14 Das Ödland von Yel
Gräfin Flanas Ornithopter sank immer tiefer, sein Rumpf streifte die Wipfel hoher Tannen, und die Flügel waren in Gefahr, sich im Astwerk der Bäume zu verfangen. Schließlich landete er im Gestrüpp der Heide jenseits des Waldes.
Der Tag war kalt, und ein schneidender Wind pfiff über die Heide und biss durch ihre dünnen Gewänder.
Zitternd kletterten sie aus der Flugmaschine und sahen sich um. Niemand war hier zu sehen.
D’Averc zog aus seinem Wams ein Stückchen dünnes Leder hervor, auf das eine Karte gekritzelt war.
Er zeigte in eine Richtung. »Wir müssen dorthin. Aber zuerst sollten wir den Ornithopter im Wald verstecken.«
»Warum lassen wir ihn nicht einfach hier?« meinte Falkenmond. »Es dürfte kaum damit zu rechnen sein, dass ihn in den nächsten Tagen jemand findet.«
»Ich möchte nicht, dass Gräfin Flana in Verdacht gerät«, erwiderte d’Averc ernst. »Es könnte schlimme Folgen für sie haben, wenn man die Maschine entdeckt. Komm jetzt.«
Mit viel Mühe zerrten sie das Gerät zwischen die Tannen und tarnten es mit Buschwerk. Es hatte sie getragen, bis der Treibstoff ausging. Sie hatten nicht erwartet, dass sie den ganzen Weg nach Yel fliegen konnten.
Jetzt mussten sie zu Fuß weiter.
Vier Tage marschierten sie durch Wälder und über Heide, bis die Gegend allmählich immer unfruchtbarer wurde und sie sich den Grenzen Yels näherten.
Eines Tages schließlich blieb Falkenmond stehen und deutete in die Feme. »Schau, d’Averc, die Berge von Yel.«
Weit vor ihnen erhoben sich die purpurnen Gipfel der Berge in die Wolken, während die niedrigeren Hänge und die Ebene davor steinig gelbbraun waren.
Es war eine wilde und schöne Gegend, dergleichen Falkenmond nie zuvor gesehen hatte.
»So verletzt also nicht alles in Granbretanien das Auge«, rief er.
»Ein erfreulicher Anblick«, stimmte d’Averc zu. »Aber doch auch einschüchternd. Es wird nicht einfach sein, Mygan dort zu finden. Der Karte nach liegt Llandar noch viele Meilen von hier in diesen Bergen.«
»Dann wollen wir rasch weiterziehen«, drängte Falkenmond. »Zwar haben wir einen Vorsprung vor Meliadus, aber vielleicht ist er bereits auf der Suche nach Mygan.«
D’Averc stand auf einem Bein und rieb sich den Fuß. »Ich fürchte nur, meine Stiefel werden bald mehr Löcher als Sohlenleder aufweisen. Ich wählte sie nach ihrer Eleganz und nicht nach Haltbarkeit. Jetzt erkenne ich meinen Fehler.«
Falkenmond klopfte ihm auf die Schulter. »Ich habe gehört, dass es hier Wildpferde gibt. Vielleicht finden wir zwei, die sich zähmen lassen.«
Aber sie stießen auf keine Wildpferde, und der gelbe Boden unter ihren dünnen Sohlen war rau. Bald schon begann der Himmel grell zu leuchten. Falkenmond und d’Averc verstanden allmählich, weshalb die Granbretanier diese Gegend mit so großer Scheu und voll Aberglauben betrachteten; denn wahrhaftig schien etwas, sowohl am Himmel als auch am Land, hier übernatürlich.
Endlich erreichten sie die Berge. Das Gestein war gelblich, mit dunkelroten und grünen Streifen durchzogen und wirkte gläsern und abweisend. Seltsame Tiere huschten vor ihnen davon, als sie über die zerklüfteten Felsen kletterten, und merkwürdige, menschenartige Wesen mit dichtbehaarten Leibern und völlig haarlosem Schädel, kaum mehr als ein Fuß hoch, musterten sie aus sicherer Deckung.
»Die Vorfahren dieser bedauernswerten Kreaturen waren Menschen«, erklärte d’Averc. »Aber das Tragische Jahrtausend hat hier allerhand angerichtet.«
»Woher weißt du das?« fragte ihn Falkenmond.
»Das habe ich gelesen. Hier in Yel waren die Auswirkungen des Tragischen Jahrtausends schlimmer als sonst wo in Granbretanien. Deshalb ist es hier auch so wild und öde, und darum kommen kaum noch Menschen hierher.«
»Außer Tozer – und diesem Mygan von Llandar.«
»Wenn man Tozer überhaupt glauben darf. Möglicherweise jagen wir nur hinter einem Phantom her.«
»Aber Meliadus hatte die gleiche Information.«
»Vielleicht ist Tozer lediglich ein versierter Lügner?«
Die Nacht brach herein, als die Bergbewohner aus ihren Höhlen krochen und d’Averc und Falkenmond angriffen.
Sie waren mit öligem Fell bedeckt, hatten Schnäbel wie Vögel und Krallen wie Katzen. Ihre großen Augen leuchteten, und ein grässliches Zischen drang aus ihren geöffneten Schnäbeln, hinter denen sich scharfe Zähne verbargen. Soweit sie es in der Dunkelheit beurteilen konnten, handelte es sich um drei Weibchen und sechs männliche Exemplare.
Falkenmond zog sein Schwert und rückte die Geiermaske zurecht, wie er es auch mit einem anderen Helm getan hätte, und stellte sich mit dem Rücken gegen eine Felswand.
Kaum hatte d’Averc seinen Platz neben ihm eingenommen, fielen die Angreifer auch schon über sie her.
Falkenmond hieb nach dem ersten und schlitzte ihm die Brust auf. Kreischend stolperte er zurück.
Dem zweiten durchbohrte d’Averc das Herz, und Falkenmond durchtrennte den Hals des dritten. Aber die Krallen eines vierten bohrten sich in. seinen linken Arm. Er versuchte, den Dolch, den er in dieser Hand hielt, umzudrehen und ihn der Kreatur in die Klaue zu stoßen, während er sich gleichzeitig mit dem Schwert gegen einen anderen Angreifer wehrte, der ihn von rechts angefallen hatte.
Falkenmond hustete, und Übelkeit stieg in ihm auf, denn die seltsamen Wesen stanken grauenhaft. Endlich gelang es ihm, den Dolch in den Unterarm seines linken Angreifers zu stechen, der grunzte und ließ los.
Instinktiv stieß Falkenmond sofort den Dolch in eines der glühenden Augen und -ließ ihn darin stecken, um sich ganz dem rechten Gegner zuzuwenden.
Es war nun völlig dunkel und schwer festzustellen, wie viele der Kreaturen noch übrig waren. D’Averc hielt sich gut und bedachte seine Angreifer mit Flüchen, während seine Klinge durch die Luft zischte und hieb und stieß.
Falkenmond glitt auf dem blutigen Boden aus. Er taumelte und setzte sich unfreiwillig auf einen spitzen Felsbrocken. Sofort drang eine weitere der Kreaturen zischend auf ihn ein. Sie umarmte ihn mit der Stärke eines Bären, und ihr scharfer Schnabel schnappte nach dem Geiervisier.
Falkenmond gelang es, seine Arme freizubekommen. Er riss sich den Helm, der in dem stinkenden Schnabel verblieb, vom Kopf. Dann löste er sich aus der Umklammerung und versetzte dem Wesen einen kräftigen Schlag auf die Brust. Es stolperte verwirrt zurück, ohne zu verstehen, dass die Geiermaske nicht Teil von Meliadus’ Körper war.
Schnell stieß Falkenmond ihm das Schwert durchs Herz, dann drehte er sich um, um d’Averc zu Hilfe zu kommen, der von zwei Angreifern arg bedrängt wurde.
Mit einem Hieb trennte er den Schädel des einen vom Leib und wollte sich den anderen vornehmen, als dieser d’Averc freigab und schreiend mit einem Fetzen seines Gewands in die Nacht davonlief. Er war das einzige der greulichen Geschöpfe, das mit dem Leben davongekommen war.
D’Averc keuchte heftig. Er war an der Brust verletzt, wo die Klauen das Wams aufgerissen hatten. Falkenmond verband die Wunde mit einem Streifen seines Umhangs.
»Nicht viel passiert«, murmelte d’Averc. Er zerrte sich den verbeulten Geierhelm vom Kopf und warf ihn von sich. »Sie waren uns recht nützlich«, meinte er. »Aber da du deinen nicht länger hast, verzichte ich auf meinen ebenfalls. Das Juwel in deiner Stirn in unverkennbar, also hätte es auch keinen Sinn, wenn ich mich weiter verkleidete.« Er grinste. »Ich sagte dir doch, Freund Dorian, das Tragische Jahrtausend hat abscheuliche Kreaturen hervorgebracht.«
»Ich habe deine Worte nie bezweifelt.« Falkenmond lächelte. »Komm, wir müssen einen sicheren Ort finden, an dem wir übernachten können. Tozer hat einen auf seiner Karte eingetragen. Hol sie heraus. Im Sternenlicht lässt sie sich vielleicht lesen.«
D’Averc tastete sein Wams ab. Erschrocken blickte er auf. »O Dorian, wie entsetzlich! Die Kreatur hat ausgerechnet das Stück ’mit der Tasche abgerissen, in der die Karte steckte. Ohne sie finden wir den Weg nie.«
Falkenmond fluchte, steckte sein Schwert in die Scheide zurück und runzelte die Stirn.
»Dann müssen wir die Bestie wohl oder übel verfolgen. Sie war leicht verwundet und hat vielleicht eine Blutspur zurückgelassen. Möglicherweise hat sie die Karte auch irgendwo weggeworfen. Wenn nicht, müssen wir ihr eben bis in ihre Behausung nach und zusehen, wie wir wieder zu unserem Eigentum kommen.«
»Ist das wirklich nötig«, wandte d’Averc ein. »Meinst du nicht, wir könnten uns an den eingezeichneten Weg erinnern?«
»Nicht gut genug. Komm, d’Averc.«
Falkenmond machte sich daran, über die spitzen Felsbrocken zu klettern, über die das Wesen geflohen war, und d’Averc folgte ihm zögernd.
Glücklicherweise war die Nacht mondhell, und sie entdeckten tatsächlich glänzende Bluttropfen auf den Felsen.
»Hier entlang, d’Averc«, rief Falkenmond.
Sein Freund seufzte, zuckte die Schultern und folgte ihm.
Sie verfolgten die Spur bis zum Morgen, als Falkenmond sie schließlich verlor. Sie standen nun hoch auf einem Bergkamm und hatten einen guten Ausblick auf zwei Täler. Falkenmond fuhr mit der Hand durch sein blondes Haar und seufzte.
»Keine Spur von dem Ding. Und ich war mir doch so sicher …«
»Jetzt sind wir noch schlechter dran«, meinte d’Averc beiläufig und rieb sich die müden Augen. »Keine Karte – und nicht mehr auf unserem ursprünglichen Weg …«
»Es tut mir leid, d’Averc. Ich dachte, es wäre das Beste.« Falkenmond ließ die Schultern hängen. Plötzlich jedoch erhellte sich seine Miene und er wies mit dem Finger.
»Da! Dort hat sich etwas bewegt. Komm.« Er jagte zwischen hohen Felsbrocken hindurch, und d’Averc verlor ihn aus den Augen.
Der Franzose hörte einen überraschten Aufschrei, und dann war alles still.
D’Averc zog sein Schwert und folgte seinem Freund.
Es dauerte nicht lange, bis er entdeckte, was Falkenmond so in Erstaunen versetzt hatte. Überrascht blickte er in die Tiefe. Weit unten in einem der Täler lag eine Stadt aus Metall, deren Dächer und Wände Rot, Grün, Orange und Blau glänzten. Es war jedoch selbst aus dieser Höhe zu erkennen, dass die Stadt unbewohnt und von Rost befallen war.
Falkenmond deutete den felsigen Hang hinunter. Dort rutschte ihr Angreifer der vergangenen Nacht in Richtung Stadt.
»Dort lebt er wahrscheinlich«, meinte Falkenmond.
»Ich möchte ihm nicht dorthin folgen«, murmelte d’Averc. »Die Luft könnte giftig und von der Art sein, die das Fleisch auflöst und zu Erbrechen und Tod führt …«
»Das Gift ist schon lange nicht mehr hier, d’Averc, und das weißt du auch. Es hält sich nur für eine Weile und verflüchtigt sich dann. Hier war gewiss schon seit Jahrhunderten kein Gift mehr.« Er begann hinter ihrem Feind herzuklettern, der noch immer das Stück aus d’Avercs Wams umklammert hielt, in dem Tozers Karte steckte.
»Schon gut«, stöhnte d’Averc. »Gehen wir also gemeinsam in den Tod.« Und wieder machte er sich daran, seinem Freund zu folgen. »Du bist ein unruhiger Geist, Herzog von Köln!«
Kleine Steinchen lösten sich unter ihren Füßen und beflügelten die Flucht des Wesens, während d’Averc und Falkenmond, die gebirgiges Terrain nicht gewohnt waren, nur langsam vorankamen. D’Averc hatte außerdem Schwierigkeiten mit seinen Stiefeln, die nur aus wenig mehr als aus Fetzen bestanden.
Sie sahen, wie das Wesen in die Schatten der Metallstadt eintauchte und verschwand.
Wenig später erreichten auch die beiden Freunde die Stadt, und blickten, nicht ohne Ehrfurcht, auf die gewaltigen Metallbauten, die hoch in den Himmel ragten und düstere Schatten auf die Erde warfen.
Falkenmond entdeckte einige Blutstropfen und suchte im düsteren Licht zwischen den Streben und Pfeilern der Stadt nach weiteren.
Plötzlich hörte er ein zischendes Geräusch, ein merkwürdiges unterdrücktes Knurren …
… und schon hatte das Wesen sich auf ihn gestürzt. Die Klauen klammerten sich um seine Kehle und drückten nun fester und fester zu. Er fühlte, wie eine ihm die Haut aufriss und dann eine zweite. Seine Hände schnellten hoch, und er versuchte, die Krallen von seinem Hals wegzuzerren, während der Schnabel des Wesens auf seinen Hinterkopf einhackte.
Dann zerriss ein kreischender Schrei die Luft, und die Klauen gaben seinen Hals wieder frei.
Falkenmond wandte sich wankend um und sah d’Averc, der mit blutigem Schwert über dem Kadaver des Wesens stand.
»Diese grässliche Kreatur hatte nicht einen Funken Verstand«, brummte d’Averc leichthin. »Was für ein Narr er war, dich anzugreifen und nicht an mich zu denken.« Er bückte sich und hob mit spitzen Fingern das Stück aus seinem Wams hoch, das das Wesen hatte fallen lassen. »Hier ist unsere Karte, so gut wie neu!«
Falkenmond wischte sich Blut von der Kehle. Die Krallen hatten wenig mehr als seine Haut verletzt. »Das arme Ding«, sagte er.
»Jetzt werd nur nicht weich, Falkenmond! Wie kannst du so reden, schließlich hat das Ding uns angegriffen.«
»Ich frage mich warum. Hier herrscht doch bestimmt kein Mangel an Beutetieren, die gewiss auch besser schmecken als wir.«
»Entweder waren wir die erste Beute, die ihnen über den Weg lief«, meinte d’Averc, und besah sich das Metallgitterwerk, das hier überall zu sehen war, »oder aber sie haben gelernt, Menschen zu hassen.«
Mit eleganter Bewegung steckte er sein Schwert zurück in die Scheide und machte sich auf den Weg durch die Streben und Pfeiler hindurch, die die Türme und Straßen der Stadt über ihnen trugen und stützten. Überall lag Abfall, Teile von Tierkadavern, verrottendes Zeug.
»Lass uns die Stadt ansehen, wenn wir schon hier sind«, schlug d’Averc vor, während er unter einer Strebe hindurchkletterte, »wir können hier schlafen.«
Falkenmond breitete die Karte aus. »Sie ist eingetragen«, stellte er fest. »Sie heißt Halapandur. Sie liegt gar nicht so weit östlich von der Höhle unseres mysteriösen Philosophen.«
»Wie weit?«
»Einen Tagesmarsch etwa, hier in den Bergen.«
»Dann sollten wir rasten und morgen weitergehen«, schlug d’Averc vor.
Falkenmond runzelte die Brauen. Dann zuckte er die Schultern. »Nun gut.« Dann kletterte auch er die Streben entlang, bis er auf eine der seltsamen gewundenen Metallstraßen gelangte.
»Wie wär’s mit diesem Turm dort?« schlug d’Averc vor.
Sie gingen auf einer sanft ansteigenden Rampe auf einen Turm zu, der im Sonnenlicht türkis und dumpf rot glänzte.