend hellem Licht erfüllt war und die eine Maschine von beeindruckender Schönheit enthielt. Diese Maschine bestand fast ausschließlich aus zartem Schleiergewebe in Rot, Gold und Silber. Als Falkenmond sie streifte, hatte er das Gefühl, von warmer, zarter Haut berührt zu werden. Wispernde Töne drangen aus den sich wie im Winde wiegenden Schleierstreifen.
»Es ist, als lebte es«, hauchte Falkenmond.
»Es lebt wirklich«, versicherte Baron Kalan stolz.
»Ist es ein Tier?«
»Nein, eine Zauberschöpfung. Was es genau ist, weiß ich selbst nicht«, gestand der Baron. »Ich habe es nach einer alten Schrift angefertigt, die ich vor vielen Jahren von einem Mann aus dem geheimnisvollen Osten erstand. Es ist die Maschine des Schwarzen Juwels. Ah, und schon bald werdet Ihr eins mit ihr sein, Lord Herzog.«
Tief in Falkenmonds Innern regte sich eine Spur von Panik, aber sie drang nicht an die Oberfläche. Er ließ sich von dem Schleierstreifen aus Rot und Gold und Silber streicheln.
»Sie ist noch nicht soweit«, sagte Kalan. »Noch nicht. Sie muss das Juwel spinnen. Kommt näher, mein Lord. Begebt Euch in sie hinein. Ihr werdet keinen Schmerz empfinden, das verspreche ich Euch. Sie muss das Juwel spinnen, spinnen!«
Falkenmond gehorchte. Die Schleiersträhnen begannen zu rauschen und melodiös zu summen. Die einschmeichelnden Töne und das nun immer schneller werdende Wirbeln begannen ihn zu verwirren: Die Maschine des Schwarzen Juwels liebkoste ihn, schien in ihn einzudringen, wurde er – und er sie. Er seufzte, und seine Stimme war die Musik des Schleiergewebes. Er bewegte sich, und seine Glieder waren spinnwebdünne Strähnen.
Er verspürte einen Druck in seinem Schädel und absolute Wärme und Weisheit, die seinen Leib einhüllten. Er schwebte körperlos dahin und verlor jegliches Zeitgefühl. Aber er wusste, dass die Maschine etwas aus ihrer eigenen Substanz zu spinnen begann. Etwas, das hart wurde und sich in seine Stirn pflanzte, dass er urplötzlich das Gefühl empfand, ein drittes Auge zu haben, mit dem er die Welt aus neuer Sicht zu sehen vermochte. Doch dieses Gefühl verschwand, und er stellte fest, dass er den Grafen anblickte, der die Maske abgenommen hatte, um ihn besser betrachten zu können.
Mit einemmal spürte Falkenmond einen stechenden Schmerz in seinem Kopf, der jedoch nur kurz anhielt. Er starrte die Maschine an. Ihre leuchtenden Farben waren stumpf geworden und ihre dichten Schleierstreifen dünn und unscheinbar. Er hob die Hand zu seiner Stirn und betastete erschrocken etwas Hartes, das sich vorher nicht dort befunden hatte.
Er zitterte.
Baron Kalan blickte ihn jetzt besorgt an. »Ihr seid doch nicht dem Wahnsinn verfallen? Ich war mir meines Erfolges sicher! Ihr seid doch nicht wahnsinnig?«
»Meinem Verstand fehlt nichts«, murmelte Falkenmond. »Aber ich glaube, ich habe Angst.«
»Ihr werdet Euch an das Juwel gewöhnen.«
»Das Juwel? Ist das das Harte in meiner Stirn?«
»Ja, so ist es. Wartet.« Kalan drehte sich um und zog einen scharlachroten Vorhang beiseite, der ein flaches Oval aus milchigem Quarz freigab. In ihm begann sich ein Bild zu formen. Falkenmond sah Kalan dort, wie er in das Quarzoval starrte. Das Oval enthüllte genau das, was Falkenmond sah. Als er seinen Kopf ein wenig schräg legte, veränderte sich das Bild entsprechend.
»Es funktioniert!« murmelte Kalan erregt. »Seht Ihr, es funktioniert. Was Ihr seht, nimmt auch das Juwel wahr. Wohin Ihr Euch auch immer begebt, wir werden alles und jeden sehen, mit dem Ihr zusammentrefft.«
Falkenmond versuchte zu sprechen, aber er konnte nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und ein Druck lastete ihm auf den Lungen. Wieder berührte er das warme Juwel, das sich ähnlich anfühlte wie Fleisch, und doch so sehr anders war, in jeder Beziehung.
»Was habt Ihr mit mir gemacht?« fragte er beiläufig mit seiner gewohnt uninteressiert klingenden Stimme.
»Wir haben uns Eurer Loyalität versichert«, schmunzelte Kalan. »Ihr habt einen Teil des Lebens der Maschine in Euch aufgenommen. Wenn wir wollen, können wir ihre ganze Lebenskraft in das Juwel überströmen lassen, und dann …«
Falkenmond griff steif nach dem Arm des Barons. »Und dann?«
»Wird es Euer Gehirn verschlingen, Herzog von Köln. Es wird Euer Gehirn verschlingen.«
Baron Meliadus geleitete Dorian Falkenmond durch die glitzernden Gänge des Palastes. Falkenmond trug nun ein Schwert an der Seite, und Kleidung und Rüstung ähnelten denen, die er zur Schlacht in Köln getragen hatte. Nur das Juwel in seiner Stirn beschäftigte ihn, sonst nichts. Die Gänge weiteten sich nun, Wachen mit den Masken des Ordens der Gottesanbeterin säumten die Wände. Mächtige Tore, deren Mosaikmuster mit Juwelen gestaltet waren, ragten vor ihnen auf.
»Der Thronsaal«, raunte der Baron. »Jetzt wird der Reichskönig Euch in Augenschein nehmen.«
Langsam öffneten sich die Tore und enthüllten den Prunk des Thronsaals. Falkenmond war geblendet vom Glanz der gewaltigen Kuppelhalle. Galerie über Galerie hob sich rundum in eine Höhe, die kein Ende zu nehmen schien. Von ihnen hingen die glitzernden Banner von fünfhundert der edelsten Familien Granbretaniens. Entlang der Wände und Galerien standen, mit ihren Flammenlanzen in Saluthaltung, Soldaten vom Orden der Gottesanbeterin in ihren Insektenmasken und Rüstungen in Schwarz, Grün und Gold. Höflinge in Masken aller Art und kostbaren Gewändern blickten Falkenmond neugierig entgegen.
Die Reihen der Soldaten reichten weit bis zum anderen Ende der Halle. Dort, fast schon außer Blickweite, hing etwas, das Falkenmond zunächst nicht erkennen konnte. Er blinzelte.
»Die Thronkugel«, flüsterte Meliadus. »Folgt nun genau meinem Beispiel.« Er schritt gemessen darauf zu, während Fanfaren von den Galerien ertönten.
Die Wände des Thronsaals waren kräftig grün und purpurn, aber auf den Bannern waren alle Farben vertreten, ebenso wie auf den Stoffen, Metallen und kostbaren Steinen, die die Höflinge trugen. Falkenmonds Augen ruhten jedoch einzig auf der Kugel.
Sie waren schon weit gegangen, bevor Falkenmond endlich Einzelheiten ausmachen konnte. Die Kugel enthielt eine milchigweiße Flüssigkeit, die sich in steter Bewegung befand und hin und wieder zu schillern schien. Inmitten dieser Flüssigkeit, an einen Fötus erinnernd, schwebte ein uralter Mann mit runzeliger Haut, offenbar völlig nutzlosen Gliedmaßen und einem überdimensionalen Kopf, aus dem scharfe, boshafte Augen starrten.
Meliadus’ Beispiel folgend, ließ Falkenmond sich auf die Knie fallen und senkte den Kopf.
»Erhebt Euch!« Es traf Falkenmond wie ein Schock, als er erkannte, dass die Stimme aus der Kugel kam. Es war eine bezaubernd klangvolle und jugendliche Stimme. Falkenmond fragte sich, welcher Jüngling sein Leben dafür hatte geben müssen.
»Eure Majestät, dies ist Dorian Falkenmond, Herzog von Köln, der zusagte, einen Auftrag für uns auszuführen. Ihr werdet Euch erinnern, erhabener Herrscher, dass ich Euch meinen Plan darlegte …« Meliadus verbeugte sich, während er sprach.
»Es kostet uns viel Zeit und Mühe, von den ungewöhnlichsten Mitteln ganz zu schweigen, uns der Dienste des Grafen Brass zu versichern«, erklang erneut die jugendliche Stimme. »Ich verlasse mich auf Eure Urteilskraft in dieser Sache, Baron Meliadus.«
»Majestät, Ihr könnt Euch wie immer auf mich verlassen«, versicherte Meliadus, sich erneut verbeugend.
»Habt Ihr den Herzog vor den Folgen gewarnt, wenn er seinen Vertrag nicht einhält?« fragte sarkastisch die jugendliche Stimme. »Weiß er, dass wir ihn zu jeder Zeit und über jede Entfernung hinweg zerstören können?«
»Er weiß es, mächtiger Herrscher.«
»Habt Ihr ihm auch eröffnet, dass das Juwel in seinem Schädel«, fuhr die Stimme fort, »alles sieht, was er sieht, und uns die Bilder in die Kammer mit der Maschine des Schwarzen Juwels schickt?«
»Ja, edler Herrscher.«
»Ist er sich auch darüber im Klaren, dass wir, sollten wir Anzeichen über einen Verrat seinerseits entdecken – und das ist leicht aus den Gesichtern seiner Gegenüber abzulesen –, dem Juwel seine ganze Kraft übertragen? Habt Ihr ihm gesagt, Baron Meliadus, dass das Juwel, besitzt es diese Kraft, sich einen Weg durch sein Gehirn fressen und seinen Geist verschlingen wird und von ihm nichts zurück bleibt als ein geistloses, sabberndes Tier?«
»Er hat davon erfahren, großer Herrscher.«
Das Ding in der Thronkugel gluckste. »So wie er aussieht, ist für ihn die Drohung, geistlos zu werden, keine Drohung an sich. Seid Ihr sicher, dass er nicht schon von der ganzen Kraft des Juwels besessen ist?«
»Was Ihr seht, scheint sein Charakter zu sein, unsterblicher Herrscher.«
Nun wandten sich die Augen Dorian Falkenmond zu.
»Ihr seid einen Vertrag mit dem unsterblichen Reichskönig von Granbretanien eingegangen. Herzog von Köln. Es ist ein Zeichen unserer Großzügigkeit, dass wir einem, der schließlich nichts weiter als unser Sklave ist, eine solche Chance bieten. Dafür müsst Ihr uns mit absoluter Treue dienen, im Bewusstsein, dass Ihr teilhabt am Geschick der größten Rasse, die dieser Planet je hervorbrachte. Aufgrund unserer unübertrefflichen Intelligenz und Macht und unserer Unfehlbarkeit ist es unser Recht, über die Erde zu herrschen. Und bald werden wir vollen Gebrauch von diesem Recht machen können. All jenen, die uns in diesem edlen Ziel unterstützen, ist unsere Anerkennung sicher. Geht jetzt, Herzog, und gewinnt Euch diese Anerkennung.«
Das runzelige Gesicht drehte sich. Die uralte Zunge schob sich über die Lippen und berührte einen winzigen Edelstein an der Innenwand der Kugel, die sich daraufhin verdunkelte, bis die fötusgleiche Gestalt des Reichsherrschers, des letzten und unsterblichen Nachkommens einer Dynastie, die vor etwa dreitausend Jahren begründet wurde, einige Monate als Silhouette zu sehen war. »Und denkt an die Macht des Schwarzen Juwels!« warnte die jugendliche Stimme noch, als die Kugel bereits ein dunkler Ball war.
Die Audienz war beendet. Meliadus und Falkenmond verbeugten sich noch einmal tief und taten einige Schritte rückwärts, ehe sie sich umwandten und auf den Ausgang des Thronsaals zuschritten. Die Audienz hatte einen Zweck erfüllt, mit dem weder der Baron noch sein Herr gerechnet hatten. Tief in Falkenmonds seltsamem Geist, in dessen verborgensten Tiefen, begann sich etwas zu regen, geweckt jedoch nicht vom Schwarzen Kristall, sondern von etwas weit weniger Greifbarem.
Vielleicht war dieses noch vage Erwachen ein Zeichen, dass Falkenmonds eigentliches Wesen zurückkehrte. Vielleicht war es aber auch dem Einfluss des Runenstabs zuzuschreiben.