4 Die Reise nach Burg Brass

 

Falkenmond wurde in seine Gemächer in den Gefängniskatakomben zurückgeleitet. Dort verbrachte er zwei Tage. Schließlich kam Baron Meliadus mit einem Gewand aus schwarzem Leder, Stiefeln, Panzerhandschuhen, einem schweren schwarzen Mantel mit Kapuze, einem Breitschwert mit Silbergriff in einer schwarzen Lederscheide mit einfachen Silberverzierungen und einer schwarzen Helmmaske, die in der Form eines knurrenden Wolfes gearbeitet war. Diese Ausstattung einschließlich der Wolfsmaske glich genau der Tracht, die er selbst trug.

»Ihr werdet Graf Brass erzählen, dass es Euch mit Hilfe einer Sklavin gelang, mir ein Betäubungsmittel in den Wein zu mischen, meine Sachen an Euch zu bringen, Euch als mich auszugeben und so die Grenzen Granbretaniens und ihrer eroberten Provinzen zu überqueren, ehe ich wieder zu Bewusstsein kam. Das ist eine einfache Geschichte, die er Euch gewiss glauben und die Euch seine Gunst sichern wird.«

»Ich verstehe«, murmelte Falkenmond. »Doch wie erkläre ich das Schwarze Juwel?«

»Ihr sagt, Ihr wart bestimmt, Euch einem meiner Experimente zu unterziehen, vermochtet jedoch zu entkommen, ehe man Euch dauerhaften Schaden zufügte. Ihr müsst Eure Sache gut machen, Herzog von Köln, denn Eure Sicherheit hängt davon ab. Wir werden genau auf die Reaktion des Grafen achten – und auch auf jene dieses Reimeschmieds Bowgentle. Wenn wir auch nicht hören, was Ihr sprecht und was sie antworten oder Euch erzählen, so wissen wir doch sehr wohl die Lippen zu lesen. Bei dem geringsten Anzeichen von Verrat werdet Ihr die volle Kraft des Juwels zu spüren bekommen.«

»Ich verstehe«, wiederholte Falkenmond mit ausdrucksloser Stimme.

Meliadus runzelte die Stirn. »Zweifellos werden sie sich über Euer eigenartiges Wesen wundern. Hoffen wir, dass sie es mit Eurem Unglück erklären.«

Falkenmond nickte gleichgültig.

Meliadus sah ihn durchdringend an. »Ich mache mir noch immer Gedanken über Euch, Falkenmond. Noch immer bin ich mir nicht sicher, dass Ihr nicht doch irgendein Zaubermittel besitzt, mit dessen Hilfe Ihr uns zu hintergehen sucht -trotzdem jedoch bin ich mir Eurer Loyalität sicher. Das Schwarze Juwel ist meine Versicherung.« Er lächelte. »Ein Ornithopter steht bereit, Euch nach Deau-Vere an die Küste zu bringen. Macht Euch bereit, mein Lord Herzog, und dient Granbretanien treu. Seid Ihr erfolgreich, so herrscht ihr in Kürze wieder über Eure eigenen Länder.«

 

Der Ornithopter wartete auf dem Rasen vor dem Eingang zu den Katakomben. Er war eine wundervolle Maschine aus Kupfer, Messing, Silber und schwarzem Stahl, und er hatte die Form eines Greifen, der auf seinen mächtigen löwenähnlichen Pranken ruhte, die vierzig Fuß großen Flügel auf dem Rücken gefaltet. Unterhalb des Kopfes in einem kleinen Cockpit saß der Pilot. Er trug die Vogelmaske seines Ordens – des Ordens der Krähe, dem alle Flieger angehörten. Seine Hände, die in Handschuhen steckten, ruhten auf den juwelenbesetzten Kontrollknöpfen.

Etwas vorsichtig kletterte Falkenmond, der jetzt das Gewand trug, das dem Meliadus’ glich, auf den Sitz hinter dem Piloten. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Schwert auf dem langen, schmalen Sitz. Schließlich fand er eine einigermaßen bequeme Position und legte die Hände auf die metallenen Seiten der Flugmaschine, als der Pilot einen Hebel drückte und sich die Flügel entfalteten und mit einem seltsamen, widerhallenden Krachen zu schlagen begannen.

Der ganze Ornithopter zitterte und neigte sich einen Augenblick lang auf eine Seite, ehe der Pilot ihn fluchend unter Kontrolle bekam. Falkenmond wusste, dass diese Flugmaschinen nicht ganz ungefährlich zu bedienen waren. Während der Schlacht von Köln hatte er mehrmals beobachtet, dass Maschinen, die ihn angegriffen hatten, plötzlich ihre Flügel zusammenfalteten und zu Boden stürzten. Aber trotz dieser Unsicherheit waren die Ornithopter die wichtigste Waffe bei der raschen Eroberung des europäischen Festlandes, denn keine andere Rasse besaß fliegende Maschinen irgendwelcher Art.

Jetzt begann der Metallgreif mit einer ruckartigen Bewegung langsam aufzusteigen. Die Flügel schlugen durch die Luft, und das Flugzeug stieg höher und höher, bis sie über den höchsten Türmen Londras flogen, in Richtung Südosten. Falkenmond atmete schwer; ihm gefiel diese ungewöhnliche Art zu reisen nicht.

Bald hatten sie die schwere, dunkle Wolkenschicht hinter sich gelassen, und Sonnenstrahlen glänzten auf den metallenen Schuppen des Ornithopters. Durch die Juwelenaugen der Maske, die er trug, sah Falkenmond das Sonnenlicht in Millionen Regenbogenblitze gebrochen. Er schloss die Augen.

Zeit verging, und er fühlte, dass der Ornithopter abwärts flog. Er öffnete die Augen und sah, dass sie gerade die Wolken hinter sich ließen. Unter ihnen lagen aschgraue Felder, eine Stadt mit vielen Türmen und dahinter die bleifarbene, aufgewühlte See.

Mit schwerfälligem Flügelschlag näherte sich die Maschine einem hohen abgeflachten Fels, der der Stadtmitte entwuchs.

Sie landete mit lautem Rumpeln und rasend schlagenden Flügeln und kam schließlich nahe dem Rand dieses künstlichen Plateaus zum Stehen.

Der Pilot gab Falkenmond ein Zeichen, auszusteigen. Er tat es mit steifen Gliedern und zitternden Beinen, während der Pilot seine Kontrollapparate abschloss und ebenfalls ausstieg. Hier standen noch andere Ornithopter. Als sie über das Felsplateau gingen, flatterte einer hoch in die Luft, und Falkenmond fühlte den scharfen Windzug seiner Flügel im Gesicht, als das Ding knapp über seinen Kopf flog.

»Deau-Vere«, sagte der Pilot mit der Krähenmaske. »Ein Hafen, der nahezu allein der Luftflotte gehört, obwohl auch unsere Kriegsschiffe ihn noch benutzen.«

Falkenmond sah eine runde Stahltür im Fels vor ihnen. Der Pilot blieb daneben stehen und klopfte mit dem Stiefel eine Serie rhythmischer Schläge dagegen. Schließlich schwang die Tür nach unten und gab eine Steintreppe frei. Sie stiegen hinunter, während sich die Stahlklappe wieder schloss. Es war düster im Inneren; hier und da sah man drohende Steinmonster und einige wenig kunstvoll gearbeitete Reliefs.

Schließlich gelangten sie durch ein bewachtes Tor auf eine gepflasterte Straße, die zwischen den Türmen der Stadt hindurchführte. In den Straßen wimmelte es von Soldaten des granbretanischen Reiches. Viele Flieger mit ihren Krähenmasken sah man hier, die Besatzungen der Kriegsschiffe, die Fisch- und Seeschlangenmasken trugen, auch Infanterie und Kavallerie, vertreten durch die verschiedensten Orden, die des Schweins, des Wolfes, des Schädels, der Gottesanbeterin, des Stiers, des Hundes, der Ziege und viele mehr. Schwerter schlugen gegen gepanzerte Beine, Flammenlanzen stießen im Gewühl gegeneinander, und überall sah man die finstere Pracht militärischer Rüstungen.

Falkenmond wunderte sich, dass man so willig vor ihm zurückwich, bis er daran dachte, wie sehr er Baron Meliadus ähneln musste.

An den Stadttoren wartete ein Pferd mit vollen Proviantsatteltaschen auf ihn. Falkenmond wusste bereits Bescheid über das Pferd und den Weg, den er einschlagen musste. Er stieg auf und ritt auf das Meer zu.

Bald teilten sich die Wolken, und die Sonne brach durch, und Dorian Falkenmond sah zum ersten Mal die Silberbrücke, die sich dreißig Meilen über das Meer spannte. Sie war wunderschön, wie sie im Sonnenlicht vor ihm glänzte. Man meinte, sie sei zu zart, um auch nur der geringsten Prise widerstehen zu können, aber sie konnte tatsächlich sämtliche Armeen Granbretaniens tragen. Sie zog sich über das Meer bis zum Horizont. Die Straße, die über sie führte, war fast eine Viertelmeile breit und seitlich begrenzt von einem Netzwerk aus Silbertrossen, die von Pfeilern hingen, welche nach militärischen Motiven geformt waren.

Über die Brücke floss in beiden Richtungen reger Verkehr. Falkenmond erblickte Gefährte, die so außergewöhnlich geformt waren, dass er sich fragte, wie sie überhaupt fahren konnten; Schwadronen von Kavallerie ritten hier, und die Rüstungen der Pferde wäre nicht weniger kunstvoll als die ihrer Reiter; Infanteriebattaillone marschierten in Viererreihen mit unwahrscheinlicher Präzision; Wagenkarawanen mit Handelsgütern und Tragtiere, bepackt mit allen möglichen Waren -Fellen, Seiden, Fleisch, Früchten, Gemüsen, Schatztruhen, Kerzenleuchtern, Betten, Stühlen – vieles davon, erkannte Falkenmond, war Plündergut aus Staaten wie Köln, die vor kurzem von denselben Armeen unterworfen wurden, die hier an den Karawanen vorbeizogen.

Auch Kriegsmaschinen waren zu sehen – Gebilde aus Eisen und Kupfer –, Rammböcke, Belagerungstürme, große Schleudern für Feuerbälle und Steinkugeln. Daneben, in den Masken des Maulwurfs, des Dachses und des Frettchens, marschierten die Maschinenbauer des Dunklen Imperiums, ihre kräftigen Leiber sowie alles andere wirkte winzig klein, im Vergleich zu dem mächtigen Gebilde der Silberbrücke, das, wie die Ornithopter, wesentlich zu Granbretaniens Eroberungen beigetragen hatte.

Die Wachen am Tor der Brücke waren angewiesen worden, Falkenmond passieren zu lassen, und die Tore öffneten sich, als er näher kam. Er ritt auf die vibrierende Brücke; die Hufe seines Pferdes klapperten auf dem metallenen Untergrund. Von der Nähe aus gesehen, verlor das Bauwerk ein wenig von seinem Zauber. Ihre Oberfläche war verschrammt und verbeult durch den starken Verkehr. Hier und dort sah man Haufen Pferdekot, Lumpen, Stroh und anderen Unrat. Es war unmöglich, eine so stark benutzte Durchgangsstraße in einwandfreiem Zustand zu halten, aber auf eine Weise symbolisierte der verdreckte Boden etwas vom Geist der seltsamen Zivilisation Granbretaniens.

Falkenmond überquerte die Silberbrücke und gelangte nach einer Weile auf das europäische Festland. Er machte sich auf den Weg nach der Kristallstadt, die kürzlich vom Dunklen Imperium erobert worden war. In der Kristallstadt Parye würde er einen Tag Rast machen, ehe er weiter nach Süden zog.

Er konnte Parye nicht am selben Tag erreichen, beschloss aber, nicht in Karlye, der Stadt an der Brücke, zu bleiben, sondern ein Dorf in der Nähe zu suchen, um dort die Nacht zu verbringen.

Noch vor Sonnenuntergang erreichte er ein Dorf mit hübschen Häusern und Gärten, an denen die Verwüstungen deutliche Spuren hinterlassen hatten. Von einigen der Häuser standen nur noch die Grundmauern. Es war seltsam still in dem Dorf. Nur wenige Lichter brannten, und die Tür der Dorfschenke war verriegelt; auch drangen keine Geräusche nach draußen, die auf Lustbarkeiten schließen ließen. Im Hof der Schenke saß er ab und hieb mit der Faust gegen die Tür. Nach einigen Minuten wurde der Riegel zurückgeschoben, und ein Knabengesicht sah ihn an. Der Junge wirkte erschrocken, als er die Wolfsmaske sah. Widerwillig öffnete er die Tür und ließ Falkenmond eintreten. Gleich nachdem er eingetreten war, nahm Falkenmond die Maske ab und versuchte, dem Jungen zuzulächeln, um ihn zu ermutigen, aber das Lächeln wirkte nicht echt, denn Falkenmond hatte vergessen, wie man beim Lächeln die Lippen bewegte. Der Junge schien seinen Gesichtsausdruck zu missdeuten, er stolperte rückwärts und wirkte halb trotzig, als erwarte er zumindest einen Schlag.

»Ich will dir nichts tun«, sagte Falkenmond steif. »Kümmere dich nur um mein Pferd und gib mir ein Bett und etwas zu essen. Ich breche bei Sonnenaufgang wieder auf.«

»Herr, wir haben nur einfache Dinge zu essen«, murmelte der Junge, der ein wenig Selbstsicherheit wiedererlangt hatte.

Den Menschen in Europa war es nichts Neues, Besatzungsmächte erdulden zu müssen. Nur die Aggressivität der Granbretanier war ungewohnt, und das war es offensichtlich, was der Junge fürchtete. Er erwartete keinerlei Gerechtigkeit von einem, der offensichtlich ein Adliger Granbretaniens war.

»Ich nehme, was ihr habt. Hebt euer bestes Essen und den Wein für euch auf. Ich will nur meinen Hunger stillen und schlafen.«

»Sire, die guten Sachen sind alle fort. Wenn wir …«

Falkenmond brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das interessiert mich nicht. Tu Wort für Wort das, was ich von dir will, so dienst du mir am besten.«

Er sah sich um in der Schenke, zwei alte Männer saßen in einer düsteren Ecke und tranken aus schweren Krügen; sie vermieden es, ihn anzusehen. Er setzte sich in die Mitte des Raumes an einen Tisch, nahm den Umhang ab, wischte sich den Staub der Straße vom Gesicht und seiner Kleidung. Dann stellte er die Wolfsmaske auf den Boden, was bei einem Adligen des Dunklen Imperiums wohl eher merkwürdig anmutete. Er bemerkte, wie einer der Männer ihn überrascht anstarrte, er musste wohl das Schwarze Juwel entdeckt haben. Nach einer Weile kehrte der Junge zurück; er brachte dünnes Bier und ein wenig Schweinefleisch, und Falkenmond wusste, dass das tatsächlich das Beste war, was das Haus zu bieten hatte. Er aß und trank und verlangte dann, in seine Kammer gebracht zu werden. Er badete und legte sich anschließend zu Bett, wo er sofort einschlief.

Irgendetwas jedoch weckte ihn in der Nacht, und ein unwiderstehlicher Drang ließ ihn ans offene Fenster treten. Er blickte in den Hof und sah einen Reiter auf einem schweren Kriegsroß, der zu ihm emporblickte. Der Mann war ganz in Schwarz und Gold gekleidet, und das Visier seines Helms verbarg das Gesicht. Er starrte Falkenmond ein paar Sekunden an, dann wandte er sein Pferd und ritt davon.

Falkenmond fühlte, dass das, was er gesehen hatte, für ihn wichtig war. Er ging jedoch zurück ins Bett und schlief ebenso tief wie zuvor. Am nächsten Morgen aber wusste er nicht, ob der Reiter Wirklichkeit oder nur Traumgestalt gewesen war. Falls es ein Traum gewesen sein sollte, so wäre es der erste seit seiner Gefangenschaft. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Nachdem er sich angekleidet hatte, ging er in den Schankraum und fragte nach einem Frühstück.

 

Falkenmond erreichte die Kristallstadt am Abend. Ihre Gebäude waren aus reinem Quarz gefertigt und schillerten in herrlichen Farben. Überall klingelten die Glasdekorationen, mit denen die Bürger Paryes ihre Häuser, die öffentlichen Gebäude und ihre Monumente schmückten. Die Stadt war so wunderschön, dass selbst die Kriegslords des Dunklen Imperiums sie verschont hatten. Anstelle Parye im Sturm zu nehmen, ließen sie sich mehrere Monate Zeit und erreichten dasselbe mit List. Innerhalb der Stadt jedoch sah man deutlich überall die Zeichen der Fremdherrschaft. Angst kennzeichnete die Gesichter der Menschen. Krieger mit Tiermasken stolzierten durch die Straßen, und Flaggen wehten von den Häusern, die einst den Edlen Paryes gehört hatten. Es waren die Banner der granbretanischen Feldherren, die sich hier einquartiert hatten. Falkenmond sah das Banner Jarak Nankenseens, des Kriegslords des Fliegenordens; das Adaz Promps, des Grandkonnetabels des Hundeordens; Mygel Holsts, des Erzherzogs von Londra; und Asrovak Mikosevaars, des Renegaten von Muskovia und Söldnerkriegslords der Geierlegion. Mikosevaar hatte Granbretanien schon gedient, noch ehe der Eroberungsplan offensichtlich war. Er war der grausamste und perverseste Kriegslord des Dunklen Imperiums, und sein Wahlspruch Tod dem Leben, der in Scharlachrot auf sein Banner gestickt war, jagte allen, die gegen ihn kämpfen mussten, Angst und Schrecken ein. Offenbar ruhte er sich in Parye nur aus, dachte Falkenmond, denn der Söldnerlord war fast immer an der vordersten Front anzutreffen. Leichen zogen den Muskoviter an wie Rosen die Bienen.

Es gab keine Kinder auf den Straßen der Kristallstadt. Jene, die Granbretanien nicht niedergemetzelt hatte, wurden in Kerkern gehalten, um die Unterwürfigkeit der überlebenden Bürger zu gewährleisten:

Die Sonne schien die Kristallbauten in Blut zu tauchen, als sie unterging. Falkenmond war zu müde, um weiterzureiten, und suchte die Schenke auf, die Meliadus ihm genannt hatte. Dort schlief er bis lange in den Tag hinein, ehe er seine Reise nach Burg Brass fortsetzte. Er hatte erst die Hälfte seines Weges hinter sich.

 

Jenseits der Stadt Lyon hörte die Macht Granbretaniens vorerst auf. Aber der Weg dorthin war mit Leichen gepflastert. Männer und Frauen jeglichen Alters, Knaben und Mädchen, ja sogar Haustiere wie Katzen, Hunde und Kaninchen waren an roh errichtete Kreuze genagelt, die die Straßen säumten. Ganze Familien waren hier grausam verendet, vom jüngsten Baby bis zum ältesten Diener war keiner verschont geblieben. Der Gestank von Verwesung quälte Falkenmond, als er auf seinem Pferd die Straße nach Lyon entlang ritt; der Todesgestank drückte ihm die Kehle zu. Feuer hatte Felder und Wälder versengt, Dörfer und kleine Städte niedergebrannt und die Luft grau und schwer werden lassen. Alle, die noch lebten, waren zu Bettlern geworden, gleichgültig, welchen Rang sie früher innehatten, außer den Frauen, die als Huren zu den Soldaten des Herrschers gegangen waren, und jenen Männern, die sich dem Reichskönig kriecherisch unterworfen hatten.

Hatte er bislang noch Neugierde verspürt, so erfüllte ihn nun Abscheu, doch wie alle Gefühle nahm er auch dieses nur am Rande zur Kenntnis. Mit der Wolfsmaske auf dem Kopf ritt er auf Lyon zu. Keiner hielt ihn auf, und keiner stellte Fragen; denn jene, die zum Orden des Wolfes gehörten, kämpften zur Zeit im Norden, und so war Falkenmond sicher vor allen, die ihn in der Geheimsprache des Ordens ansprechen mochten.

Als er Lyon hinter sich gelassen hatte, nahm Falkenmond die Wolfsmaske ab und versteckte sie in den nun leeren Satteltaschen. Er ritt querfeldein, wo die Luft noch rein war und wo er nicht in Gefahr lief, von einer Patrouille der Eroberer aufgehalten zu werden und Erklärungen abgeben zu müssen.

In Valence, wo die Einwohner und Krieger, die sich dort zurückgezogen hatten, sich auf die Verteidigung vorbereiteten, indem sie nutzlose Strategien ersannen und wirkungslose Kriegsmaschinen bauten – erzählte Falkenmond zum ersten Mal seine Geschichte.

»Ich bin Dorian Falkenmond von Köln«, eröffnete er dem Hauptmann, zu dem ihn die Soldaten brachten.

Der Hauptmann sah ihn sich genau an. »Der Herzog von Köln lebt gewiss nicht mehr – die Granbretanier nahmen ihn gefangen«, sagte er. »Ich halte Euch für einen Spion.«

Falkenmond protestierte nicht, sondern erzählte die Geschichte, die Meliadus ihm vorgeschlagen hatte. Ohne Anteilnahme berichtete er von seiner Gefangennahme und seiner Flucht, und seine seltsame Art, dies alles vorzutragen, überzeugte den Hauptmann mehr als die Geschichte selbst. Dann bahnte sich ein Schwertkämpfer in verbeulter Rüstung einen Weg durch die Menge und rief Falkenmond beim Namen. Falkenmond erkannte die Abzeichen auf dessen Waffenrock als die eigenen, die Wappen von Köln. Der Mann war einer der wenigen, die nach dem Kampf von Köln hatten fliehen können. Er sprach zum Hauptmann und zur Menge und berichtete ihnen vom Mut und vom Einfallsreichtum des Herzogs. Daraufhin hieß man Dorian Falkenmond als Helden in Valence willkommen.

Am Abend, als seine Ankunft gefeiert wurde, eröffnete Falkenmond dem Hauptmann, dass er auf dem Weg in die Kamarg war, um Graf Brass für einen Kampf gegen Granbretanien zu gewinnen. Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Der Graf ergreift keine Partei«, sagte er. »Aber wahrscheinlich schenkt er Euch eher Gehör als irgend jemand anderem. Ich hoffe, Ihr habt Erfolg, Lord Herzog.«

Falkenmond verließ Valence am nächsten Morgen in Richtung Süden. Er stieß auf viele Männer mit harten Gesichtern, die vorhatten, sich im Norden jenen anzuschließen, die sich darauf vorbereiteten, dem Dunklen Imperium die Stirn zu bieten.

Heftiger Wind begrüßte ihn, als Falkenmond sich seinem Ziel näherte und endlich das flache Marschland der Kamarg vor sich liegen sah, das schöne einsame Land mit seinen Lagunen und dem Mistral, vor dessen Gewalt die Riedgräser sich tief beugten. Als er nahe an einem der hohen alten Türme vorüberritt, bemerkte er das Aufblitzen der Heliographen. Da wusste er, dass Burg Brass noch vor seiner Ankunft von seinem Kommen unterrichtet war.

Mit kaltem Gesicht saß Falkenmond aufrecht auf seinem Pferd, das auf der sich windenden Straße durch die Marschen dahintrottete. Das Riedgras flüsterte, und manchmal flog ein Vogel über den traurigen alten Himmel, der sich im gekräuselten Wasser der Lagunen spiegelte.

Kurz vor Nachtanbruch erblickte er Burg Brass, ihr Terrassenberg und die eleganten Türme hoben sich als schwarzgraue Silhouette gegen das Abendlicht ab.