2 Die Flamingos tanzen

 

Des Morgens, wenn sich ganze Wolken von riesigen scharlachroten Flamingos aus ihren Nestern hoben und in bizarrem Tanz durch die Luft schwebten, stand Graf Brass bereits am Rand der Marsch und blickte über das Wasser auf die eigenartige Anordnung der dunklen Lagunen und braunen Inseln, die ihm wie die Hieroglyphen einer alten Sprache schienen.

Die ontologische Offenbarung, die möglicherweise in diesen Mustern verborgen lag, hatte es ihm angetan. Er beschäftigte sich deshalb schon seit geraumer Zeit mit den Vögeln, dem Schilf und den Lagunen, um den Schlüssel zu dieser rätselhaften Landschaft zu finden.

Die Landschaft, so glaubte er, barg eine Botschaft. Vielleicht konnte er hier die Antwort zu dem Dilemma finden, dessen er sich selbst nur halb bewusst war – die Antwort auf diese wachsende Bedrohung, die ihn, so fühlte er, überwältigen würde, körperlich und geistig.

Die ersten Strahlen der Sonne ließen das blasse Wasser aufleuchten. Graf Brass hörte ein Geräusch und wandte sich um. Er sah seine Tochter Yisselda, eine goldhaarige Madonna der Lagunen, eine nahezu übernatürliche Gestalt in ihrem fließenden langen Gewand, auf ihrem ungesattelten gehörnten weißen Pferd auf sich zureiten. Ihr Lächeln erschien ihm, als wisse sie um ein Geheimnis, das er niemals ganz verstehen könnte.

Graf Brass tat, als hätte er sie nicht bemerkt, aber sie war schon sehr nahe und winkte ihm zu.

»Vater- wie früh du schon auf bist. Und nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen.«

Graf Brass nickte und wandte sich wieder ab, um die Wasser und das Schilf zu betrachten, dann sah er rasch nach oben, als wolle er die tanzenden Flamingos überraschen, als könnte er in einem solchen Augenblick das Geheimnis ihrer verschlungenen Drehungen erkennen.

Yisselda war abgestiegen und stand nun neben ihm. »Es sind nicht unsere Flamingos«, sagte sie leise. »Und doch sind sie ihnen so ähnlich. Was siehst du?«

Graf Brass zuckte die Schultern und sah sie lächelnd an. »Nichts. Wo ist Falkenmond?«

»In der Burg. Er schläft noch.«

Graf Brass sog scharf die Luft ein und rang die Hände, wie bei einem verzweifelten Gebet, und er lauschte dem Schlagen der großen Flügel über sich. Dann entspannte er sich, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie am Ufer der Lagune entlang.

»Der Sonnenaufgang«, murmelte sie, »er ist wunderschön.«

Graf Brass schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht …« sagte er, hielt aber dann inne. Er wusste, dass sie die Landschaft nie auf dieselbe Weise sehen würde wie er. Er hatte einmal versucht, es ihr zu beschreiben, aber sie hatte rasch das Interesse daran verloren, ohne sich die Mühe zu machen, die Bedeutung der Muster zu verstehen, die er überall sah – im Wasser, im Schilf, in den Bäumen, in der Fauna, die hier ebenso reichhaltig war wie in der Kamarg, die sie verlassen hatten.

Für ihn waren diese Muster, die er sah, der Inbegriff einer höheren Ordnung, für sie war es einfach schön – etwas, das man seiner »Wildheit« wegen bewunderte.

Nur Bowgentle, der Philosoph und Poet, sein alter Freund, ahnte, was ihn bewegte. Aber selbst Bowgentle schrieb es weniger den Vorgängen in der Natur und der Landschaft zu als dem Wesen Graf Brass’ selbst.

»Du bist erschöpft und verwirrt«, pflegte Bowgentle zu sagen. »Du vermeinst, etwas zu sehen, das in Wahrheit nur in deinem Geist existiert, ausgelöst durch Erschöpfung und Unruhe …«

Graf Brass’ Antwort auf diese Argumente war lediglich ein finsterer Blick, dann legte er stets die Rüstung an und ritt, sehr zum Unbehagen seiner Familie und Freunde, aus, um die neue Kamarg zu erforschen, die seiner eigenen so sehr ähnelte, außer dass es hier nie Menschen gegeben hatte.

»Er ist ein Mann der Tat, genau wie ich«, hatte Falkenmond, ihr Gatte, ihr erklärt, als sie mit ihm und Bowgentle darüber sprach. »Ich fürchte, sein Geist wendet sich nach innen, aus Mangel an einem Problem, mit dem er sich beschäftigen könnte.«

»Das wirkliche Problem dürfte wohl unlösbar sein«, war Bowgentles Antwort gewesen. Falkenmond hatte sich daraufhin umgedreht, die Hand am Schwertgriff, und war ebenfalls allein seines Wegs gegangen.

Es herrschte eine merkliche Spannung auf Burg Brass, und selbst im Städtchen unten. Die Menschen waren ebenfalls besorgt. Sie freuten sich, den Schrecken des Dunklen Imperiums entkommen zu sein, aber sie wussten nicht, ob ihr Verbleib in diesen neuen, ihrem alten so ähnlichen Land von Dauer war. Als sie angekommen waren, wirkte alles hier unwirklich; die Farben waren die des Regenbogens gewesen, aber nach und nach schien es, als hätten ihre Erinnerungen sich auf das Land hier übertragen, und die Farben wurden natürlicher, und auch sonst fanden sie kaum noch einen Unterschied. Auch hier gab es Herden von einhornigen Pferden und weißen Bullen, die man zähmen konnte, und scharlachrote Flamingos, die sich mit viel Geduld zu Reittieren abrichten ließen. Aber die Angst, dass das Dunkle Imperium irgendwie einen Weg hierher finden würde, nagte ständig an ihnen.

Falkenmond und Graf Brass – möglicherweise auch d’Averc, Bowgentle und Oladahn – quälte dieser Gedanke weniger. Es gab Momente, da hätten sie einen Angriff aus der Welt, die sie verlassen hatten, geradezu begrüßt.

Während Graf Brass die Landschaft studierte und ihre Geheimnisse zu ergründen suchte, galoppierte Falkenmond über die Wege zwischen den Lagunen, dass die Pferde- und Bullenherden scheuten und die Flamingos sich in die Luft flüchteten.

Eines Tages, als er auf seinem schweißnassen Pferd von einem seiner wilden Ausflüge entlang der violetten See (Meer und Land schienen sich hier endlos dahinzustrecken) zurückkehrte, sah er die Flamingos mit den Luftströmungen aufwärtssegeln und wieder herabschweben. Er wunderte sich, denn es war Nachmittag, und die Flamingos tanzten sonst nur am frühen Morgen. Irgendwie schienen sie ihm auch aufgeregt.

Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Er jagte sein Pferd über den sich windenden Pfad durch die Marsch, bis er sich unmittelbar unter den Flamingos befand. Sie kreisten um eine kleine Insel, die mit hohem Riedgras bewachsen war. Er starrte angestrengt auf die Insel, und meinte, dort etwas zu erblicken, etwas Rotes, das der Mantel eines Mannes sein mochte.

Zunächst dachte Falkenmond, es sei vielleicht ein Mann aus der Stadt, der hier Wildenten jagte, aber dann wurde ihm klar, dass dieser ihm sicherlich zugewunken oder ihn zumindest weggewunken hätte, damit er ihm nicht die Enten vertreibe.

Nachdenklich lenkte er sein Pferd ins Wasser und ließ es zur Insel schwimmen. Es brach sich einen Weg durchs Schilf, und wieder sah Falkenmond etwas Rotes. Nun war er sicher, dass es ein Mann war. »Hallo!« rief er. »Wer da?«

Er bekam keine Antwort, aber das Rohr bewegte sich wild, als der Mann die Flucht ergriff.

»Wer seid Ihr?« rief Falkenmond, als ihm bewusst wurde, dass das Dunkle Imperium einen Weg zu ihnen gefunden haben mochte und dass dort irgendwo im Ried Männer verborgen lagen, um Burg Brass anzugreifen.

»Halt!« schrie Falkenmond, aber der Mann schwamm weiter.

Falkenmonds Pferd tauchte wieder ins Wasser, dass es aufspritzte. Der Mann watete schon ans gegenüberliegende Ufer, als er sich umdrehte und Falkenmond dicht hinter sich sah. Er wandte sich ganz um und zog ein schlankes Schwert von außerordentlicher Länge.

Aber es war nicht das Schwert, das Falkenmond am meisten überraschte – sondern der Eindruck, dass der Mann kein Gesicht hatte! Der ganze Kopf unter dem langen, hellen, sehmutzigen Haar war – leer. Falkenmond sog erstaunt Luft ein und griff nach seinem Schwert. War der Mann ein Bewohner dieser Welt?

Falkenmond schwang sich mit dem Schwert in der Hand aus dem Sattel, und sein Pferd stieg weiter ans Ufer. Plötzlich musste er lachen, als er die Wahrheit erkannte. Der Mann trug eine Maske aus dünnem Leder. Mund- und Augenschlitze waren so schmal, dass er sie aus der Entfernung nicht bemerkt hatte.

»Warum lacht Ihr?« kreischte der Maskierte. »Ihr solltet nicht lachen, mein Freund, denn Ihr werdet jetzt sterben.«

»Wer seid Ihr?« fragte Falkenmond. »Ein Angeber auf jeden Fall.«

»Ich bin ein besserer Schwertkämpfer als Ihr«, erwiderte der Rotjackige. »Am besten ergebt Ihr Euch gleich.«

»Bedaure. Aber ich kann mich nicht auf Euer Urteil verlassen, was unsere Geschicklichkeit mit dem Schwert anbelangt.« Falkenmond lächelte. »Wie kommt es, beispielsweise, dass ein so großer Kämpfer so armselig gekleidet ist?«

Mit dem Schwert deutete er auf das mit vielen Flicken versehene rote Wams, die zerschlissene Hose und die Stiefel aus rissigem Leder. Nicht einmal für das glänzende Schwert gab es eine Hülle. Der Rotjackige hatte es lediglich in einer Seilschlinge an dem Strick hängen gehabt, der ihm als Gürtel diente, und von dem auch ein praller Beutel baumelte. An seinen Fingern trug der Mann Ringe mit billigen Glassteinen. Er war groß und dürr, halbverhungert wie es schien, und seine Haut war ungesund grau.

»Ein Bettler, nehme ich an«, spottete Falkenmond. »Wo hast du denn das Schwert gestohlen, Bettler?«

Er riss die Augen auf, als der Mann plötzlich zustieß und wieder zurücksprang. Die Bewegung war von unglaublicher Flinkheit gewesen. Falkenmond spürte ein Brennen an seiner Wange. Als er danach tastete, stellte er fest, dass sie blutete.

»Soll ich Euch aufspießen?« höhnte der Fremde. »Legt lieber Euer schweres Schwert ab und ergebt Euch!«

Falkenmond lachte ehrlich erfreut. »Gut! Wahrhaftig ein würdiger Gegner! Ihr wisst ja nicht, wie willkommen Ihr mir seid, mein Freund. Zu lange ist es schon her, dass ich das Klirren von Stahl vernahm!«

Sein Gegner verteidigte sich geschickt, er führte seine Klinge auf eine Weise, dass er aus der Abwehr sofort einen Angriff machen konnte, vor dem Falkenmond sich kaum zu retten vermochte. Beide Männer standen mit gespreizten Beinen auf dem marschigen Grund, keiner wich auch nur einen Fingerbreit, beide kämpften mit vollendetem Können, ohne jegliche Gefühlsregung, jeder erkannte im anderen einen wahren Meister im Kampf mit der Klinge. Eine ganze Stunde fochten sie, ohne dass einer einen Vorteil erzielte.

Schließlich entschied Falkenmond sich für eine andere Taktik und begann, sich ganz allmählich zum Ufer zurückzukämpfen.

Der Maskierte glaubte, sein Gegner wolle die Flucht ergreifen, und hieb noch konzentrierter auf ihn ein, dass Falkenmond seine ganze Kraft für die Verteidigung brauchte.

Dann tat Falkenmond, als sei er im Schlamm ausgerutscht und ließ sich auf ein Knie fallen. Der andere sprang vorwärts und stach zu. Falkenmond parierte unvorstellbar rasch, und die flache Klinge schlug auf das Handgelenk des Rotjackigen. Der schrie auf, und das Schwert entfiel seinen Fingern. Schnell sprang Falkenmond hoch, stellte den Stiefel auf die Waffe und drückte gleichzeitig die Schwertspitze an die Kehle des Fremden.

»Eine unwürdige Finte«, knurrte der Besiegte.

»Ich langweile mich schnell«, erklärte Falkenmond. »Ich wurde unseres Spielchens müde.«

»Was nun?«

»Euren Namen«, verlangte Falkenmond. »Erst will ich ihn erfahren, dann Euer Gesicht sehen, danach wissen, was Ihr hier zu suchen habt, und schließlich – und das ist vielleicht am wichtigsten – wie Ihr hierhergekommen seid.«

»Meinen Namen kennt Ihr gewiss«, versicherte ihm der Maskierte mit unverhohlenem Stolz. »Ich bin Elvereza Tozer.«

»Elvereza Tozer!« echote der Herzog von Köln überrascht.