3 Der Sayou
Mit einem Ächzen gespaltenen Holzes und dem Knirschen von Metall prallte die Kugel gegen die Bäume.
D’Averc und Falkenmond wurden ans entgegengesetzte Ende der Kabine geschleudert, und der unangenehm kalte Leichnam Zhenak-Tengs mit ihnen.
Als nächstes prallten sie gegen die anderen Wände und die Decke des Gefährts, und wären diese nicht gepolstert gewesen, so hätten sie sich gewiss jeden Knochen gebrochen.
Endlich kam die Kugel zum Halten und öffnete sich. Die beiden Männer rollten hinaus.
»Ein schreckliches Erlebnis für einen Mann mit einer so schwachen Gesundheit wie meine«, stöhnte d’Averc.
Falkenmond grinste, teils über die Theatralik seines Freundes, teils aus Erleichterung.
»Wir sind jedenfalls glimpflicher davongekommen, als wir hoffen konnten. Steh auf, Huillam – wir wollen weiter nach Süden ziehen.«
»Ich glaube, es ist besser, wir erholen uns erst einmal von dem Schrecken«, schlug d’Averc vor. Er streckte sich und blickte zu dem grünen Laubdach auf, durch das vereinzelt goldene Sonnenstrahlen drangen. Der Geruch von Kiefernharz hing in der Luft und der erdige Duft von Birken, und von einem hohen Ast beobachtete ein Eichhörnchen mit schwarzen kleinen Augen die beiden Männer. Hinter ihnen lagen die Trümmer der Kugel inmitten zerborstener Äste und Wurzeln. Einige kleinere Bäume waren aus dem Boden gerissen worden, andere lagen geknickt. Falkenmond erkannte nun, dass sie wirklich nur knapp davongekommen waren. Er zitterte plötzlich und fühlte, dass d’Avercs Vorschlag, eine Rast zu machen, durchaus sinnvoll war, Er setzte sich auf einen kleinen grasbewachsenen Hügel, mit dem Rücken zu den Kugeltrümmern und zum kalten Leichnam Zhenak-Tengs.
D’Averc legte sich neben ihn. Er rollte sich auf den Rücken und zog aus seinem zerschlissenen Wams die Karte hervor, die Zhenak-Teng ihnen am Vorabend gegeben hatte.
Auf der Karte waren die Kampps auf der Ebene eingetragen und offensichtlich die Jagdpfade der Charkis. Viele von den Kampps waren durchgestrichen. Sicher jene, die von den Charkis zerstört worden waren.
D’Averc deutete auf eine Stelle an einer Ecke der Karte. »Hier ist der Wald«, erklärte er Falkenmond. »Und an seinem nördlichen Rand ist ein Fluss eingezeichnet, der Sayou. Dieser Pfeil hier deutet südwärts nach Narleen. Offenbar führt der Strom dorthin.«
Falkenmond nickte. »Dann werden wir diesen Fluss suchen, sobald wir uns ein wenig erholt haben. Je eher wir Narleen erreichen, desto besser, denn dort erfahren wir vielleicht, wo in Raum und Zeit wir uns befinden. Hätten diese Charkis nicht angegriffen, so hätten wir das gewiss von Zhenak-Teng erfahren.«
Sie schliefen im Schatten der Bäume etwa eine Stunde, dann standen sie auf, gürteten die Schwerter, zogen ihre zerlumpten Kleider zurecht und machten sich auf den Weg zum Fluss.
Der Wald wurde immer unpassierbarer, je weiter sie in ihn vordrangen, das Unterholz wurde dichter und die Hügel immer steiler. Gegen Abend waren sie müde und missgelaunt und sprachen kaum miteinander.
Falkenmond fingerte in dem Lederbeutel, der von seinem Gürtel hing, und fand eine reich verzierte Zunderschachtel. Eine halbe Stunde gingen sie noch weiter, bis sie an einen kleinen Bach kamen, der in einen Teich mit hohen Ufern zu drei Seiten mündete. Daneben befand sich eine kleine Lichtung, und Falkenmond sagte: »Wir werden die Nacht hier verbringen, d’Averc, ich kann nicht mehr weiter.«
D’Averc nickte, ließ sich neben dem Teich auf den Bauch fallen und trank in großen Zügen. »Er sieht tief aus«, sagte er und wischte sich den Mund ab.
Falkenmond entfachte ein Feuer und antwortete nicht.
Bald loderten die Flammen.
»Wir sollten uns etwas zum Braten jagen«, meinte d’Averc müde. »Ich werde hungrig. Kennst du dich in Wäldern aus, Falkenmond?«
»Ein wenig«, erwiderte Falkenmond. »Aber ich habe keinen Hunger.« Damit schlief er ein.
Falkenmond wurde durch einen gellenden Schrei seines Freundes aus tiefem Schlaf gerissen.
Er sprang sofort auf und blickte in die Richtung, in die d’Averc entsetzt starrte. Automatisch fast riss er sein Schwert aus der Scheide.
Aus dem Teich tauchte ein riesiges, reptilienartiges Wesen, Wasser rann über die schwarzen Schuppen und nachtschwarze Augen starrten böse. Im offenen Maul blitzten spitze weiße Zähne. Es bewegte sich auf die beiden zu.
Falkenmond schreckte zurück. Er fühlte sich wie ein Zwerg vor dem Ungeheuer, dessen Schädel auf ihn zuschoss. Der Gestank aus dem nach ihm schnappenden Rachen betäubte ihn fast.
»Lauf, Falkenmond! Lauf!« brüllte d’Averc, und gemeinsam flüchteten sie in den Wald hinein.
Doch inzwischen war die Bestie aus dem Wasser und verfolgte sie. Ein Quaken wie von einem riesigen Ochsenfrosch drang aus ihrer Kehle und hallte durch den Wald. Falkenmond und d’Averc hielten einander an der Hand, um sich nicht zu verlieren, während sie blindlings durchs Unterholz stolperten.
Wieder ertönte das Quaken, und eine lange weiche Zunge schoss auf sie zu und wickelte sich um d’Avercs Mitte.
D’Averc brüllte auf und hieb mit der Klinge auf die Zunge ein. Auch Falkenmond stieß einen Schrei aus, machte einen Satz und schlug mit aller Kraft auf das schwarze Ding ein. D’Avercs Hand ließ er dabei aber nicht los.
Immer näher zog die Zunge sie zu dem gähnenden Rachen, und Falkenmond erkannte, dass er d’Averc auf diese Weise nicht retten konnte. Er ließ seine Hand los, sprang zur Seite und hieb so gut er konnte auf die dicke schwarze Zunge ein.
Dann packte er das Schwert mit beiden Händen und ließ die Klinge mit all seiner Kraft heruntersausen.
Das Scheusal quakte erneut, und der Boden unter seinen Füßen erbebte, aber die Zunge war durchtrennt, und faulig stinkendes Blut schoss aus den Enden. Ein grässliches Gebrüll erscholl, und die Bäume barsten, als die Wasserkreatur sich zu ihnen hindurchzwängte. Falkenmond packte d’Averc, riss ihn auf die Beine und löste das stinkende Fleisch der zertrennten Zunge.
»Danke«, keuchte d’Averc. »Mir missfällt dieses Land immer mehr, Dorian. Die Gefahren hier erscheinen mir noch größer als in unserer Welt!«
Quakend und brüllend verfolgte sie das Ungeheuer.
»Es hat uns gleich eingeholt«, stöhnte Falkenmond. »Wir können ihm nicht entkommen!«
Sie drehten sich beide um und spähten durch die Finsternis. Alles, was sie sehen konnten, waren die glühenden Augen des Ungeheuers. Falkenmond wog das Schwert in seiner Hand. »Wir haben nur eine Chance«, rief er und warf die Klinge wie einen Speer in eines der Augen.
Ein durchdringender Schrei erschütterte die Luft, und die glühenden Augen waren nicht mehr zu sehen. Dann vernahmen sie das Bersten weiterer Bäume, das sich immer mehr entfernte, als das Untier zu seinem Teich zurückkehrte.
Falkenmond holte tief Luft. »Es hat offenbar aufgegeben, als es merkte, dass wir doch nicht eine so leichte Beute waren, wie es dachte. Komm, Huillam, sehen wir zu, dass wir den Fluss erreichen. Ich will so schnell wie möglich aus diesem Wald heraus.«
»Und woraus schließt du, dass der Fluss weniger gefährlich ist?« fragte d’Averc ein wenig spöttisch, als sie ihren Weg fortsetzten und ihre Richtung anhand der moosbewachsenen Seite der Bäume bestimmten.
Zwei Tage später erreichten sie den Rand des Waldes, der an einem steilen Hang endete. Durch ein Tal zu ihren Füßen floss ein breiter Strom, zweifellos der Sayou.
Ihre Kleidung bestand nur noch aus Fetzen. D’Averc trug nur noch seine zerschlissenen, schmutzigen Beinkleider, und Falkenmond, mit dessen Schwert sich das Teichungeheuer zurückgezogen hatte, besaß als einzige Waffe noch seinen Dolch.
Sie rannten, so schnell sie konnten, hangabwärts, ohne sich um die Äste zu kümmern, die ihnen ins Gesicht peitschten, und die Wurzeln, über die sie stolperten.
Wohin der Fluss sie bringen würde, wussten sie nicht, aber sie wollten den Wald und seine Ungeheuer so schnell wie möglich hinter sich bringen. Zwar waren sie keinem Monster mehr begegnet, das so schrecklich war wie jenes aus dem Teich, aber sie hatten einige aus sicherer Entfernung beobachtet und die Spuren anderer gefunden.
Am Fluss angekommen, warfen sie sich ins Wasser und wuschen sich den Schmutz und den Schlamm von den Körpern, fast fröhlich grinsten sie einander zu.
»Ah, herrliches Wasser!« seufzte d’Averc. »Du wirst uns zu Dörfern und Städten bringen, zurück in die Zivilisation! Es kümmert mich wenig, welcher Art diese Zivilisation sein wird -sie ist mir auf jeden Fall willkommener als dieser Urwald!«
Falkenmond lächelte. Er konnte d’Avercs Gefühle gut verstehen, wenn er sie auch nicht uneingeschränkt teilte.
»Wir werden uns ein Floß bauen«, sagte Falkenmond. »Wenn wir Glück haben, trägt uns der Fluss bis zu unserem Ziel.«
»Und du kannst fischen, Falkenmond, und uns köstliche Mahlzeiten bereiten. Ich bin nicht an die einfache Kost der beiden letzten Tage gewohnt – Beeren und Wurzeln!« D’Averc verzog das Gesicht.
»Ich werde auch dir beibringen, wie man Fische fängt, d’Averc. Vielleicht kann dir dieses Wissen von Nutzen sein, wenn du später einmal in eine ähnliche Situation kommen solltest!« Falkenmond lachte und schlug seinem Kameraden herzhaft auf die Schulter.