8 Meliadus im Palast der Zeit

 

Früh am nächsten Morgen, nach einer schlechten Nacht, während derer er nicht geschlafen und auch sonst kein Vergnügen gefunden hatte, machte sich Meliadus auf den Weg, um Taragorm im Palast der Zeit aufzusuchen.

In Londra gab es wenige offene Straßen. Häuser, Paläste, Warenhäuser und Baracken waren alle durch überdachte Passagen miteinander verbunden. Die Dachkonstruktionen in den Vierteln der Wohlhabenden waren bunt anzusehen, als bestünden die Wände aus gefärbtem Glas. In den ärmlichen Vierteln diente öliger, dunkler Stein als Überdachung.

Meliadus ließ sich von einem Dutzend Sklavenmädchen, deren Körper lediglich mit Rouge bedeckt waren, in einer Sänfte durch diese Passagen tragen. Er wollte Taragorm seinen Besuch abstatten, ehe die beiden tölpelhaften Botschafter aus Asiakommunista wach waren. Es war natürlich möglich, dass sie tatsächlich einer Nation angehörten, die Falkenmond und den anderen half, aber er hatte keinen Beweis. Würde sich jedoch durch Taragorms Experimente seine Hoffnung erfüllen, mochte er zu Beweisen kommen, mit denen er König Huon überzeugen konnte, und vielleicht war er dann der lästigen Aufgabe ledig, den Gastgeber für die beiden Abgeordneten zu spielen.

Die Passagen wurden breiter, und Geräusche waren zu vernehmen: dumpfes Dröhnen und gleichmäßiges, mechanisches Klicken. Meliadus wusste, dass er Taragorms Uhren hörte.

Als er sich dem Palast der Zeit näherte, wurde der Lärm betäubend. Tausend gigantische Pendel schwangen mit tausend verschiedenen Geschwindigkeiten. Zahnräder surrten und klickten, und Klöppel schlugen auf Glocken, Gongs und Zimbeln, mechanische Vögel schrien, und künstliche Stimmen sprachen. Es war ein unglaubliches Durcheinander an Geräuschen. Der Palast beherbergte mehrere tausend Uhren der verschiedensten Größen, war jedoch auch selbst eine gewaltige Uhr und gleichsam der Hauptregulator für alle anderen, und somit erscholl über all dem Lärm das langsame, widerhallende, dröhnende Klacken des gewaltigen Zahnrades hoch oben unter dem Dach und das Zischen des riesigen Pendels durch die Luft in der Halle des Pendels, wo Taragorm seine meisten Experimente durchführte.

Meliadus’ Sänfte gelangte schließlich an ein relativ kleines Bronzetor. Künstliche Wächter sprangen vor und versperrten den Weg, und eine mechanische Stimme übertönte den Lärm der Uhren und verlangte zu wissen:

»Wer begeht Einlass?«

»Baron Meliadus, Lord Taragorms Schwager, mit Erlaubnis Seiner Majestät König Huons«, brüllte Meliadus, um überhaupt gehört zu werden.

Meliadus meinte, dass das Tor noch eine geraume Weile länger verschlossen blieb, als unbedingt nötig gewesen wäre.

Sie gelangten durch eine Halle mit gewölbten Metallwänden, dem Sockel eines Uhrgehäuses nicht unähnlich, und der Lärm schwoll an. Die Halle war erfüllt von Ticken und Tacken und Surren und Schnarren und dröhnenden Echos. Meliadus hätte gewiss die Hände auf seine Ohren gepresst, wäre ihm nicht sein Wolfshelm im Wege gewesen. Allmählich war er überzeugt davon, dass er in Kürze taub sein würde.

Von dieser Halle gelangten sie in eine weitere, deren dicke Tapeten (deren Muster, unvermeidlich, Zeitmesser aller Arten waren) glücklicherweise einen großen Teil des Lärms schluckten. Hier stellten die Sklavinnen die Sänfte ab, und Meliadus schob mit behandschuhter Hand den Vorhang zurück und wartete auf seinen Schwager.

Wiederum (meinte er) dauerte es unangemessen lange, bis dieser erschien. Er trat durch die Tür am anderen Ende der Halle ein, und seine riesige Maske nickte.

»Es ist früh, Bruder«, sagte Taragorm. »Ich bedauert, dass ich dich warten ließ, aber ich hatte noch nicht gefrühstückt.«

Es kam Meliadus kurz in den Sinn, dass sein Schwager für die Feinheiten der Etikette noch nie einen wesentlichen Sinn besessen hatte, dann sagte er: »Verzeih, Bruder. Es drängte mich danach, deine Arbeit zu sehen.«

»Wie schmeichelhaft. Komm mit mir.«

Taragorm wandte sich um und ging den Korridor, durch den er gekommen war, wieder zurück. Meliadus folgte ihm dichtauf.

Durch weitere Passagen, deren Wände mit dicken Wandteppichen behangen waren, gelangten sie schließlich an eine große Tür. Taragorm drückte mit dem ganzen Gewicht seines Körpers den Riegel auf, und die Tür öffnete sich. Unvermittelt erfüllte ein Geräusch wie von einem starken Wind die Luft, und es war, als schlüge eine gewaltige Trommel einen fast schmerzhaft langsamen Rhythmus.

Automatisch blickte Meliadus hoch und sah ein riesiges Pendel, das über ihm die Luft durchschnitt – es war aus Bronze, wog gut seine fünfzig Tonnen und war in der Form einer reichverzierten Sonne mit Strahlenkranz gearbeitet. Es verursachte einen Luftzug, der die Wandteppiche hinter ihnen flattern ließ, und Meliadus’ Gewand wie ein paar schwere Silberflügel aufbauschte. Es war die Ursache für das heftige Windgeräusch, und die nicht sichtbare Unruh war für den langsamen Trommelschlag verantwortlich. Über die ganze Pendelhalle verteilt standen Maschinen im unterschiedlichsten Konstruktionsstadium, Tische mit Laborgeräten, Instrumente aus Messing, Bronze und Silber, Knäuel mit dünnem Golddraht, Netze aus juwelenverkrustetem Draht, Zeitmeßgeräte -Wasseruhren, Pendeluhren, Ankeruhren, kleine Uhren, Chronometer, Planetarien, Sternhöhenmesser, Tischuhren und Sonnenuhren. An diesen Geräten arbeiteten Taragorms Sklaven, Wissenschaftler und Ingenieure aus den verschiedensten Ländern, viele davon die besten ihres Fachs.

Während Meliadus sich noch umblickte, zischte aus einem Teil der Halle ein purpurner Blitz, ein grüner Funkenregen aus einem anderen und Schwaden scharlachroten Rauches aus einem weiteren. Er sah, wie eine schwarze Maschine zu Staub zerfiel. Der Mann, der sie bedient hatte, taumelte in den Staub und war verschwunden.

»Und was war das?« erklang eine Stimme ganz in der Nähe. Meliadus drehte sich um und bemerkte, dass Kalan von Vital, der oberste Wissenschaftler des Reichskönigs, sich ebenfalls zu Besuch hier befand.

»Ein Zeitbeschleunigungsexperiment«, erklärte Taragorm. »Es gelingt uns zwar, den Prozess in Gang zu setzen, jedoch nicht, ihn unter Kontrolle zu bekommen. Bis jetzt hatten wir noch mit keinem unserer Versuche Erfolg. Die dort …«, er deutete auf eine große, eiförmige Maschine aus gelber, glasartiger Substanz, »schafft genau den entgegengesetzten Effekt, aber leider können wir auch die noch nicht regulieren. Der Mann, den ihr daneben seht, steht schon seit Wochen so – reglos und wie erstarrt.« Meliadus hatte ihn für eine Statue aus dem Spielwerk einer Uhr gehalten, die hier repariert wurde.

»Und wie sieht es aus mit Reisen durch die Zeit?« erkundigte er sich.

»Dort drüben«, erwiderte Taragorm. »Siehst du den Satz Silberkästen? In jedem dieser Kästen befindet sich ein von uns erfundenes Instrument, das einen Gegenstand entweder in die Vergangenheit oder Zukunft befördern kann – wir wissen allerdings noch nicht, in welche zeitliche Entfernung. Für Lebewesen ist diese Art der Beförderung sehr unzuträglich. Wenige der Sklaven und Tiere, die wir für die Versuche benutzten, kamen lebend zurück. Und die, die noch lebten, erlitten körperliche Schäden und ungeheure Schmerzen.«

»Wenn wir Tozer nur geglaubt hätten, vielleicht wäre es uns dann doch gelungen, das Geheimnis der Zeitreise zu enträtseln. Wir hätten uns wirklich nicht über ihn lustig machen sollen – aber wer hätte schön gedacht, dass dieser kritzelnde Narr ein solches Geheimnis entdeckt haben könnte!«

»Was sagt Ihr da?« Meliadus wandte sich zu Kalan um. Er hatte nichts von Tozer erfahren. »Tozer, der Dramatiker? Ich hielt ihn für tot. Was hat er denn mit Zeitreisen zu tun?«

»Er erschien plötzlich wieder bei Hof und versuchte die Gunst des Reichskönigs durch eine Phantasiegeschichte, wie wir glaubten, wiederzugewinnen. Er erzählte, er habe von einem alten Mann im Westen gelernt, durch die Zeit zu reisen -mit Hilfe von Geisteskraft. Wir forderten ihn lachend auf, seine Geschichte durch eine Demonstration zu beweisen. Er erklärte sich einverstanden – und verschwand!«

»Ihr – ihr habt nicht versucht, ihn aufzuhalten?«

»Seine Geschichte war so lächerlich. Wir hielten sie für blanken Unsinn«, warf Taragorm ein. »Hättest du sie ihm denn geglaubt?«

»Zumindest wäre ich vorsichtiger gewesen.«

»Es war in seinem eigenen Interesse, wiederzukommen, nahmen wir an. Außerdem, Bruder, greifen wir nicht nach jedem Strohhalm.«

»Was meinst du damit – Bruder?« gab Meliadus zurück.

»Ich meine, dass wir echte wissenschaftliche Forschungen betreiben, während du sofortige Erfolge sehen möchtest, um deine Rache befriedigen zu können.«

»Ich, Bruder, bin ein Krieger – ein Mann der Tat. Es liegt mir nicht, herumzusitzen und mich mit Spielzeugen zu befassen oder über Büchern zu brüten.« Nachdem er seine Ehre solcherart wiederhergestellt hatte, wandte sich Meliadus wieder dem Thema Tozer zu.

»Ihr sagtet, der Dramatiker habe das Geheimnis von einem alten Mann im Westen erfahren?«

»Das hat er gesagt«, erwiderte Kalan. »Aber ich glaube, er log. Er behauptete, er könne allein mittels seiner Geisteskraft durch die Zeit reisen. Das trauten wir ihm jedoch nicht zu. Tatsache ist, dass er wahrhaftig vor unseren Augen verschwand.«

»Weshalb erfuhr ich nichts davon?« stöhnte Meliadus auf.

»Du warst auf dem Festland, als es geschah«, erklärte Taragorm. »Außerdem dachten wir nicht, dass es einen Mann wie dich interessieren würde.«

»Aber sein Wissen hätte eure Arbeit hier vielleicht vereinfachen können«, wandte Meliadus ein. »Der Verlust dieser Chance scheint euch nicht viel auszumachen.«

Taragorm zuckte die Schultern. »Sollen wir uns jetzt darüber aufregen? Wir kommen auch so allmählich voran …« Irgendwo schrie ein Mann, und ein violettes und oranges Leuchten zuckte durch die Halle. »… und bald werden wir die Zeit genauso unter unserer Kontrolle haben wie den Raum.«

»In tausend Jahren vielleicht«, schnaubte Meliadus. »Der Westen – ein alter Mann im Westen? Wir müssen ihn finden. Wie heißt er?«

»Tozer nannte ihn Mygan – er soll ein Magier von großer Weisheit sein. Aber, wie ich schon sagte, ich glaube, er log. Was gibt es schon im Westen außer Öde? Seit dem Tragischen Millennium lebt dort nichts und niemand außer verkrüppelten Kreaturen.«

»Wir müssen dorthin. Wir müssen uns dort umsehen. Wir dürfen uns ganz einfach keine Chance entgehen lassen …«

»Ohne mich!« Kalan schauderte. »Ich reise nicht auf gut Glück zu diesen schrecklichen Bergen. Ich habe genug hier zu tun – ich muss unsere Schiffe mit meinen neuen Motoren ausstatten. Schiffe, die es uns dann ermöglichen werden, den Rest der Welt so schnell zu erobern, wie wir Europa eroberten. Ich dachte außerdem, auch Ihr hättet Pflichten hier zu Hause, Baron Meliadus – unsere Besucher …«

»Die verdammten Botschafter! Sie kosten mich wertvolle Zeit.«

»Bald werde ich dir all die Zeit bieten können, die du benötigst, Bruder«, versprach ihm Taragorm. »Gib uns noch eine kleine Weile …«

»Pah! Hier kann ich nichts lernen. Deine zerfallenen Kästen und explodierenden Maschinen bieten einen spektakulären Anblick, aber sie sind von keinem Nutzen für mich. Beschäftige du dich nur mit deinem Spielzeug, Bruder, wie es dir Spaß macht. Ich verabschiede mich.«

Meliadus empfand spürbare Erleichterung, dass er seinem verhassten Schwager gegenüber nicht mehr höflich sein musste. Er drehte sich brüsk um und ging durch die Korridore zurück zu dem Saal, wo seine Sklavinnen mit der Sänfte auf ihn warteten.

Er schwang sich hinein und gab den Trägerinnen Anweisung, ihn fortzubringen.

Auf dem Weg zurück zu seinem eigenen Palast erwog Meliadus die Möglichkeiten, die ihm sein neues Wissen eröffneten.

Zunächst würde er sich irgendwie seiner Pflichten gegenüber den Gesandten entledigen, dann sofort nach Westen reisen, und versuchen, den Alten zu finden, von dem Tozer gesprochen hatte. Denn dieser verfügte nicht nur über das Geheimnis, durch die Zeit zu reisen, sondern dadurch auch über das Mittel, ihm, Meliadus, endlich seine Rache zu ermöglichen.