1 Die letzte Stadt

 

Die finsteren Reiter lenkten ihre Schlachtrosse den schlammigen Hügel empor. Der dicke schwarze Rauch, der aus dem Tal aufstieg, reizte sie zum Husten.

Es war Abend, und die untergehende Sonne ließ ihre langen Schatten noch grotesker erscheinen. Im Dämmerlicht meinte man, Wesen mit Tierköpfen auf Pferden reiten zu sehen.

Jeder von ihnen trug ein vom Kampf zerfetztes Banner; jeder hatte eine Tiermaske aus juwelenbesetztem Metall über den Kopf gestülpt und steckte in einer schweren Rüstung aus Stahl, Messing und Silber, mit seinem eigenen Emblem; und jeder umklammerte in seiner behandschuhten Rechten eine Waffe, an der das Blut unzähliger Unschuldiger klebte.

Die sechs Reiter erreichten den Kamm des Hügels und ließen ihre Pferde anhalten. Sie stießen ihre Banner in die Erde, wo diese im heißen Wind aus dem Tal wie das Schwingen von Raubvögeln flatterten.

Wolfsmaske wandte sich der Fliegenmaske zu, Affenmaske starrte auf Ziegenmaske, und Rattenmaske schien die Hundemaske anzugrinsen – ein Grinsen des Triumphs. Die Tiermaskenträger des Dunklen Imperiums, jeder ein Heerführer, blickten auf das Tal, und über das Tal und die Hügel hinweg auf das Meer und zurück auf die schwelende Stadt, die zu ihren Füßen lag.

Die Nacht brach herein. Der Feuerschein aus der brennenden Stadt drang mit dem Heulen und Wimmern der Gefolterten bis zu ihnen herauf und spiegelte sich in den Metallmasken der Lords von Granbretanien wider.

»Nun, meine Herren«, ertönte die klangvolle Stimme Baron Meliadus’, des Grandkonnetabels des Wolfsordens und Oberkommandierenden der Eroberungsarmee. »Jetzt haben wir ganz Europa bezwungen.«

»So ist es«, fiel Mygel Holst ein, der Erzherzog von Londra und Grandkonnetabel des Ziegenordens. »Es gab in ganz Europa keinen Fußbreit Boden mehr, der nicht uns gehört, und ein beachtlicher Teil des Ostens ist ebenfalls bereits unser.« Der Ziegenhelm nickte zufrieden, und die Rubinaugen, in denen der Feuerschein sich brach, glänzten böse.

»Bald wird uns die ganze Welt zu Füßen liegen«, rief Adaz Promp, der oberste Befehlshaber des Hundeordens, voller Genugtuung.

Die Barone Granbretaniens, Herren eines Kontinents, Taktiker und hervorragende Krieger voller wilden Muts, die ihr Leben bedenkenlos aufs Spiel setzten, deren Seelen korrupt waren und deren Verstand dem Wahnsinn verfallen, die alles hassten, was nicht so war wie sie, die ihre Macht benutzten ohne Skrupel, die keine Gerechtigkeit kannten, genossen auf ihre Art, wie die letzte europäische Stadt starb. Es war eine alte Stadt, die Athena hieß.

»Die ganze Welt«, murmelte Jerek Nankenseen, der Grankonnetabel des Fliegenordens, »nur die verschwundene Kamarg nicht …«

Bei diesen Worten verlor Baron Meliadus beinahe die Fassung, es fehlte nicht fiel, und er hätte Jerek Nankenseen geschlagen.

Jerek Nankenseens Maske wandte sich Meliadus zu, und die Stimme, die aus ihr drang, klang spöttisch. »Genügt es Euch nicht, dass Ihr sie vertrieben habt, mein Lord Baron?«

»Nein«, knurrte der Wolf. »Es genügt mir nicht.«

»Sie sind keine Bedrohung für uns«, murmelte Baron Brenal Farnu im Rattenhelm. »Unsere Wissenschaftler nehmen an, dass sie in einer Dimension jenseits der Erde existieren – in einer anderen Zeit oder einem anderen Raum. Dort können sie uns nichts anhaben, wir ihnen allerdings auch nicht. Lasst uns unseren Sieg genießen, ohne ihn durch Gedanken an Falkenmond und Graf Brass zu schmälern …«

»Ich kann es nicht!«

»Oder ist es vielleicht ein anderer Name, der Euch verfolgt, Bruder Baron?« stichelte Nankenseen, der in Londra mehr als einmal Meliadus’ Rivale bei amourösen Eroberungen gewesen war. »Ist es Yisselda? Ist es die Liebe, die Euch bewegt, mein Lord?«

Meliadus umklammerte den Schwertgriff wie in wilder Wut, aber er schwieg. Erst als er sich wieder gefangen hatte, sagte er mit leichter Stimme: »Rache ist es, Baron Jerek Nakenseen, die mich bewegt.«

»Ihr seid ein leidenschaftlicher Mann, Baron …« bemerkte Jerek Nakenseen trocken.

Meliadus steckte sein Schwert in die Scheide, streckte die Hand nach seinem Banner aus und riss es aus der Erde. »Sie haben den Reichskönig beleidigt, und unser Land – und mich. Ich will das Mädchen zu meinem Vergnügen, ich werde sie nehmen, ohne mich von irgendwelchen Gefühlen leiten zu lassen …«

»Natürlich nicht«, murmelte Jerek Nankenseen, nicht ganz ohne Sarkasmus.

»… und was die anderen betrifft, auch sie werden zu meinem Vergnügen leiden – in den Kerkern Londras. Dorian Falkenmond, Graf Brass, der Philosoph Bowgentle, das Pelzgesicht Oladahn von den Bulgarbergen und der Verräter Huillam d’Averc – sie alle werden Qualen ausstehen, viele Jahre lang. Das habe ich beim Runenstab geschworen!«

Sie hörten ein Geräusch hinter sich und drehten die Köpfe, um durch das flackernde Licht zu spähen. Eine Sänfte mit Baldachin wurde von einem Dutzend Athener Gefangenen, die an die Tragestangen gekettet waren, den Hang emporgetragen. Darin saß lässig Shenegar Trott, Graf von Sussex. Graf Shenegar trug im Gegensatz zu fast allen anderen Granbretaniern nicht gerne eine Maske, und wenn es schon sein musste, dann eine aus Silber, kaum größer als sein Kopf, die eine Karikatur seiner eigenen Züge aufwies. Er gehörte keinem Orden an und wurde am Hof des Reichskönigs seines ungeheuren Reichtums wegen, aber auch aufgrund seines fast übermenschlichen Mutes im Kampf gern geduldet. In seiner übertrieben prunkvollen Kleidung und seiner Bequemlichkeitsliebe mochte man ihn leicht für einen aufgeblasenen Narren halten. Er besaß aber, mehr noch als Meliadus, das Vertrauen des Reichskönigs Huon; denn sein Rat war fast immer ausgezeichnet. Offenbar hatte er Meliadus’ letzte Worte gehört.

»Ein gefährlicher Schwur, mein Lord Baron«, sagte er sanft. »Einer, der ohne weiteres Auswirkungen auf den haben könnte, der ihn leistete …«

»Das ist mir durchaus klar«, erwiderte Meliadus. »Ich werde sie finden, Graf Shenegar, das dürft Ihr mir glauben.«

»Ich bin hier, um euch zu erinnern, meine Lords, dass unser Reichskönig voll Ungeduld auf uns wartet, um zu erfahren, dass ganz Europa nun ihm gehört.«

»Ich werde sofort nach Londra abreisen«, erklärte Meliadus. »Denn dort kann ich unsere Magierwissenschaftler aufsuchen, um Mittel und Wege zu finden, meine Feinde aufzuspüren. Lebt wohl, meine Lords.«

Er riss sein Pferd herum und galoppierte den Hügel hinunter. Die anderen sahen ihm nach.

»Seine ungewöhnliche Mentalität könnte zu unser aller Vernichtung führen«, murmelte einer.

»Was macht das schon?« kicherte Shenegar Trott. »Solange alles mit uns untergeht.«

Das Gelächter, das daraufhin aus den Masken drang, verriet den Wahnsinn jener, die es ausstießen, und den Hass, den sie empfanden – Hass auf die Welt und auf sich selbst.

Und das war es, was den Lords des Dunklen Imperiums solche Macht verlieh. Sie schätzten nichts auf dieser Welt, keine menschlichen Wesen, nichts, auch nicht sich selbst. Ihre einzige Unterhaltung war die Verbreitung von Terror und Qualen – eine Beschäftigung, die ihr Leben erfüllte. Für sie war der Krieg das beste Mittel gegen ihre tödliche Langeweile.